Der Irrweg der Generation Merkel

von Grinario

Der Irrweg der Generation Merkel führt zum Ausverkauf nationaler Interessen. Umgesteuert wird erst, wenn die Verantwortlichen nicht mehr aus noch ein wissen.

Im zu Ende gegangenen Jahr 2017 sind zwei Bücher zur Migrationskrise erschienen, die von Autoren geschrieben wurden, über deren Qualifikation und Fähigkeit, ein Problem ohne Rücksicht auf die politische Korrektheit auf den Punkt zu bringen, eigentlich keine Zweifel bestehen dürften. Es handelt sich um die beiden deutschen Historiker Rolf Peter Sieferle, der im September 2016 freiwillig aus dem Leben schied, und Hans-Peter Schwarz, der im Juni 2017 verstarb.

Das Buch des Zeithistorikers und Politologen Hans-Peter Schwarz „Die neue Völkerwanderung nach Europa – Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten“ (München 2017, in der Folge: NV), das im März 2017 veröffentlicht wurde, fand immerhin Eingang in die Seiten des Feuilletons, obwohl es zwei der „schlimmen“ Begriffe im Titel enthält („Völkerwanderung“ und „Verlust der Kontrolle“), die in Teilen der Mainstreammedien des heutigen Deutschland eher als unkorrekt für die Beschreibung des Zeitgeschehens gelten. Das Buch konnte wohl auch aufgrund der großen Reputation des Wissenschaftlers[1] nicht einfach ignoriert werden.

Völkerstrom in die Wohlfahrtsstaaten Europas

Zuerst sollen einige Schwerpunkte seines an Themen reichen und oft sehr ins Detail gehenden Buches angesprochen werden.Wie schon gesagt, in seiner Wortwahl nimmt Hans-Peter Schwarz keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten unserer inoffiziellen Begriffs- und Meinungsüberwacher. Die neue Völkerwanderung, die auf Europa zukommt, ist für ihn Fakt. Europa wird „mit einem Millionenheer von Flüchtlingen konfrontiert“, was „alle Merkmale einer neuen Völkerwanderung aufweist. Noch hält die Politik den Anschein aufrecht, es handle sich bloß um eine gigantische Katastrophe, der mit einer humanitären Rettungsaktion beizukommen sei.“ (NV, S. 12)

Der Unterschied zwischen einer „gigantischen Katastrophe“ und einer „neuen Völkerwanderung“ besteht für ihn in einer existenziellen der Bedrohung Europas „durch das Hereinströmen entwurzelter Menschenmassen aus Asien und Afrika“. Bekanntlich, so Hans-Peter Schwarz, seien historische Analogien meistens windschief, so auch Vergleiche zwischen der Spätzeit des von Barbaren bedrängten Imperium Romanum[2] und der EU in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts (NV, S.30), doch Begriffe wie „Flüchtlingskrise“ oder „Massenzustrom“ seien viel zu schwach, um diesen „vermutlich säkularen Vorgang“ (NV, S. 39) korrekt zu bezeichnen. Andere Begriffe zur Beschreibung der Lage, die durchaus angemessen wären, wie „Massenmigration“, „Elendsmigration“ oder gar „Elendsinvasion“, stoßen im politischen Diskurs auf noch größere Abneigung.

Der Zeithistoriker ist überzeugt, dass die „Metapher Völkerwanderung“ sich aus dem politischen Diskurs nicht mehr verdrängen lässt, denn es stellt sich die berechtigte Frage, ob die Hundertausende von meist jungen Menschen, die nach Europa gekommen sind, vielleicht nur die Vorhut weiterer Millionen perspektivloser junger Leute aus den übervölkerten, von Gewalt deformierten Gesellschaften im muslimischen Krisenbogen und in Afrika sind (NV, S. 40).

Schwarz spricht von einem säkularen Ereignis mit Auswirkungen auf eine ganze Zivilisation. In seiner Einleitung nimmt er Bezug auf Das Buch des Risikoanalytikers Nassim Nicholas Taleb „Der Schwarze Schwan“, das vom Hereinbrechen höchst unerwarteter Ereignisse handelt. Für Hans-Peter Schwarz ist die sich anbahnende neue Völkerwanderung der schwarze Schwan des 21. Jahrhunderts:

„Jetzt, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, ist aber zweifellos ein schwarzer Schwan aufgetaucht: die neue Völkerwanderung nach Europa. Hundertausende, ja Millionen arabischer und afrikanischer Flüchtlinge strömen in die völlig überraschten, widerstandslosen und zum Teil – wie Deutschland und Schweden – sogar willkommensfreudigen Wohlfahrtsstaaten Europas. Aus den Tiefen des kollektiven Unterbewußtseins tauchen nun vage Erinnerungen an Invasionen auf, die vor Jahrhunderten in Europa Ängste und Alpträume ausgelöst hatten: der Hunnensturm und die Völkerwanderung räuberischer Germanenhorden ins Imperium Romanum, der Vorstoß siegesgewisser Araber über Spanien bis zur Loire, der Mongolensturm, das Vordringen der Türken übers Mittelmeer bis vor die Tore Wiens … Die Geschichte Europas ist auch eine Geschichte der Invasionen.“ (NV, S. 11)

Die Prognose des Zeithistorikers ist düster. Er nimmt an anderer Stelle das Bild des damaligen Finanzministers Schäuble von Mitte November 2016 auf und vergleicht die sich anbahnende Entwicklung mit einer Lawine:

„Eine erste Lawine hat sich bereits in Bewegung gesetzt – und die Europäische Union ist in ihren Sog geraten. Weitere werden wahrscheinlich folgen.“ (NV, S. 19)

Neben den noch anzusprechenden Pull-Faktoren der Migration nach Europa gibt es genügend Push-Faktoren, die Schwarz auch anführt: die desolate Staatlichkeit in der muslimischen Krisenzone und in Afrika, die Überbevölkerung, die Unfähigkeit der nahöstlichen und afrikanischen Gesellschaften, der Jugend irgendeine Perspektive zu geben, das Anwachsen der religiösen Intoleranz im Islam, der Terror islamistischer Gruppen.

