Die Geburtsfehler des Grundgesetzes

von Rolf Kosiek

Das Grundgesetz von 1949 wird allgemein als die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) angesehen. Daß sie solches nicht vollkommen ist, geht schon aus ihrem offiziellen Namen »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« statt »Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland« hervor. Sie ist also für die BRD, nicht von der BRD oder deren Volk geschaffen. Sie hat darüber hinaus weitere Geburtsfehler.

Nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945, spätestens seit der Verhaftung der Angehörigen der Reichsregierung in Flensburg-Mürwik am 23. Mai 1945, übten die Siegermächte in Deutschland aus, was sie in der »Berliner Erklärung« vom 5. Juni 1945 ausdrücklich feststellten.

Das Deutsche Reich wurde in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 in vier Zonen eingeteilt; die historischen deutschen Provinzen, insbesondere Preußen, wurden zerschlagen. Schon im Sommer 1945 erlaubten die Sowjets, später auch die Westalliierten, deutsche Parteien sowie deutsche lokale Verwaltungen und schufen unhistorische Länder.

Am 20. Juli 1946 schlugen die USA eine wirtschaftliche Zonenverschmelzung vor, die von Paris und Moskau abgelehnt wurde.

Am 2. Dezember 1946 schlossen die USA und Großbritannien ihre Besatzungszonen zur Bizone zusammen.

Am 29. Mai 1947 vereinbarten die amerikanische und britische Militärverwaltung die Gründung eines gemeinsamen länderübergreifenden Wirtschaftsrates für ihre beiden Zonen und legten die Verfassung dieser Bizone durch Besatzungsrecht fest. Der Anschluss der französischen Zone zur Trizone erfolgte erst im Vorfeld der Errichtung der Bundesrepublik im März 1949.

Eine Konferenz der von den Besatzungsmächten eingesetzten Ministerpräsidenten aller deutschen Länder der vier Zonen in München vom 6. bis 8. Juni 1947 zur Einheit der Deutschen verlief ergebnislos. Nachdem die sechste Außenministerkonferenz der Alliierten zu einem Friedensvertrag mit Deutschland vom 15. November bis 15. Dezember 1947 sich ergebnislos auf unbestimmte Zeit vertagt hatte, beschlossen die drei westlichen Sieger und die Benelux-Staaten in den »Londoner Empfehlungen« vom 6. März 1948 unter dem Eindruck des beginnenden Kalten Krieges die Bildung eines westdeutschen Staates.

Daraufhin verließ der sowjetische Militärbefehlshaber am 20. März 1948 den alliierten Kontrollrat und zogen die Sowjets sich am 16. Juni 1948 aus der Berliner Kommandantur zurück.

Nach Durchführung der Währungsreform am 20. Juni 1948 in den Westzonen begannen die Sowjets am 24. Juni 1948 die Blockade Berlins. Damit war die deutsche Spaltung vollzogen, die trotz mehrerer Versuche zur Wiedervereinigung bis 1990 andauerte.

Die sowjetischen Vertreter im Alliierten Kontrollrat, bevor sie den Sitzungssaal am 20. März 1948 verließen. Der Vorsitzende der sowjetischen Delegation, Marschall Wassilij SOKOLOWSKI, hatte um eine vollständige Unterrichtung über die Londoner Beschlüsse gebeten, was nicht erfolgte.

Der Westen wagte den Alleingang – damit begann der Kalte Krieg mit der Sowjetunion. Eine Woche nach der Abschnürung Berlins bestellten die drei westlichen Militärgouverneure, Lucius D. CLAY, Brian ROBERTSON und Pierre KOENIG, die von ihnen eingesetzten Ministerpräsidenten der Länder der Westzonen zum 1. Juli 1948 ins Frankfurter IG-Farben-Haus und beauftragten (»autorisierten«) sie mit den »Frankfurter Dokumenten«, insbesondere mit dem »Dokument Nr. I« schnell

»eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die spätestens am 1. September 1948 zusammentreten sollte«.

Die Landtage der elf westdeutschen Länder sollten die Mitglieder dieser Versammlung nach ihren Parteizusammensetzungen wählen: 65 Abgeordnete (je 27 der CDU/CSU und SPD, 5 der FDP, je 2 von Zentrum, Deutsche Partei und KPD) und 5 Berliner Abgeordnete, die nur beratende Stimme hatten.

