Dieses Land hat keine Identität

von spreelichter

Weil die Erinnerungen an den Fall der Mauer am 9. November 1989 die Ereignisse vom 9. November 1938 in den Hintergrund drängen würden, warnte der jüdische Historiker Julius H. Schoeps unlängst davor, die unangenehmen Seiten der deutschen Geschichte auszublenden. Schoeps, der gerne als „wichtigster Experte für preußische und deutsch-jüdische Geschichte“ dargestellt wird, ist seit Jahren darum besorgt, dass die eingeredete Kollektivschuld irgendwann nicht mehr im Mittelpunkt des Bewusstseins der Deutschen stehen könnte.

In seinem Buch „Mein Weg als deutscher Jude“, das im „Philo-Verlag“ (gemeint ist philosemitisch) erschienen ist, stellt er die jüdische Sicht der deutschen Dinge dar und behauptet, dass in Deutschland während der Wiederaufbauzeit nach dem Kriege alles verdrängt worden sei, was mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 zusammengehangen habe.

„Die Betroffenen waren noch zu nah am Geschehen, als dass sie die NS-Vergangenheit hätten reflektieren können. Der Wiederaufbau war in gewisser Weise eine Flucht und auch eine Ausrede. Wirklich angefangen hat die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erst in den späten sechziger Jahren zunächst unbewusst und dann unter Schwierigkeiten.“

Aber das ist nicht die Wahrheit! Egal, welche Zeitung mit der Besatzer-Lizenz erschien, egal, welche Zeitung aus der Nachkriegszeit aufgeschlagen wird – es verging kein einziger Tag, an dem nicht von neuen „Verbrechen“ berichtet wurde, die sich oft erst viel später als reine Propagandalügen entpuppten. Und auch die Tonart war in Wirklichkeit wesentlich radikaler, wie wir z. B. aus der „Deutsche Volkszeitung“ vom 13. Juni 1945 erfahren, in der es hieß:

„Ausrottung des Faschismus – Jeder anständige Deutsche ist sich heute darüber klar, dass es darauf zuerst und vor allem ankommt. Ohne restlose Ausrottung des deutschen Faschismus, des Hitlerismus, gibt es keinen Aufbau unseres Vaterlandes, keine moralische Wiedergesundung unseres Volks, keine Möglichkeit, die Achtung der anderen Völker wiederzugewinnen. Der Faschismus ist also auszurotten bis in seine letzten Wurzelfasern hinein. Es ist erfreulich, dass es in den breiten Massen unseres Volks keinen Zweifel über die Notwendigkeit gibt, die Naziverbrecher schonungslos ihrem tausendmal verdienten Schicksal zuzuführen: All die SS-Banditen und korrupten Goldfasane und mit ihnen die Kriegsschieber, Rüstungsgewaltigen und junkerlichen Landräuber. Doch der Faschismus hat tiefe Wurzeln auch in unserem Volk geschlagen. Er hat ausnahmslos alle Schichten angefressen, alle Altersklassen. Er hat das Handeln nicht weniger vergiftet als das Denken und Fühlen; er ist eingedrungen in das privateste Leben und zeigt seine Fratze – man muss nur gut aufmerken – sogar in der Sprache unseres Volks.“

Heute weiß man natürlich nichts mehr davon, dass Tag für Tag in Deutschland Todesurteile nach Prozessen vollstreckt wurden, in denen der Verdacht ausreichte, „Wehrwolf“ gewesen zu sein. So schluckte auch Spiegel-Online in einem Interview mit Schoeps diese unwahre Behauptung und verwies darauf, dass es doch in den „Siebzigern etliche Bücher und Dokumentationen gegeben habe, die sich mit der NS-Zeit beschäftigten“. Aber das reichte Schoeps natürlich nicht aus:

„Die Beschäftigung mit der NS-Zeit war ein Thema einzelner, engagierter Journalisten. Es war kein wissenschaftliches oder ein Thema im Schulunterricht. Was denken Sie, wann die Aufarbeitung der NS-Zeit an deutschen Universitäten auf breiter Ebene begonnen hat? Erst Anfang der achtziger Jahre. Ich habe mit Studenten systematisch Lehrverzeichnisse deutscher Universitäten ausgewertet. An der Uni Bonn etwa finden Sie beispielsweise das erste Seminar zur NS-Zeit und zum Holocaust überhaupt erst 1982. Bis sich fundierte Forschung in Schulbüchern niederschlägt, dauert es, wenn einmal Mängel festgestellt sind, dann noch einmal etwa zehn Jahre. Die wirklich wichtigen Bücher werden erst jetzt geschrieben. Von der dritten Generation.“

Nicht ohne Verlegenheit stellte er dann jedoch fest:

„Die Deutschen haben einen Hang, in die Opferrolle anderer hineinzuschlüpfen, sind gewissermaßen süchtig danach. Das ist eine Form von Pathologie, die sich auch im Fall des Holocaust-Mahnmals gezeigt hat. Es waren nicht Juden, die dieses Mahnmal gefordert haben, sondern nicht-jüdische Deutsche. Wer hier mit wem, für wen, wo und warum ein Mahnmal errichtet, das wurde im Einzelnen gar nicht mehr gefragt. Natürlich wäre es richtiger gewesen, ein Mahnmal für alle Opfer der Nazis zu errichten. Stattdessen kommt es aus einem emotionalen Impuls heraus zu Verwerfungen, dann zu Peinlichkeiten und plötzlich wird den Juden zum Vorwurf gemacht, sie hätten dieses Mahnmal gewollt. In Opferrollen zu schlüpfen scheint bequem zu sein – und zusätzlich bringt es ein Gefühl der Entlastung.“

Dieser „pathologische Hang“ aber ist doch nichts anderes als die Folge der Umerziehung, der eingeredeten Kollektivschuld und Entseelung der Deutschen. Denn warum sollten die Deutschen in eine „Opferolle schlüpfen“, wenn sie angeblich „alles verdrängt“ haben? Nicht ohne Stolz hat Schoeps auch dafür eine Antwort:

„Dieses Land hat keine Identität.“

Aber genau das ist das Ergebnis der jahrzehntelangen Umwertung aller Werte, nicht etwa, wie Schoeps behauptet, „weil seine Geschichte von zu vielen Brüchen durchzogen ist“. Schoeps erfreut sich auch daran, dass die Deutschen deswegen zu „begeisterten Europäern“ geworden seien und vergisst natürlich auch zu erwähnen, dass das deutsche Volk heute ein sterbendes Volk geworden ist. Das erkannte auch Spiegel-Online indirekt und fragte, was „ein deutscher Jude sein wird, wenn es keine deutsche Identität mehr gibt“. Schoeps:

„Es gibt ja schon praktisch kein deutsches Judentum mehr. […] Sie beziehen sich nicht auf Goethe, Schiller, Börne und Heine, sondern auf Turgenjew, Tolstoi und Gogol. Goethe und Schiller sind ja auch nicht mehr wesentlich für die deutsche Identität. Eher Fußball, Bier und Bratwurst. Wird sich das in Zukunft ändern? Vielleicht. Der Prozess der europäischen Einigung hat durchaus eine Perspektive für die Juden. Seit einiger Zeit wird in intellektuellen Kreisen von der Möglichkeit eines europäischen Judentums gesprochen. Das ist für mich eine faszinierende Idee.“

Nun, letzteres interessiert uns weniger – doch der Kern liegt in der richtigen Erkenntnis, dass „Goethe und Schiller nicht mehr wesentlich für die deutsche Identität“ sind. Aber genau solche Tatsachen sind es, die aus dem einstigen deutschen Volk ein gestörtes Volk gemacht hat. Schon der Jude Börne, dessen richtiger Name Baruch war, sah im Jahre 1832 – unglaublich, aber wahr – den Augenblick der „Befreiung Deutschlands“ mit der Todesstunde Goethes zusammenfallen. Das Schlimmste daran ist aber, dass er recht hatte – denn nach dem Tode Goethes brach die Flut der „Aufklärung“ über das deutsche Volk herein.

Die „Befreiung“ war die von unserem Wesen, in dem es vor allem liegt, dass man, wie Goethe sagt, „eine Seele habe, die das Wahre liebt, und die es aufnimmt, wo sie es findet“. Der bis ins tiefste Mark überzeugte Leugner der Seele und des Wahren ist der Materialist, der Todfeind, geradezu besessen darauf, jede Spur der Seele zu leugnen.

Das hat Goethe im Urbild aller Seelenlosigkeit, im Mephisto, niedergelegt. Dort, wo dieser Faustens Leiche mit wutschnaubenden Worten, weil schlimmster Ahnungen voll, von seinen höllischen Trabanten auf die Möglichkeit einer Seele untersuchen lässt, als der dumme Teufel, der er trotz seiner Schlauheit oder vielmehr gerade ihretwegen ist:

Nun, wanstige Schuften mit den Feuerbacken!
Ihr glüht so recht von Höllenschwefel feist;
Klotzartige, kurze nie bewegte Nacken!
Hier unten lauert, ob’s wie Phosphor gleißt:
Das ist das Seelchen, Psyche mit den Flügeln,
Die rupft ihr aus, so ist’s ein garst’ger Wurm;
Mit meinem Stempel will ich sie besiegeln,
Dann fort mit ihr im Feuerwirbelsturm!

Goethe gegenüber steht die Fremdheit der Ethik des Spinoza, in der wir gleichzeitig alle Verfallserscheinungen der heutigen „modernen Gesellschaft“ erkennen: „vivere, agere, suum Esse condervare utile quaerende“ – oder besser im Sinne Salomos: „Eßt, trinkt! Nach dem Tode gibt’s kein Vergnügen!“

Spinoza ist übrigens nach Meinung seines Volkes das „Nonplusultra der Weisheit“ – uns ist aber beispielweise ein Satz der 5. Sinfonie Ludwig van Beethovens seelisch näher als das gesamte Alte Testament.


Quelle und Kommentare hier:
http://www.spreelichter.info/blog/Dieses_Land_hat_keine_Identitaet-1008.html