Auf ein Anwachsen der Lawine muss sich Europa nach seiner Ansicht also einstellen, zumal die europäischen, vor allem auch deutschen Politiker alles daransetzen, den Zuzug aus den Krisengebieten noch zu verstärken. Die Pull-Faktoren für die Massenmigration sind durch die europäische Politik des Zulassens nur noch stärker geworden:

„Flucht übers Mittelmeer, dann von Italien per Zug oder von Griechenland über die Balkanroute – beides zu hohen Kosten, von Schleusern eskortiert und von idealistischen Fluchthelfern begleitet, aber am Ende gut aufgenommen und besser betreut als zuvor -, solche Erfahrungen haften im kollektiven Gedächtnis.“ (NV, S. 163)

Die Generation Merkel

Die Reaktionen auf diese historische Herausforderung seien im EU-Europa bzw. überhaupt in Europa unterschiedlich. Europa sei gespalten zwischen universalistischer Gesinnung und Widerstreben gegen die Masseneinwanderung. An einer Stelle des Buches beschreibt Schwarz erschreckend genau, welcher Riss durch alle europäischen Gesellschaften geht, der sich künftig noch verbreitern könnte:

„Auf der einen Seite stünden diejenigen, die von der Pflicht des Staates überzeugt sind, die eigenen Grenzen zu schützen, selbst um den Preis der Nichtaufnahme von Flüchtlingen, auf der anderen Seite jene Utopisten, die von dem universalistischen Glauben an der Gleichheit aller Menschenbrüder und -schwestern beseelt sind, was auch deren recht beinhalte, sich nach Gutdünken überall niederzulassen und sozialstaatliche Versorgung einzufordern, selbst um den Preis enormer Belastungen für das Gastland.“ (NV, S. 223)

Die einstigen Kolonialmächte, die schon eine jahrzehntelange Erfahrung mit schleichender Immigration aus den ehemaligen Kolonialgebieten hinter sich hätten, seien eher auf Abwehr programmiert, ebenso die Länder Ostmitteleuropas, die wiederum aus anderen Motiven:

Anders „dagegen die Bürokratien der Europäischen Union, die Mehrheit im Europäischen Parlament, die mächtigen Gerichtshöfe Europas, bis vor kurzem auch Länder wie Österreich und Schweden, vor allem aber ein großer Teil der politischen Klasse und viele zivilgesellschaftliche Aktivbürger Deutschlands.“ (NV, S. 164)

Damit ist ein wichtiges Thema angesprochen, das Hans-Peter Schwarz in seinem Buch an verschiedenen Stellen immer wieder behandelt: das Eliteversagen. Die aktuellen europäischen Eliten der Mittelmäßigkeit haben auf die neuen Herausforderungen keine Antwort. Die Kritik des Zeithistorikers an den politisch Verantwortlichen in Europa ist hier eindeutig und illusionslos, er sieht das in Europa, aber vor allen natürlich Deutschland zur Verfügung stehende Personal in Parlamenten und Regierungen gerade im Hinblick auf die neuen Herausforderungen in keinem guten Licht. Mit den Begriffen „Extremistan“ und „Mediokristan“ weiter Bezug nehmend auf Talebs Buch „Der Schwarze Schwan“, stimmt er dem Risikoanalytiker zu in seiner Sicht, „daß wir uns heute in Extremistan befinden, also in einer Epoche, in der die Geschichtsströme durch den Einbruch des Unerwarteten zutiefst verändert und umgeleitet werden.“ (NV, S. 8)

Der neu entstandenen Komplexität in einer globalisierten Weltwirtschaft, die nur den Anschein von Stabilität erwecke, es aber nicht sei, seien die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft unserer Zeit nicht gewachsen:

„In Mediokristan werkeln tüchtige, aber phantasielose Politiker, Manager, Beamte, Wissenschaftler, Theologen, Lobbyisten, auch Journalisten und Professoren innerhalb überkommener Institutionen und im festen Glauben an eine überkommene politische Kultur, an die bewährte Unternehmensstrategie oder an vorherrschende philosophische Wertsysteme routiniert vor sich hin, als könne nie ein schwarzer Schwan auftauchen.“ (NV, S. 9)

Solange keine schwarzen Schwäne heranfliegen würden, mache diese Elite ihre kleinen oder größeren Dummheiten, erspare aber der Gesellschaft wirklich katastrophale Fehler.

„In Wirklichkeit aber sind diese mediokren, gefahrenblinden Eliten unterwegs nach Extremistan. Denn wenn wider alle Erfahrung ein schwarzer Schwan auftaucht, also ein weitreichendes, unvorhergesehenes Ereignis, fällt ihnen nichts ein, als stoisch und zum Schaden aller an den Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Strategien festzuhalten, die sie sich in Mediokristan angeeignet haben. Doch nun drohen sich ihre kleineren und größeren Dummheiten zu Katastrophen für ihre Länder, Unternehmen oder ganze Zivilisationen auszuwachsen.“ (NV, S. 9)

