Süddeutsche Zeitung: Deutsche sind schlecht erzogen und unsicher

Von Max Erdinger

In der Süddeutschen Zeitung setzt sich Frau Ulrike Heidenreich mit dem Wandel des propagierten Erziehungsstils seit den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts auseinander. Kurios ist die Prämisse, unter der sie das tut. Damals war alles furchtbar – und die Probleme, die wir heute haben, sind das Resultat der Tatsache, daß alles viel besser geworden ist. Die Medienkritik.

Das Große beginnt im Kleinen, und umgekehrt. Wie demokratisch eine Gesellschaft ist, entwickelt sich aus dem innersten Kern, der Familie.“

…schreibt Frau Heidenreich. Und das sind schon die ersten beiden Denkfehler.

  1. Es gibt keine abgestufte Demokratie, die tatsächlich eine wäre. Der Iran ist nicht „weniger demokratisch“ als die Schweiz, sondern er ist undemokratisch und die Schweiz ist demokratisch.
  2. Idealerweise wäre die Familie als Ort einer je individuellen Sozialisation die „Keimzelle der demokratischen Gesellschaft“. Bei einer Scheidungsrate von ca. 50 Prozent und der damit einhergehenden Familienzerstörung scheidet das allerdings aus. In den meisten anderen Familien herrscht der Zwang zur Doppelverdienerschaft – und damit geht ein bedauerlicher Zeitverlust für „Familie“ einher.

Dieser Kern jedoch hat sich im Laufe der Zeit gewaltig entwickelt und verändert – vor allem, was die Struktur und die Erziehungsweise der Kinder betrifft.

Das ist richtig, auch wenn es ärgerlich ist, in der Süddeutschen Zeitung von „die Struktur und die Erziehungsweise der Kinder “ zu lesen. Frau Heidenreich befand sich an dieser Stelle des Textes noch in dem Stadium, in dem sie den Rahmen ihrer Überlegungen absteckte. Die Struktur der Kinder hat sich nie geändert. Der Kern (die Familie) hat sich geändert. Folglich hätte es heißen müssen „seine Struktur (die des Kerns) und die Erziehungsweise der Kinder.“ Das ist keine Erbsenzählerei meinerseits, sondern ein Indiz für Schludrigkeit im Denken der Frau Heidenreich.

„Wie stark, hat die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) untersuchen lassen. Das positive Ergebnis der Analyse: Der „Befehlshaushalt“ als Familienmodell hat endgültig zugunsten des „Verhandlungshaushaltes“ abgedankt.“

Was das Positive an einem Verhandlungshaushalt sein soll, ist mir schleierhaft. Um mit Frau Heidenreich zu „denken“: Wenn gelingende  Sozialisation in der Familie darin besteht, den mündigen und sozialverträglichen Bürger hervorzubringen, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen steht, dann ist „Verhandlungshaushalt“ eine Katastrophe.

Das Wenigste im öffentlichen Raum ist Verhandlungssache, sondern funktioniert nach Regeln, die mitnichten zwischen dem Staat und dem Einzelnen ausgehandelt worden sind. Nach wie vor haben wir einen „Befehlsstaat“, keinen „Verhandlungsstaat“. Von einem „positiven Ergebnis“ der Studie kann also nicht ohne weiteres gesprochen werden.

Die neue Lässigkeit berge jedoch auch Gefahren, warnen die Forscher: Die große Kluft zwischen neuen Leitbildern der Ratgeberliteratur und dem realen Leben bringt das Familiensystem in Schieflage.

Was, bitteschön, wäre denn ein Familiensystem? Aber einerlei: unterstellt, daß nicht das „Familiensystem“ Gegenstand der Betrachtung sein soll, sondern die Schieflage, dann wäre zu fragen, welche, durch die neue Lässigkeit hevorgebrachte Schieflage im tatsächlichen Problem sichtbar wird: Die des Familiensystems oder die gesellschaftliche?

Es ist so: Die große Kluft zwischen neuen Leitbildern der Ratgeberliteratur und dem realen Leben bringt die Gesellschaft in Schieflage, nicht das Familiensystem. Wäre das nämlich nicht vorher schon in Schieflage gewesen, hätte sich die ganze Ratgeberliteratur niemals so gut verkaufen lassen. Die lebt nämlich von den Verunsicherungen und den Zweifeln innerhalb des „Familiensystems“, was auf eine bereits bestehende Schieflage vor dem Gang zum Buchhändler hinweist.

Und soviel ist klar: In einem „Befehlshaushalt“ herrscht weniger Schieflage als in einem „Verhandlungshaushalt“. Mir hat noch keiner erklären können, was das Gute an Verhandlungen zwischen Ungleichen sein soll. Meinereiner verhandelt nicht mit fünfjährigen Kindern, sondern er sagt ihnen, wo es lang geht. Der Patriarch ist die Versicherung gegen Schieflagen der familiensystemischen Art. Ja, Frau Heidenreich, ich weiß, daß Ihnen das überhaupt nicht gefällt. Aber ich kann Ihnen versichern, daß es für die Realität keinerlei Relevanz hat, was Ihnen gefällt oder nicht.

Vor allem bei engagierten Eltern der Mittelschicht, die beide berufstätig sind, mit ihren Kindern alles richtig machen wollen und sich Rat in Vorträgen, Elternkursen oder psychologischen Praxen suchen, beobachtet Familientherapeutin Carmen Eschner heftige Verunsicherung: „Wer im Arbeitsprozess steht und gewohnt ist, auf Effizienz, Transparenz und termingerechte Prozessabwicklung zu achten, der betrachtet angespannt die eher individuelle, langsam fortschreitende Entwicklung seines Kindes“.