Die Militärgouverneure der Westalliierten 1948 in Frankfurt am Main. Von links: Brian ROBERTSON (Großbritannien), Pierre KÖNIG (Frankreich) und Lucius D. CLAY (USA).

Nach den Vorfällen in London sprach sich ROBERTSON bereits am 31. März 1948 eindeutig für die Bildung eines westdeutschen Staates aus.

Die Militärregierungen legten außerdem wesentliche Rahmenbedingungen für die neue ›demokratische‹ Verfassung fest: Es sollte ein föderalistisches System entstehen; die Alliierten behielten Kontrollrechte über die deutsche Innen- und Außenpolitik; die Länder erhielten Kultur- und Bildungshoheit; eine unabhängige Justiz sollte die Verwaltung kontrollieren und die Freiheitsrechte des Einzelnen sichern; der Entwurf bedurfte der Zustimmung der Alliierten, die sich eine Ablehnung vorbehielten.

In der auf ihrer Tagung vom 8. bis 10. Juli 1948 in Koblenz erarbeiteten Antwortnote vom 10. Juli 1948 erklärten die noch vorwiegend gesamtdeutsch eingestellten Länderchefs,

»daß, unbeschadet der Gewährung möglichst vollständiger Autonomie an die Bevölkerung dieses Gebietes, alles vermieden werden müßte, was dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates verleihen würde; sie sind darum der Ansicht, daß auch durch das hierfür einzuschlagende Verfahren zum Ausdruck kommen müßte, daß es sich lediglich um ein Provisorium handelt sowie um eine Institution, die ihre Entstehung lediglich dem augenblicklichen Stand der mit der gegenwärtigen Besetzung Deutschland verbundenen Umstände verdankt«.

Sie müßten besonderen Wert darauf legen,

»daß bei der bevorstehenden Neuregelung alles vermieden wird, was geeignet sein könnte, die Spaltung zwischen West und Ost weiter zu vertiefen«.

Aus diesem Grund sei auch

»von einem Volksentscheid Abstand zu nehmen«. »Ein Volksentscheid würde dem Grundsatz ein Gewicht verleihen, das nur einer endgültigen Verfassung zukommen sollte.«

Sie betonten ausdrücklich,

»daß ihrer Meinung nach eine deutsche Verfassung erst dann geschaffen werden kann, wenn das gesamte deutsche Volk die Möglichkeit besitzt, sich in freier Selbstbestimmung zu konstituieren; bis zum Eintritt dieses Zeitpunktes können nur vorläufige organisatorische Maßnahmen getroffen werden«.

In der Anlage dazu hoben die Ministerpräsidenten noch einmal besonders hervor:

»Die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung und die Ausarbeitung einer deutschen Verfassung sollen zurückgestellt werden bis die Voraussetzungen für eine gesamtdeutsche Regelung gegeben sind und die deutsche Souveränität in ausreichendem Maße wieder hergestellt ist.«

Sie schlugen dann die Bezeichnungen »Parlamentarischer Rat« statt »Verfassunggebende Versammlung« und »Grundgesetz« statt »Verfassung« vor.

Die von den Besatzungsmächten gebrauchten Wörter »Verfassunggebende Versammlung« und »Verfassung« wurden also von den deutschen Länderchefs abgelehnt, um den provisorischen Charakter der damaligen Lösung hervorzuheben. Die Alliierten nahmen das hin.

Die Länderchefs beriefen einen vorbereitenden Verfassungskonvent, einen Ausschuß von rund 30 Personen mit je einem Landesvertreter und von Sachverständigen, meist Staatsrechtlern, auf die idyllische Insel Herrenchiemsee. Dieser erarbeitete dort vom 10. bis 24. August 1948 die verfassungsmäßigen Grundlagen des geplanten »Bundes deutscher Staaten«.

Als ausschlaggebend erwies sich der redegewandte Staatsrechtler und Justizminister von Württemberg-Hohenzollern, Carlo SCHMID (SPD) (1896-1979), der seine Meinung vor allem gegen bayrischen Widerstand durchsetzen konnte, daß das Deutsche Reich nicht untergegangen sei.

Vom 10. bis 23. August 1948 fand auf Herrenchiemsee eine Versammlung von Verfassungsfachleuten statt. Anton PFEIFFER (Bayern) eröffnete die Konferenz. Ab 1. September 1948 tagte der Parlamentarische Rat unter dem Vorsitz des CDU-Vorsitzenden Konrad ADENAUER in Bonn zunächst im Gebäude der Pädagogischen Akademie, dann im ausgeräumten Lichthof des Naturkundemuseums Koenig. Leiter des ausschlaggebenden Hauptausschusses war Carlo SCHMID.