Neben seiner allgemeinen Beschreibung einer gefahrenblinden europäischen Elite kommt Schwarz an anderer Stelle noch auf die besondere Lage in Deutschland zu sprechen, was Qualität und Mentalität der politischen Handlungsträger angeht. Für Schwarz ist klar, dass im Entscheidungszentrum der Flüchtlings- und Europapolitik in Deutschland im fraglichen Zeitraum eine Gruppe von Parlamentariern die Verantwortung getragen habe, die größtenteils in den 1950er Jahren geboren worden und heute zwischen 56 und 66 Jahren alt seien. Schwarz nennt sie „die Generation Merkel“. Diese Politikergeneration weise ungeachtet der parteipolitischen Unterschiede eine bemerkenswerte Homogenität der Mentalität auf. Schwarz sieht hier eine Übereinstimmung mit der „vorherrschenden Einstellung“ in Deutschland:

„Die von Angela Merkel geführten Regierungen befanden sich durchaus im Einklang mit den vorherrschenden Einstellungen in der deutschen Gesellschaft. Wenn die außenpolitische Mentalität großer Teile der Deutschen als Mischung von global orientierter Barmherzigkeit, von Pazifismus, von Europaglaube und vom Glauben an die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft bezeichnet werden kann, so trifft diese Charakterisierung auch auf die außenpolitische Mentalität in den staatstragenden Parteien und beim Spitzenpersonal der Bundesregierung zu. Ganz gleich, ob die von der CDU/CSU geführten Koalitionen von der FDP oder von der SPD mitgetragen wurden, zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte sich eine politische Generation in den höchsten Positionen eingefunden, die seit einem Vierteljahrhundert daran gewöhnt war, den Ausbau, die Ausdehnung und den Zusammenhalt der Europäischen Union als vorrangiges deutsches Interesse zu verstehen. Damit verband sich der Gedanke, Europa als Friedensmacht zu etablieren, aber auch als Projekt universalistischer Humanität.“ (NV, S. 104)

Natürlich könnte man hinterfragen, ob es sich hier wirklich um eine Mentalität handelt, die in der Bevölkerung selbst die Mehrheit hat oder nur im politisch-medialen Komplex. Schwarz spricht allerdings auch nicht von der mehrheitlichen, sondern von der vorherrschenden Einstellung. Aber an der Tatsache besonderer Bedingungen der Sichtweise auf die Flüchtlingskrise unter den deutschen Politikern ist nicht zu rütteln. Anders lässt sich z. B. der skurrile Ablauf des CDU-Parteitags in Karlsruhe im Dezember 2015 nicht erklären, als eine Kanzlerin, die die Grenzen Deutschlands für jeglichen Zuzug geöffnet hatte, minutenlang von ihrem Parteivolk beklatscht wurde, statt dass es auch nur in Ansätzen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung gab.

Die existenzielle Bedrohung Europas durch die neue Völkerwanderung stößt auf eine Politikerschicht, die immer noch davon überzeugt ist, „ein geschichtlich völlig neuartiges Imperium des guten Willens auf der Basis edelster Prinzipien“ (NV, S. 15) errichtet zu haben. In dieser Weltsicht gibt es auch ein Individualrecht auf Ingangsetzung eines Asylverfahrens, doch müsste diese Weltsicht eigentlich aufgegeben werden. Schwarz zitiert den amerikanischen Journalisten Walter Lippmann, der einmal von der Ermordung einer schönen Theorie durch eine Bande brutaler Fakten gesprochen hat:

„Diese brutalen Fakten sind: Europa ist teils dicht bevölkert, überaltert und demographisch geschwächt. Die Attraktivität der europäischen Wohlfahrtsstaaten ist groß, der Zugang dorthin ist leicht, aber ihre Aufnahmebereitschaft und objektive Aufnahmefähigkeit sind natürlich begrenzt. Die EU ist nicht zu vergleichen mit klassischen Einwanderungsländern wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien im 19. Jahrhundert. Doch selbst diese haben bereits im 20. Jahrhundert auf selektive Abschottung umgeschaltet.“ (NV, S. 15)

Der Zeithistoriker weiß, was Menschen mit gesunden Menschenverstand und auch ohne ein absolviertes Hochschulstudium wissen, dass nämlich die vielen Millionen entwurzelter Flüchtlinge, die in die EU bzw. in bestimmte Länder der EU drängen nicht mehr zu verkraften sind, „weder auf den Arbeitsmärkten noch budgetär, noch psychologisch“ (NV, S. 15/16).

Moral und politische Vernunft

Ein weiteres Schlüsselwort des Zeithistorikers ist „Kontrollverlust“. Wie kam es zu dem Kontrollverlust? Es gab institutionelle Pull-Faktoren, die Schwarz als Fehlverhalten der gesamten EU benennt:

Die „offenen Landesgrenzen, die fehlende Sicherung der Außengrenzen und das großzügige Flüchtlingsrecht. Statt den Schutz der Außengrenzen umsichtig zu organisieren, hat die Europäische Union buchstäblich einem jeden der mehr als sechs Milliarden Menschen außerhalb Europas das gerichtlich zu überprüfende Individualrecht zugesichert, ein aufwendiges Asylverfahren zu beantragen. Daß alle Verantwortlichen, die Bescheid wissen, diesen Fehler tief unter der Decke halten, ist verständlich, wenngleich unentschuldbar.“ (NV, S. 17)

Dazu kommt, dass diese Entwicklung speziell in Deutschland lange Zeit gar nicht als Kontrollverlust wahrgenommen wurde, sondern in breiter gesellschaftlicher Akzeptanz als Teil einer „normalen“ Willkommenskultur:

„Der Kulminationspunkt der offiziellen Willkommenspolitik liegt bekanntlich im September 2015. Unterstützt von zahllosen Helfern aus der Zivilgesellschaft, von allen Bundestagsparteien und vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen ließ sich die offizielle Willkommenseuphorie vier, fünf, und sechs Wochen lang halten. Seither dominieren schwere Sorgen.“ (NV, S. 107)

Die Aufnahme der Flüchtlinge sei als moralische Großtat gefeiert worden, alle Zweifel gegen die uferlose Asylpolitik seien in die rechtsradikale Ecke gekehrt worden: „Auf die Wirkung des Sperrfeuers gegen ‚Dunkeldeutschland‘ vertrauend, hielt die Bundesregierung die Wählerbasis für gesichert, die ihre Asylpolitik trug (NV, S. 116)“.

