15 Thesen zur Rechtslage im geteilten Deutschland

Von Martin Kriele

DIE ZEIT vom 26. Dezember 1969

Für die Bundesregierung gilt die DDR jetzt offiziell als „Staat“, nicht mehr bloß als Defacto-Regime. Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt hat die „Identitätstheorie“ als regierungsoffizielle Doktrin endgültig zugunsten einer „Teilordnungskonzeption“ aufgegeben, aber die „Zweistaatentheorie“ verworfen.

Die Identitätstheorie ging von der Identität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich aus und leitete daraus das Recht ab, Deutschland allein zu vertreten. Schon Bundeskanzler Kiesinger hat diese Konzeption vorsichtig ausgehöhlt, so durch das Angebot von direkten Verhandlungen zwischen den Regierungschefs der „beiden Teile Deutschlands“.

Seit der Regierungserklärung ist die DDR, wie auch die Bundesrepublik, ein „Staat in Deutschland“. „Deutschland“ ist als eine beide Staaten übergreifende Einheit gedacht, die keine eigenen Organe hat und nicht handlungsfähig ist. Deutschlands politische Gewalt „ruht“.

Unter dieser Voraussetzung ist plausibel, daß eine völkerrechtliche Anerkennung nicht in Betracht kommen kann, daß vielmehr die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR nur „von besonderer Art“ sein könnten.

Die auf Herbert Krüger und W. W. Schütz zurückgehende Formel von den „staatsrechtlichen“ Beziehungen steht zwar nicht in der Regierungserklärung, macht aber das Gemeinte deutlich: nämlich Beziehungen zwischen den Gliedstaaten einer zwar nicht in eigenen Organen realisierten, nichts desto weniger aber als ruhend vorausgesetzten Föderation Deutschland. Gedacht ist zunächst wohl nur an Verträge zwischen beiden Gliedstaaten, die die Grenzen durchlässig machen sollen, vor allem auf den Gebieten Verkehr, Wirtschaft, Sport, Kultur und Wissenschaft. Man könnte sich aber auch Institutionalisierungen denken, beispielsweise in Gestalt von ständigen Beauftragten, vielleicht mit diplomatischem Status, von gemeinsamen Beratungskommissionen, regelmäßigen Konsultationen oder sogar einem Repräsentationsorgan, in dem „Deutschland“ anschaulich werden könnte.

Die Zweistaatentheorie fordert demgegenüber Anerkennung zweier voneinander gänzlich unabhängiger Staaten ohne das Bindeglied eines beide übergreifenden „Deutschland“. Sie sollen füreinander Ausland sein, und zwischen ihnen sollen völkerrechtliche Beziehungen bestehen. Diese Theorie wird gegenwärtig von der DDR-Regierung als politischer Anspruch geltend gemacht. Sie hat sich aber offiziell nie so eindeutig festgelegt, daß sie ihre Forderung nach Anerkennung von zwei international anerkannten Staaten, die „normale Beziehungen“ unterhalten, nicht auch im Sinne der Teilordnungslehre interpretieren könnte.

Die Einwände gegen die Teilordnungslehre aus der Sicht der Identitätstheorie und aus der Sicht der Zweistaatentheorie decken sich zum Teil. So folgert die „politisch-soziale Korrespondenz“ aus der Regierungserklärung: Die Anerkennung der DDR als Staat mache diese „zweifellos“ zum Ausland, sei „zweifellos eine Frage, die Deutschland als Ganzes betrifft“, impliziere die Arierkennung der Ostgrenzen und gefährde Berlin. Das ist in allen Punkten unrichtig. Ähnliche Fehlinterpretationen finden sich auch in Ostberlin. Dort wecken solche Mißverständnisse Hoffnung auf Nachgiebigkeit und völkerrechtliche Anerkennung und tragen zur Versteifung bei. Die Frage ist, ob und inwieweit sich die Teilordnungslehre in der Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Einwänden beider Gruppen klärt und bewährt.