Mit anderen Worten: Moderne Eltern haben oft keinen kreatürlichen Bezug mehr zu sich selbst und ihren Kindern. Kaum noch jemand getraut sich, einfach er selbst zu sein und das zu tun, was er für richtig hält, so sehr hat er bereits verinnerlicht, daß es alleine ein von außen an ihn herangetragenes Ideal sei, welchem er zu genügen hat. Kinder brauchen vor allem die Liebe ihrer Eltern und das Gefühl, vorbehaltlos angenommen zu sein. Die Verunsicherung ihrer Eltern verunsichert sie selbst.

Da es Liebe aber nur zwischen solchen Personen gibt, die, wie man heutzutage sagen würde, „authentisch“ sind, wäre es hinsichtlich sämtlicher Schieflagen im „Familiensystem“ segensreich, auf verallgemeinernde Erziehungstipps einfach zu verzichten. Es wird einem Kind kaum schaden, wenn es merkt, welche seiner Verhaltensweisen die Personen auf die Palme bringen, von denen es abhängig ist. Und es wird ihm ebenso wenig schaden, zu registrieren, welche Folgen das zeitigen kann.

Eltern, die stinksauer sind und auch völlig unverstellt so reagieren wie stinksaure Eltern, sind „authentisch“. Gute Eltern hören sich vielleicht die Wünsche ihrer Kinder an, weil sie natürlich wissen wollen, was ihr Kind als einen Mangel empfindet. Verhandeln sollten sie darüber nicht, sondern alleine entscheiden,wie sie damit in der je individuellen Situation umgehen wollen und können.

Dazu müssten sie, anstatt zu Konsumenten von Erziehungsratgebern zu werden, ganz einfach wissen, wer sie selbst sind und „mit aller Lässigkeit“ auch bleiben dürfen. Ein gelegentlicher Klaps dürfte für ein Kind, das sich ansonsten vorbehaltlos geliebt fühlt, weit weniger „traumatisierend“ sein, als zwei Eltern, welche die ganze Zeit signalisieren, daß sie kein Vertrauen in ihre eigene „Authentizität“ haben.  Kinder brauchen, daß man ihnen völlig verhandlungsfrei Grenzen steckt.

Die Demokratisierung der Gesellschaft und die Demokratisierung der Erziehungsstile bedingen sich wechselseitig.

Ja, aber genau andersherum, als Frau Heidenreich insinuiert. Die Demokratisierung der Erziehungsstile führt nicht zur Demokratisierung der Gesellschaft, sondern zu ihrer Tyrannisierung. Das ist es nämlich, was der „Verhandlungshaushalt“ hervorbringt: Kleine Tyrannen, die später große Tyrannen geworden sein werden. Das sind Menschen, die gar nicht mehr daran denken, ihr Agieren für das Ganze – sozusagen für die „erweiterte Familie“ – im Blick zu haben, sondern nur noch an das, was sie für sich selbst heraushandeln können.

Demokratie ist aber nicht dasselbe wie ein Basar. Ein Familienleben ist eines, bei dem es in erster Linie um die Familie als Ganzes geht – und danach erst um das einzelne Familienmitglied. Wo das begriffen worden ist, da kommen auch die Demokraten her. Demokratie ist im Idealfall eine Veranstaltung, bei der man sich über verschiedene Wege zu einem gemeinsamen Ziel streitet, nicht, wie sich die Durchsetzung von Partikularinteressen gegen diejenigen der anderen herausverhandeln läßt.

Abgesehen davon ist die „Demokratisierung“ ein Hirngespinst. Es gibt Demokratie oder es gibt keine. Die moderne Medien- und Massendemokratie ist keine, weil es nicht demokratisch ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf gleichberechtigt darüber abstimmen, was es zum Mittagessen geben soll. Auch dann nicht, wenn es recht demokratisch aussieht. Demokratie ist ein theoretisches Konstrukt, schön ausgedacht, aber realiter inexistent. Sie bräuchte Gleichheit der Demokraten in fast jeder Hinsicht – und „lebt“ (sie lebt aber nicht!) von der Illusion, daß man bspw. bei Bildung, Intellekt, Vermögen und den damit einhergehenden Einflußmöglichkeiten, Gleichheit schaffen könne. Das ist utopisch.

Weil das so ist, hat auch der Schnack von der wechselseitigen Bedingtheit von „Demokratisierung der Erziehungsstile“ und „Demokratisierung der Gesellschaft“ keinerlei Substanz. Das ist, wie so vieles andere, Theoretisieren im luftleeren Raum. Kinder per Erziehung auf ein selbständiges Leben vorzubereiten, hätte die Realität zu berücksichtigen, nicht ein herbeiphantasiertes Ideal.

Der „Befehlshaushalt“ war deutlich näher an der Realität angesiedelt – und damit unter Erziehungsgesichtspunkten sehr viel hilfreicher als der „Verhandlungshaushalt“, welcher die Realität der Ungleichheit (hier: zwischen Eltern und ihren Kindern) glatt für obsolet erklärt – und die Relevanz von Lebenserfahrung und Weisheit samt aller resultierenden Konsequenzen gleich mit.

Typisch linker Quatsch eben.


Quelle und Kommentare hier:
https://www.journalistenwatch.com/2018/07/26/sueddeutsche-zeitung-deutsche/