Dann mit der Zeit seien allerdings die Flüchtlingszahlen so ungeheuer geworden und hätten so außerhalb jeder Erfahrung gelegen, dass die Willkommensgesten der Bundesregierung inzwischen ebenso befremdlich gewirkt hätten wie die neue Völkerwanderung selbst:

„Dies gesagt, ist aber nun doch zu fragen, weshalb die Bundesregierung und die maßgeblichen Bundestagsparteien das Gefahrenpotential der neuen Völkerwanderung so lange nicht erkennen konnten oder wollten. Wenn normale Bürger einen derartigen Vorgang allein als Aufgabe der Barmherzigkeit definieren, mag das lobenswert sein, zumindest aber verständlich. Für Regierungen gilt das nicht. Von ihnen muss erwartet werden, daß sie skeptische Vorsicht walten lassen und langfristig drohende Gefahren erkennen.“ (NV, S. 107/108)

Nachdem, was Schwarz selbst über die „Generation Merkel“ schon analysiert hat, muss man nach gesinnungsethischen Gründen suchen, die in der zurzeit die Politik bestimmenden Funktionselite, die globalistisch und übernational orientiert ist, tief verankert sind, allen voran geht hier auch die Kanzlerin:

„Lassen wir dahingestellt, ob sie eine Überzeugungstäterin aus linksprotestantischem Pfarrhaus ist oder nicht. Nach ihren öffentlichen Äußerungen kann sie in der Tat als Verkörperung der Kultur globalisierter Barmherzigkeit begriffen werden, die in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft handlungsleitend ist.“ (NV, S. 119)

Die Bundesregierung hat in diesem ganzen Zusammenhang gegen die vertragswidrige Praxis Italiens und Griechenlands, die die Flüchtlinge ungeprüft weiter nach Norden weitergereicht und damit das Dublin-Abkommen unterlaufen hatten, nicht protestiert. Zu den unappetitlichsten Begleiterscheinungen des Kontrollverlustes gehörte aber die „Zusammenarbeit“ zwischen Schlepperbanden und Rettungskräften im Mittelmeer, an der z. B. auch Fregatten der Bundesmarine beteiligt waren. Schwarz bezeichnet das als Absurdität und bestes Beispiel, wie sich humanitäre Erpressung bezahlt mache. Die Seestreitkräfte Europas seien von sentimentalen Regierungen zu einem unentbehrlichen Zwischenglied in der Schleuserkette umfunktioniert worden:

„Selten in der neuesten Geschichte hat man ein derart offensichtliches, von moralischem Getöse überdecktes Zusammenspiel zwischen kriminellen Organisationen und schwächlichen Regierungen beobachten können. Innerhalb kürzester Zeit wurde so aus einer anfangs noch überschaubaren Fluchtbewegung übers Mittelmeer eine gut funktionierende, von kriminellen Profis perfekt gesteuertes, empörend inhumanes System zur illegalen Masseneinwanderung via Asylrecht.“ (NV, S. 113)

Statt einer gewaltsamen Bekämpfung der organisierten Schlepperkriminalität, was auch die Vernichtung der Schiffe und Schlauchbote schon an der Gegenküste, bevor diese mit Menschen auf See waren, bedeutet hätte, wurde das Schleppersystem aufrechterhalten. Schwarz beschäftigt sich nicht weiter mit der ethischen Frage, aber er stellt sie immerhin, inwieweit nämlich die Regierungen die solchermaßen mit Schlepperbanden kooperierten an den Tausenden Toten im Mittelmeer mitschuldig geworden sind.

Hans-Peter Schwarzens Fazit zur Handlungsweise der Bundesregierung in den Zeiten der neuen Völkerwanderung ist auch ohne die ethische Fragestellung vernichtend:

„Nie zuvor in den 65 Jahren bundesdeutscher Geschichte hat eine Bundesregierung ein derartiges Chaos verschuldet und seine Fortsetzung wie gelähmt toleriert, bis die Sperrung der Balkanroute durch eine Koalition der Willigen unter Führung Österreichs im März 2016 dem Kontrollverlust ein Ende machte.“ (NV, S. 125)

Nachdem die Zustimmungswerte der Bundeskanzlerin bei Umfragen, die anfänglich gut waren, nach den Silvesterübergriffen 2015 in Köln jäh abstürzten, wurde vonseiten der Bundesregierung versucht, Problemlösungen zu erarbeiten. Schwarz nennt die nun einsetzende Phase die Zeit der „hektischen Improvisationen“ oder „improvisierten Strategien“. Es wurde u. a. die Idee der europäischen Umverteilung geboren, die Idee der Hotspots, d. h. der Kontrolle der Flüchtlinge in Sammelstellen an Brennpunkten der illegalen Einwanderung, und schließlich gab es den Plan, die Türkei quasi zum Wächter über die Außengrenzen der EU zu machen.