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These 1: Die Staatlichkeit der DDR ist rechtswirksam anerkannt.

Die Zuerkennung der Staatsqualität durch die Regierungserklärung des Kanzlers ist ein juristisch verbindlicher Regierungsakt und keine bloß theoretische Zurkenntnisnahme, Zwar handelt es sich weder de jure noch de facto um eine völkerrechtliche Anerkennung, sondern um die staatsrechtliche Anerkennung als Gliedstaat Deutschlands. Es besteht aber kein Grund, an die Form einer solchen Anerkennung größere Anforderungen zu stellen als an die Form einer völkerrechtlichen Anerkennung. Sie kann also auch durch eine offizielle Erklärung der Regierung vor dem Parlament erfolgen.

Für die Rechtswirkung dieser staatsrechtlichen Anerkennung ist es, ebenso wie im Völkerrecht, gleichgültig, ob man ihr konstitutive oder deklaratorische Wirkung zuspricht. „Deklaratorische Wirkung“ bedeutet nur: Ein Staat ist ein Staat auch dann, wenn er nicht anerkannt ist. Es wäre eine Umkehrung der deklaratorischen Theorie, wenn man sagen wollte: Ein Gebilde sei auch dann kein Staat, wenn es förmlich als Staat anerkannt sei. Kein Anhänger der deklaratorischen Theorie hat bisher bestritten, daß die förmliche Anerkennung eine zu respektierende, rechtswirksame Entscheidung ist.

These 2: Die staatsrechtliche Anerkennung der DDR ist keine Vorstufe zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik.

Dies besagt zwar, daß die DDR theoretisch im Verhältnis zu anderen Staaten diplomatische Beziehungen unterhalten könnte, wenn ihr diese Staaten die völkerrechtliche Anerkennung nicht aus Gründen politischer Solidarität mit der Bundesrepublik verweigern würden. Im Verhältnis zur Bundesrepublik aber kann die DDR nur Gliedstaat sein. Die Anerkennung als Gliedstaat ist keine Form der völkerrechtlichen Anerkennung und darf vor allem nicht mit der völkerrechtlichen De-facto-Anerkennung verwechselt werden. Völkerrechtliche Beziehungen zwischen den Gliedstaaten können allenfalls in dem Umfang bestehen, in dem man sie auch sonst zwischen Gliedstaaten, sogar zwischen den Ländern der Bundesrepublik, gelten läßt. Im übrigen ist der DDR eine „relative Völkerrechtsfähigkeit“ zuerkannt, wie man sie auch aus anderen föderativen Ordnungen kennt: völkerrechtliche Beziehungen des Gliedstaats nach außen, überwiegend staatsrechtliche Beziehungen zu den übrigen Gliedstaaten.

These 3: Die Abgrenzung zwischen Staats- und Völkerrecht ist idealtypisch und insofern theoretisch.

In der politischen Wirklichkeit gibt es Zwischentypen. Im britischen Commonwealth betrachteten sich die autonomen Dominions als souveräne Staaten, die nach außen völkerrechtliche, untereinander aber staatsrechtliche, sogenannte „Inter-se-Beziehungen“ unterhielten. Das Wörterbuch des Völkerrechts von Strupp-Schlochauer sagt dazu:

„Will man die British Commonwealth of Nations staats- beziehungsweise völkerrechtlich charakterisieren, so stößt man auf erhebliche Schwierigkeiten.“

Das Commonwealth sei eine Staatenverbindung sui generis. Im pragmatisch denkenden angelsächsischen Raum kam man nicht auf den Einfall, mit Rücksicht auf Lehrbuchunterscheidungen das Vernünftige und Zweckmäßige zu unterlassen. Für uns ist die Bresche der relativen Völkerrechtsfähigkeit geschlagen. Wir brauchen aber noch den Mut zu den Modifikationen, die die eigenartige deutsche Lage fordert.