Dieser hielt weiter am Fortbestand des Deutschen Reiches fest und erklärte am 8. September 1948 vor dem Rat, ohne Widerspruch zu erfahren, zur Ausgangslage des zu bildenden politischen Gebildes:

»Was aber das Gebilde von echter demokratisch legitimierter Staatlichkeit unterscheidet, ist, daß es im Grunde nichts anderes ist als die Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft; denn die trotz mangelnder voller Freiheit erfolgende Selbstorganisation setzt die Anerkennung der fremden Gewalt als übergeordneter und legitimierter Gewalt voraus. Nur wo der Wille des Volkes aus sich selber fließt, nur wo dieser Wille nicht durch Auflagen eingeengt ist durch einen fremden Willen, der Gehorsam fordert und dem Gehorsam geleistet wird, wird Staat im echten demokratischen Sinne des Wortes geboren.«

Mehrere Male – so am 19. Oktober, 22. November 1948 sowie am 12. Februar, 2. März und 5. April 1949 u. a. durch Memoranden – griffen die Hohen Kommissare bestimmend in die Arbeit des Parlamentarischen Rates ein, forderten Änderungen bei ihrer Meinung nach zu ausgeprägten zentralistischen Bestrebungen oder bei der zu starken Finanzverwaltung.

Besondere in Bonn anwesende alliierte ›Liaison Officers‹ prüften alle Drucksachen und Protokolle des Parlamentarischen Rats. Die Militärregierungen hörten auch die Telefone der maßgeblichen Parlamentarier ab.

1) ADENAUER »mußte häufig nach Frankfurt« zu den Militärgouverneuren zum Bericht fahren.

2) Deutsche Wünsche nach nur einer Kammer des Parlaments wurden abgelehnt. Ein erster Verfassungsentwurf vom 13. Februar 1949 wurde von den Besatzungsmächten am 2. März 1949 wegen zu geringer Berücksichtigung des Föderalismus und zu starker Einbeziehung West-Berlins zurückgewiesen.

Altbundeskanzler Helmut SCHMIDT äußerte rückblickend im Spiegel zur Entstehung des Grundgesetzes:

»Aber die Alliierten wollten ein machtloses Deutschland und legten großen Wert auf das, war wir heute Föderalismus nennen. Ich habe es manchmal ›Föderasmus‹ genannt.«

3) Bezeichnend ist, daß im Jahre 2005 in einem mehrseitigen Artikel 4) über die Entstehung des Grundgesetzes zwar sehr viele Einzelheiten wie die tägliche Biermenge oder die Telefonrechnung des Verfassungskonvents angegeben wurden, die wesentlichen Eingriffe der Besatzungsmächte und die damalige deutsche Betonung des Weiterbestehen des Deutschen Reiches jedoch kaum Erwähnung fanden.

Das nach den Forderungen der Alliierten 5) geänderte Grundgesetz wurde dann ausgerechnet am 8. Mai 1949, am Jahrestag der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht, vom Parlamentarischen Rat unter Leitung Konrad ADENAUERS mit 53 gegen 12 Stimmen des Zentrums, der Deutschen Partei, der KPD und Teilen der CSU angenommen. Zwei Tage später wurde Bonn mit knapper Mehrheit vor Frankfurt zum vorläufigen Sitz der Bundesbehörden gewählt und ein Wahlgesetz für den ersten Bundestag beschlossen.

Nach Genehmigung durch die Alliierten am 12. Mai 1949 und Ratifizierung durch die westdeutschen Landtage, wobei das Land Bayern ablehnte, wurde das Grundgesetz vom Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Konrad ADENAUER, ausgerechnet am 23. Mai 1949, dem Tag der Verhaftung der Mitglieder der letzten Reichsregierung, in Bonn verkündet.

Die letzte Seite des Grundgesetzes mit den Unterschriften von Konrad ADENAUER, Adolph SCHÖNFELDER und Hermann SCHÄFER (FDP). Letzterer unterzeichnet das Grundgesetz am 23. Mai 1949.

In der ursprünglichen Präambel des Grundgesetzes hieß es, es habe

»das Deutsche Volk in den Ländern. .. um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen«.