All das wird vom Zeithistoriker detailreich diskutiert und als relativ untauglich erkannt. Aber auch das bisher in Deutschland und der EU, aber nicht auf dem Balkan verpönte Instrument der Schließung der Landesgrenzen für Flüchtlinge durch Grenzzäune widmet Schwarz ein Kapitel. Denn die Wiederherstellung der Grenzkontrollen durch kleinere EU-Länder habe durchaus eine Berechtigung, da die Gesamt-EU beim Schutz der Außengrenzen nicht vorankomme, EU-Regeln (wie das Dublin-Abkommen) durch die „Frontstaaten“ nicht eingehalten würden und die geographische und wirtschaftliche Zentralmacht Europas Deutschland eine für die europäischen Nachbarn unwillkommene Willkommenspolitik betreibe, die einen riesigen Flüchtlingssog erzeuge:

„Widerwillig wird dann das im Zeitalter postnationaler Europäisierung fast vergessene Kernelement jeder souveränen Staatlichkeit wiederentdeckt, nämlich daß die Staaten ihre eigenen Landesgrenzen mit eigenen Kräften zu schützen haben. Erstaunlicherweise funktioniert das sogar.“ (NV, S. 154)

„Die Titanic rast mit voller Kraft auf den Eisberg“

Wie kann in dieser schon sehr verfahrenen Situation umgesteuert werden? Für Schwarz kann das nur über eine tiefgreifende Reform der EU-Institutionen durchgeführt werden. Schwarz ist angesichts der geschilderten Probleme der Personalausstattung in der EU bzw. in Deutschland überzeugt, dass es wohl noch schlimmer werden muss, bis über einen Umbau der Institutionen eine politisch heikle und moralisch unerfreuliche Operation durchgeführt würde:

„Auf Reformen wird sich die EU wohl erst einlassen, wenn ihr das Wasser bis zum Hals steht. Wahrscheinlich ist es bis auf weiteres ein Kurs unentschiedenen Durchwurstelns. Sicher ist nur eines: In ihrer derzeitigen institutionellen Verfassung wird die Europäische Union auf lange Sicht mit der neuen Völkerwanderung nicht fertig werden.“ (NV, S. 19)

Hans-Peter Schwarz sieht nur die Möglichkeit einer grundlegenden Neuordnung „des ins Rutschen geratenen Schengen-Systems mitsamt dem Flüchtlingsrechts“ (NV, S. 215):

„Skepsis ist jedoch geboten. Bekanntlich verlassen sich Regierungen am liebsten aufs Durchwursteln. Kritische Empfehlungen zur Kurskorrektur aus dem Fahrgastraum heraus waren bei den Kapitänen der Staatsschiffe noch nie sehr gefragt. Besser die Titanic rast mit voller Kraft auf den Eisberg. Es ist schon so: Die meisten Menschen sind Traditionalisten, hohe Staatsmänner und Staatfrauen nicht ausgenommen. Umgesteuert wird erst, wenn die Verantwortlichen nicht mehr aus noch ein wissen.“ (NV, S. 216)

Dringend nötig wäre die Reform des fehlkonzipierten, hypertrophen Flüchtlingsrechts. Es darf in allen EU-Staaten keinen einklagbaren Rechtsanspruch auf Prüfung des Asylrechts eines Migranten mehr geben, auch das subsidiäre Aufenthaltsrecht kann in der bisherigen Form nicht aufrechterhalten werden. Das alles wird aber derart schwierig und langwierig, dass sich Schwarz fragt, ob man nicht sogar im Kontext von Notstandsvereinbarungen handeln müsste:

„Wer zynisch ist, könnte auch argumentieren, daß wir den Rechtsbedenken vielleicht zuviel Gewicht beimessen. Schließlich hat die Europäische Union in vergleichbar kritischer Lage bei der Eurokrise ein gewisses Talent entwickelt, Rechtsvorschriften zu vergessen, zu biegen oder kreativ neu zu interpretieren.“ (NV, S. 222)

Als Kompensation eines reformierten, im Grunde also zurückgebauten Flüchtlingsrechts sieht Schwarz eine verstärkte Ursachenbekämpfung vor Ort, aber auch die Aufstockung der Flüchtlingskontingente, die in Extremsituationen aufzunehmen seien. Die Spielregeln, die für diese Aufnahme gelten, würden von den jeweiligen Staaten festgelegt werden. Schwarz spricht von freiwilligen Kontingenten, erklärt aber nicht, wie die „Freiwilligkeit“ im Ernstfall dann umgesetzt werden soll, wenn die Staaten der EU wieder selbst entscheiden sollen.

Als wichtige Leitlinie für die Zukunft sieht Schwarz nämlich die Rückgabe des Ausländer- und Asylrechts an die Mitgliedstaaten der EU, d. h. „elementare Hoheitsrechte, die bei der EU schlecht aufgehoben sind, wieder ganz oder zumindest teilweise in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten zurückzuführen“ (NV, S. 231). Die EU-Staaten würden somit selbst entscheiden, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen möchten und unter welchen Bedingungen. Aus Sicht von Schwarz wird das Schengen-Abkommen der unbehinderten Reisefreiheit für EU-Bürger in der bisherigen Form nicht weiterbestehen können (NV, S. 241 ff.).

Eine weitere Herausforderung, die sich für EU-Europa stellt, ist der Schutz der Außengrenzen. Staatsrechtlich ist der Grenzschutz immer noch Sache der Einzelstaaten. Hier sieht Schwarz deutlich die Überforderung von Frontstaaten wie Griechenland oder Italien, so dass ein wirkungsvoller Grenzschutz für die Außengrenzen der Union nur über zusätzliche Mittel und eventuell auch eine wesentliche Verstärkung der Grenzschutztruppe Frontex zu erreichen wäre. Schwarz ist aber auch klar:

„Die maritimen Außengrenzen mit konkreten Maßnahmen zu sichern, wird für die EU zu den schwierigsten Aufgaben des 21 Jahrhunderts gehören – praktisch schwierig, juristisch schwierig, moralisch schwierig“. (NV. S 239)

Die komprimierte Darstellung des Buchinhalts von „Die neue Völkerwanderung nach Europa“ ist mit diesem skeptischen Zitat aus dem Werk abgeschlossen. Es muss aber noch einmal hervorgehoben werden, dass es sich nur um einen Auszug aus einem sehr umfassenden detail- und gedankenreichen Buch eines nüchternen Denkers handelt, der keine Angst davor hat, fundiert und engagiert Meinungen zu äußern, die dem herrschenden Zeitgeist widersprechen.