These 4: Die Teilordnungslehre ist in erster Linie juristisch, nicht empirisch zu verstehen.

Man hat eingewandt, eine deutsche Föderation sei nicht in Organen realisiert. Sie sei gegenwärtig auch nicht realisierbar. Eine Konföderation jedenfalls sei nur unter drei Voraussetzungen funktionsfähig: gesellschaftliche Homogenität, ideologische Kompatibilität und außenpolitische Solidarität. Gegenbeispiele machen diese Behauptung zweifelhaft. Aber sei sie selbst richtig: Niemand spricht von einer funktionierenden Konföderation. Die föderativen „innerdeutschen“ Beziehungen beruhen auf der Annahme eines gegenwärtig nicht organisierten, aber als ruhend vorausgesetzten und grundsätzlich realisierungsfähigen, beide Staaten übergreifenden Deutschland.

Vor allem den Marxisten, die gewohnt sind, von ökonomischen und machtpolitischen Realitäten auszugehen, scheint die Annahme eines „ruhenden Deutschland“ auf den ersten Blick fiktiv. Juristische Konstruktionen bewähren sich aber in der Praktikabilität und Kohärenz ihrer Ergebnisse. Die Teilordnungslehre versöhnt die Staatlichkeit und Völkerrechtsfähigkeit der DDR mit der Möglichkeit „innerdeutscher“ Beziehungen. Eine juristische Hypothese kann man nach ihrem Ergebnis beurteilen, nicht aber sie verwerfen, weil sie „bloß“ Hypothese sei.

These 5: Die Teilordnungslehre hat eine reale Grundlage und finale Bedeutung.

Das „ruhende Deutschland“ ist aber nicht nur juristische Konstruktion. Es hat eine reale Existenz in den besonderen „innerdeutschen“ Beziehungen, in familiären, persönlichen und beruflichen Bindungen, in Resten gemeinsamen Rechts, in der unentrinnbaren Verstrickung in die gemeinsame nationale Geschichte. Wille und Bewußtsein der Zusammengehörigkeit sind in der Bevölkerung beider Gliedstaaten lebendig. Das Festhalten an dieser Konstruktion gibt dem Wunsch nach Organisierung der Einheit Ausdruck.

These 6: Die Teilordnungslehre wird von der DDR selbst vorausgesetzt.

Die Forderung nach völkerrechtlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten stünde mit den innerdeutschen Beziehungen, so wie sie tatsächlich gepflegt werden, im Widerspruch. Zu denken ist vor allem an die Besonderheit des innerdeutschen Handels und die Ausnahmestellung der DDR in bezug auf die EWG auf Grund des „Protokolls über den innerdeutschen Handel“ vom 25. März 1957 (sie verhilft der DDR zu wesentlichen Zollpräferenzen und Kreditfazilitäten), ferner an den innerdeutschen Bahn- und Postverkehr, an die – auch in Westberlin verkehrende – „Deutsche Reichsbahn“, an die wechselseitige – Anerkennung von Gerichtsurteile! und Verwaltungsakten als innerdeutsches Recht, im Rahmen des jeweiligen ordre public, an den Techniken der Rechts- und Amtshilfe. Alles das ist an die Voraussetzung gebunden, daß wir uns nicht wechselseitig völkerrechtlich als Ausland ansehen.

These 7: Die Verweigerung völkerrechtlicher Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik ist nicht diskriminierend.