Das stimmt aber in mehreren Punkten nicht. Einmal hat nicht das deutsche Volk das Grundgesetz beschlossen oder durch Volksabstimmung gebilligt, sondern dieses wurde auf Befehl der Alliierten erarbeitet, von diesen durch Vorgaben wesentlich bestimmt und nachhaltig kontrolliert. Ferner hat das Land Bayern gegen das Grundgesetz gestimmt. Die ›Übergangszeit‹ dauerte dann mehr als 60 Jahre.

Auch später gab es nie eine Zustimmung des deutschen Volkes, selbst bei der kleinen Wiedervereinigung von West- und Mitteldeutschland am 3. Oktober 1990 nicht, als eine gute Gelegenheit zur Verabschiedung einer neuen echten Verfassung bestanden hätte.

Schließlich war es nicht das Grundgesetz »der« Bundesrepublik, sondern das »für die« Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz wurde viele Male durch Gesetz geändert, allein bis 1999 nicht weniger als 46mal, wobei mehrfach gleichzeitig mehrere Änderungen vorgenommen wurden.

Auch die Präambel des Grundgesetzes wurde am 23. September 1990 entscheidend geändert. Der bis dahin geltende Auftrag für die deutsche Politik, »in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«, wurde gestrichen und durch die unzutreffende Behauptung ersetzt:

»Die Deutschen in den Ländern. .. haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk.«

Denn einmal war die deutsche Einheit durch den Anschluß Mitteldeutschlands an Westdeutschland 1990 noch nicht vollendet, weil Ostdeutschland, die Gebiete östlich von Oder und Neiße, sowie das Sudetenland und andere Bereiche noch ausstehen. Noch immer gilt, auch wegen der offenen Frage der deutschen Ostgrenzen, der in den sechziger Jahren von allen Parteien vertretene Grundsatz:

»Deutschland ist größer als die Bundesrepublik.«

Ferner hat die Bundesrepublik durch die noch bestehenden Vorbehaltsrechte der Alliierten, zum Beispiel durch die Vereinbarungen vom 25. September 1990 über die Rechtsstellung der in Deutschland stationierten verbündeten Streitkräfte wie vom 23. September 1991 zur Regelung bestimmter Fragen in bezug auf Berlin, noch keine Freiheit.

Schließlich stimmt auch die im wesentlichen aus der alten Präambel übernommene Behauptung, es habe

»sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben«

(früher: beschlossen), für 1990 nicht, weil wiederum keine Zustimmung des deutschen Volkes erfolgte. Daneben gelten offensichtlich auch weiterhin alliierte Vorbehaltsrechte für die Bundesrepublik und für Berlin, die die staatliche Souveränität Deutschlands einschränken. 6) Zur Diskussion um das Grundgesetz als Verfassung Deutschlands kommt ferner hinzu, daß die Reichsverfassung der Weimarer Republik vom 18. August 1991, die unzweifelhaft bis 1945 galt, auch nach 1945 nie ausdrücklich aufgehoben wurde und das Bundesverfassungsgericht 1973 und 1983 feststellte, daß das Deutsche Reich als Völkerrechtssubjekt nicht untergegangen ist.

Ebenso wurden die Deutschland diskriminierenden Feindstaatenklauseln der UNO-Satzung bisher nicht außer Kraft gesetzt.

– Rolf Kosiek –

1) Karl-Ulrich GELBERG, »Soundso viele Cocktails«, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung,
21.2.1996.
2) KONRAD ADENAUER, Erinnerungen 1945-1953, Fischer, Frankfurt/M.-Hamburg 1967, S.
146.
3) Helmut SCHMIDT im Interview in: Der Spiegel, Nr. 1, 2.1.2006, S. 50.
4) Thomas DARNSTÄDT, »Die verteilte Macht«, in: Der Spiegel, Nr. 50, 12.12.2005, S. 56-73.
5) Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hg.), Der parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle. Bd. 8: Die Beziehungen des Parlamentarischen Rates zu den Militärregierungen,
bearbeitet von Michael F. FELDKAMP, Harald Boldt, Boppard 1995.
6) Siehe Beitrag »Wie souverän ist die Bundesrepublik Deutschland?«; Michael RENSMANN,
Besatzungsrecht im wiedervereinigten Deutschland, Nomos, Baden-Baden 2002.


Quelle und Kommentare hier:
http://www.scribd.com/MarsMagnus