Wahrnehmung des Buches im Mainstream

Das Buch wurde im Mainstream nicht immer zustimmend besprochen, aber immerhin wurde es besprochen und nicht einfach ignoriert. Zwei Beispiele seien aufgeführt.

In einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung wird mit der bezeichnenden Überschrift „Alle Schotten dicht“[3] vom 20.03.2017 beklagt, der sonst „scharf denkende“ Zeithistoriker Schwarz habe ein „erstaunlich einseitiges Buch über Flüchtlinge verfasst“. Die SZ kann durchaus Zentralorgan zur Durchsetzung einer globalen Welt ohne jegliche Grenzen bezeichnet werden, so ist es nicht verwunderlich, dass Schwarz als Autor eines Buches, das schon böse Wörter im Titel hat, hier nicht gut gelitten ist. Zwar sieht der Verfasser des Artikels durchaus die Verdienste des Zeithistorikers, doch sein neues Buch über die Ursachen und Folgen der „Flüchtlingskrise“ dürfte weniger als nachdenklicher Beitrag zur bundesrepublikanischen Gegenwart in Erinnerung bleiben denn als zeithistorische Quelle für einen erschreckend verunsicherten, hart gewordenen Konservativismus, der keine Hemmungen vor polemischer Vereinfachung hat“.

Schon das Wort „Völkerwanderung“ im Buchtitel sowie dessen weitere häufige Verwendung im ganzen Text, ist den Rezensenten verdächtig. Hier werde mit Stereotypen gearbeitet („Hunnen und Barbaren – wohin das Auge reicht“), auch die Wortwahl in anderen Fällen ist einfach nicht korrekt genug. Die Flüchtlinge als „Elendsmigranten“, „Vorhut“ oder als weitere „Millionen perspektivloser junger Leute“ zu bezeichnen, sieht der politisch korrekte Rezensent als problematisch an: Die Betroffenen erscheinen in Schwarz‘ angstgepeinigtem Traktat nur als abstrakte „Masse“ und als „Flüchtlingsströme“, als großes kollektives Problem, nie aber als Individuen mit unterschiedlichen Biografien.“

In der Sicht des Rezensenten gibt es keine Unterschiede, ob jemand als Flüchtling nach Europa kommt oder einwandern und bleiben will; es sind eben alle willkommen. Um so seltsamer erscheint es, wenn dem Zeithistoriker die Verwendung bestimmter Begriffe vorgeworfen wird, während man selbst mit einer diffusen Begrifflichkeit arbeitet, die die Realität verschleiert und nicht erhellt. Grundsätzliche Bedenken über eine Grenze der Aufnahmefähigkeit bei einem weiteren Millionenzuzug aus Nordafrika oder Nahost werden als „angstgepeinigt“ abgewertet und quasi mit einer krankhaften Psyche in Verbindung gebracht. Das ist eine eher unfeine Art der politischen Diskussion.

Die Darstellung der aktuell in Berlin an den Schalthebeln der Macht sich befindenden Politikergeneration, getragen von postnationalen und universalistischen Ideen, im Buch des Zeithistorikers ist für den Rezensenten zutreffend, nur dass er diese Zustandsbeschreibung im Gegensatz zu Schwarz nicht als Problem ansieht, sondern als unproblematische Normalität. Verstört merkt er an, dass diese Mentalitätsbeschreibung der „Generation Merkel“ bei Schwarz eher wie ein Irrweg klinge, der letztlich zum Ausverkauf nationaler Interessen führe.

Nur an einer Stelle dieser Rezension wird wirklich auf das Kernproblem der aktuellen Krise eingegangen, die anhaltende Massenmigration nach Europa, und wie die europäischen Regierungen auch in Zukunft ihren Bürgern, von denen sie gewählt wurden und in deren Interesse sie schließlich zu handeln haben, ein stabiles Gemeinwesen sichern können, in denen alle gut und gerne leben wollen.

Schwarz sieht als wichtige realistischen Möglichkeit der Problemlösung eine Rückgabe der Verantwortung über die Gewährung von Asyl an die Nationalstaaten, wobei er – hier hat der Rezensent recht – sich davor drückt, die tatsächliche Konsequenz einer solchen Rückverlagerung klar zu benennen: „Schwarz macht konkrete Vorschläge, wie die Probleme gelöst werden könnten: Im Zentrum steht die Rückkehr zu einem starken, restriktiven nationalen Asylrecht; also weniger EU, mehr Nation. Er spricht das nicht unmittelbar aus, aber ohne eine umfassende Militarisierung der deutschen Grenzen ist das alles nicht denkbar.“

Wenn in den eigenen Überlegungen die Einschränkung der Zuwanderung und die Bewachung der Grenzen eine legitime verantwortungsethische Position ist, muss man sich im Klaren darüber sein, dass dies zu harten Entscheidungen führen wird. Es ist genau der Punkt, an dem Merkel 2015 lieber die Grenzen öffnen ließ, um keine unschönen Szenen aufkommen zu lassen. Auch Schwarz hält sich diesbezüglich mit genaueren Äußerungen zurück.

In der SZ-Rezension wird nun im Weiteren gesinnungsethisch viel über Barmherzigkeit geredet. Schwarz spricht nämlich im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise von einer Form der Barmherzigkeit, die sich Deutschland (bzw. Europa) nicht mehr leisten könne.

Der SZ-Rezensent kritisiert diese Abkehr eines konservativen Wissenschaftlers von den christlichen Werten „Barmherzigkeit“ und „Solidarität“, wie sie doch auch im zivilen Ungehorsam des sogenannten Kirchenasyls für abgewiesene Asylsuchende praktiziert würden: Man staunt jedenfalls nicht schlecht, wie vehement diese konfessionellen Verbindungslinien als wichtige Inspirationsquelle des deutschen Konservativismus gekappt worden sind. Was nur, mag sich mancher deshalb leicht irritiert fragen, ist aus den deutschen Konservativen geworden?“

Eine interessante Rezension hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung ebenfalls am 20.03.2017 unter der etwas unhandlichen Überschrift „Die Flüchtlinge und die EU: Ja, das Studium des Asylrechts ist schwer“ geboten.[4] Hier wird von einem „anregenden“ Buch gesprochen, allerdings kritisiert der FAZ-Rezensent, dass Schwarz das EU-Flüchtlingsrecht als Hauptfehler in der verfahrenen Situation sehe und stellt dann eine kühne, aber lesenswerte kontrafaktische Geschichtsbetrachtung (ein „Gedankenspiel“) in den Raum, um das zu widerlegen:

„Diese Erklärung [des EU-Flüchtlingsrechts als Hauptfehler] darf bezweifelt werden. Stellen wir uns nur das bisher nirgends Vorgestellte vor: Im August/September 2015 wäre nicht Angela Merkel Bundeskanzlerin gewesen, sondern Horst Seehofer hätte in Berlin die Richtlinien der Politik bestimmt. Die folgenden zwölf Monate wären anders verlaufen – wie, das weiß niemand, aber dass sie einen anderen Verlauf genommen hätten, dies würde niemand bezweifeln. Dabei spielt dieser Gedanke nicht einmal mit der Möglichkeit, dass die Regierungsführung bei der heutigen Opposition gelegen hätte, sondern lediglich beim Vorsitzenden der CDU-Schwesterpartei CSU, die bisher schon zweimal den Kanzlerkandidaten (Franz Josef Strauß 1980 und Edmund Stoiber 2002) auch der CDU gestellt hat.

Es dürfte unstrittig sein, dass Seehofer rigoroser entschieden, zur Eigensicherung jedoch sowohl innenpolitisch als auch europapolitisch abgestimmter vorgegangen wäre. Es hätte einen ungeheuren Wirbel im Inland gegeben, etwa so wie in Zeiten des Nato-Nachrüstungsbeschlusses und des Machtkampfes zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und der von Kommunisten unterwanderten Friedensbewegung im Bonner Hofgarten. Außenpolitisch jedoch hätte Deutschland – wie unter Kohl – seine Stellung in Europa gestärkt, weil es die Zahl der Zuwanderer beschränkt und den Streit über nachträgliche Lastenteilung erübrigt hätte.“

Der Rezensent stellt mit dieser alternativen Sicht der damaligen Situation eindeutig klar, wo bzw. von wem seines Erachtens die Fehler gemacht wurden: in Berlin von der amtierenden Kanzlerin und ihrer dortigen Gefolgschaft.

Für den FAZ-Rezensenten ist Hans-Peter Schwarz deshalb viel zu milde, ihm wird zwar zugestanden, eine detailreiche Beschreibung „eines zweifellos weltpolitischen Geschehens“ geschrieben zu haben, es reiche aber der Mut nur zu Kapitelüberschriften wie „Überfällig, aber immer noch tabuisiert – eine Reform des europäischen Asylrechts“. Bei der Aufstellung klarer Handlungsempfehlungen an die Politik hielte der Zeithistoriker sich dann zurück.

Diese Kritik ist nicht ganz nachzuvollziehen, da Schwarz neben seiner Kritik an den politischen Handlungsträgern die geltenden rechtlichen Regelungen in der EU als Krisenverschärfer sieht und Vorschläge für eine Reform macht. Überhaupt muss man im Deutschland dieser Jahre schon froh sein, wenn ein Wissenschaftler vom Format eines Hans-Peter Schwarz eine derart schonungslose Analyse liefert, die Konsequenzen aus der verfahrenen Situation müsste die Politik ziehen.

Insgesamt bezweifelt der FAZ-Rezensent, ob die von Schwarz bevorzugte Lösung einer Rückkehr zur nationalstaatlicher Verantwortung über die Zuwanderung wirklich in die richtige Richtung gehen würde, vor allem wenn man den Begriff „Völkerwanderung“ in seiner ganzen Tragweite betrachtet:

„Ist es tatsächlich eine Völkerwanderung im historischen Sinne, also nicht auf Zuflucht, sondern auf Eroberung und Landnahme ausgelegt, dann ist es letztlich nicht ausschlaggebend, ob das Asylrecht liberal oder streng, die Integration über Kurse oder Nachbarschaftshilfe, die Facharbeiterausbildung dual oder gewerblich gestaltet werden und ob Angela Merkel, Martin Schulz, Katja Kipping oder Frauke Petry samt ihren Partei-Erben die absehbaren Wahlen gewinnen. Schon ein Begriff wie Willkommenskultur hat sich als zu groß erwiesen, um politisch durchgehalten zu werden. Wie wollte man dann eine „Völkerwanderung“ mit den Mitteln der nationalstaatlichen Demokratie politisch einhegen? Nur eine den Kontinent umfassende Macht hätte Aussicht auf Erfolg.“

Es ist in der Tat wohl richtig, dass man die auf Europa zukommenden Ereignisse, ob man sie nun Flüchtlingsbewegung, Massenzuwanderung, Elendsmigration oder Völkerwanderung nennt, mit nationalstaatlichen Mitteln allein kaum Herr werden wird, allerdings hat Schwarz in seinem Buch den konsequenten Schutz der Außengrenzen klar als gemeinsame gesamteuropäische Sache und sie eben nicht als nur mit den Mitteln nationalstaatlichen Demokratie bewältigbar angesehen. Letztendlich erscheint Schwarzens Buch eher als eine wissenschaftliche Fleißarbeit zum Migrationsthema (schon die Teilüberschrift „Ja, das Studium des Asylrechts ist schwer“ lässt dies mitschwingen), das aber eher nörgelig, unkonkret und insgesamt eben wenig hilfreich ist. Wenn man sich ansieht, welche Aussagen in diesem letzten Buch des Zeithistorikers zum Problem der neuen Völkerwanderung enthalten sind, kann man dieser Rezension den Vorwurf einer gewissen Oberflächlichkeit nicht ersparen.

Mehr schlecht als recht besprochen

In den beiden hier aufgeführten Rezensionen wurde das Buch von Hans-Peter Schwarz aus verschiedenen politischen Blickwinkeln beurteilt, einmal aus einer linksmoralischen im anderen Falle aus eher konservativer Sicht besprochen. Auffallend ist aber doch, dass eines der Kernthemen des Buches nur ungenügend behandelt wird, nämlich die vernichtende Kritik an einer „mediokren, gefahrenblinden“ Elite, die in EU-Europa die politischen Richtlinien bestimmt und die bisher versäumt hat, den Schutz der Außengrenzen Europas umsichtig zu organisieren. Eine politische Funktionselite, die offenbar immer noch nicht begriffen hat, dass mit den sozialmoralischen Überzeugungen einer „global orientierten Barmherzigkeit“ und einer „universalistischen Humanität“ den neuen Herausforderungen eines säkularen Ereignisses in der Geschichte – so sieht Schwarz die Ereignisse ab 2015 –  nicht adäquat begegnet werden kann.

Beide Rezensenten umschiffen dieses Thema auf ihre Weise, ganz offensichtlich ist es ihnen nicht geheuer. Der SZ-Rezensent fragt verwundert und doch etwas genervt zurück, ob Schwarz tatsächlich die politische Haltung der deutschen Eliten, die in postnationalen Kategorien dächten, als eine Art Irrweg ansehen wolle: „Für einen so stark durch die Westbindung geprägten Intellektuellen wie Schwarz ist das doch mehr als erstaunlich.“

Die vernichtende Kritik von Hans-Peter Schwarz vor allem an der deutschen Elite, der durchaus auch durchblicken lässt, dass die deutschen Interessen von ihr nicht mehr adäquat vertreten werden, ist für den Rezensenten nicht diskutabel. Es wird nicht weiter darauf eingegangen. Die an vielen Stellen des Buches geäußerte Ansicht von Hans-Peter Schwarz, dass die Haltung und die Weltsicht der Politiker in Europa und Deutschland eines der großen Hindernisse für eine realistische Politik gegenüber dem säkularen Ereignis der neuen Völkerwanderung ist, wird vom SZ-Rezensenten als eher rechtspopulistisch etikettiert – auch wenn der Begriff nicht konkret benutzt wird – und kann somit in den Bereich der zu ignorierenden Themen abgeschoben werden.

Der FAZ-Rezensent geht bezüglich des Themas Elitenversagen etwas anders vor, aber auch er setzt sich mit der harten Einschätzung des Zeithistorikers zu Mentalität und Politikhandeln der deutschen und europäischen Eliten nicht wirklich auseinander. Das Versagen in der deutschen Migrationspolitik wird auf Merkel und ihre Mannen reduziert. Das „Gedankenspiel Merkel/Seehofer“ des Rezensenten, nämlich dass durch Austausch der Regierungsmannschaft in Berlin – und dann noch ausgerechnet Horst Seehofer in der Kanzlerrolle, der dann „rigoroser entschieden“ hätte – eine grundsätzlich andere Politik in der Flüchtlingskrise betrieben worden wäre, ist nicht sehr wahrscheinlich. Das Versagen wird auf den kleinen Kreis der zur damaligen Zeit in der Berliner Machtzentrale politisch Tätigen reduziert, während Seehofer als Lichtgestalt einer realistischen Migrationspolitik erscheint, zu der die Bundeskanzlerin und ihre Adlaten in Berlin eben nicht fähig gewesen seien.

Das Bequeme an einer solchermaßen auf einzelne Handlungsträger fokussierten Sichtweise ist, dass auch sie die grundlegende und ungewöhnlich kritische Einschätzung der in Europa und Deutschland aktuell in den führenden Positionen agierenden Politikergeneration durch den Politologen und Zeithistorikers unter den Tisch kehren kann. Hiervon hört man nämlich auch vom FAZ-Rezensenten nichts.

Als Fazit kann nur gezogen werden, dass man das Buch von Hans-Peter Schwarz in den Mainstreammedien des Internets zur Kenntnis genommen und mehr schlecht als recht besprochen hat. Das ist zwar nicht befriedigend, aber es geht tatsächlich noch schlimmer.

Demnächst thematisieren wir den Umgang mit Kritikern der Migrationspolitik am Beispiel des Historikers Rolf Peter Sieferle und seines posthum veröffentlichten Buches „Das Migrationsproblem“, das die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung zum Thema hat.

Anmerkungen

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Peter_Schwarz_(Historiker)

[2] Vergl. GEOLITICO, Grinario „Europas römische Bestimmung“

[3] http://www.sueddeutsche.de/kultur/migration-alle-schotten-dicht-1.3419507

[4] http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/die-fluechtlinge-und-die-eu-ja-das-studium-des-asylrechts-ist-schwer-14925979.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0


Quelle und Kommentare hier:
http://www.geolitico.de/2018/04/03/der-irrweg-der-generation-merkel/