Die Völkerrechtsfähigkeit des Gliedstaates DDR unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der des Gliedstaates Bundesrepublik. Ulbricht und Stoph machen drei Elemente der Nichtdiskriminierung geltend: Gleichberechtigung, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, Respektierung der Grenzen und Territorien. Diese Elemente sind •keineswegs an die Voraussetzung rein völkerrechtlicher Beziehungen gebunden; sie können ebenso auch in einer gliedstaatlichen Ordnung verwirklicht werden. Wir werden zwar weiterhin daran interessiert sein, ob die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen in der Welt und also auch in der DDR beachtet wird. Aber das Recht dazu haben wir nicht nur auf der Basis der Teilordnungslehre; wir hätten es ebenso bei völkerrechtlicher Anerkennung. Denn der Schutz der Menschenrechte gehört nicht zu den „inneren Angelegenheiten“; für sie einzutreten fällt nicht unter das Interventionsverbot.

These 8: Auch die Blockade der Anerkennung der DDR durch Dritte enthält keine Diskriminierung.

Es ist zwar richtig, daß die Bundesregierung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Dritter zur DDR nach wie vor mißbilligt und politisch zu blockieren versucht. Das hat aber nichts mit der juristischen Teilordnungslehre zu tun. Es handelt sich vielmehr um ein politisches Druckmittel. Solange die DDR in ihrer praktischen Politik die nationale Einheit verleugnet oder jedenfalls den Ausbau einer rechtlichen Verklammerung verweigert, reagiert die Bundesrepublik durch Ausnutzung ihrer internationalen Beziehungen zur Isolierung der DDR.

Der Kanzler hat eine Lösung dieser Blockade für den Fall der Normalisierung in Aussicht gestellt: „Unsere und unserer Freunde Einstellung zu den internationalen Beziehungen der DDR hängt nicht zuletzt von der Haltung Ostberlins ab.“ Die Botschafter der Bundesrepublik wurden von Außenminister Scheel in diesem Sinne angewiesen. Das ist zugegebenermaßen harter politischer Stil, aber keine Diskriminierung. Wenn die DDR die universale völkerrechtliche Anerkennung nicht erreicht, so ist der Grund dafür nicht mangelnde Staatlichkeit, sondern nationale Sezession.

These 9: Die Annahme der Zweistaatendoktrin liegt derzeit außerhalb der Souveränität der Bundesrepublik.

Die Teilordnungslehre entspricht der Rechtsauffassung der Siegermächte. Sie haben sich Reste von Souveränitätsrechten vorbehalten: die drei Westmächte im Deutschlandvertrag („in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung“) und die Sowjetunion in der Souveränitätserklärung der DDR. (Vorbehalt der „Funktionen, die sich aus den Verpflichtungen ergeben, die der Sowjetunion aus dem Viermächteabkommen erwachsen“.)

Daß diese Vorbehalte im Sinne eines „ruhenden Deutschland“ zu verstehen sind, haben die USA und Großbritannien später, als Zweifel an dieser Interpretation auftauchten, ausdrücklich klargestellt. So erklärte der amerikanische Außenminister Herter am 18. Mai 1959 auf der Genfer Außenministerkonferenz:

„Es ist der Standpunkt der Vereinigten Staaten, daß nach internationalem Recht das als Deutschland bekannte Völkerrechtssubjekt auch weiterhin besteht … Die Regierung der Vereinigten Staaten ist nicht der Auffassung, und sie wird es auch nicht zulassen, daß Deutschland als Völkerrechtssubjekt für immer in neue separate Staaten aufgeteilt ist… Die Bundesrepublik Deutschland und die sogenannte Deutsche Demokratische Republik stellen nicht – und zwar weder getrennt noch gemeinsam – eine gesamtdeutsche Regierung dar, die ermächtigt wäre, für das als Deutschland bekannte Völkerrechtssubjekt zu handeln und Verpflichtungen einzugehen.

Der britische Außenminister Selwyn Lloyd übernahm die Formulierungen Herters wörtlich.

Die Sowjetunion hat zu jener Zeit allerdings geschwankt und sich mit der Absicht getragen, einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Damit hätte sie ihren Vorbehalt in der Tat aufgegeben und wäre von der Teilordnungslehre zur Zweistaatentheorie übergegangen. Es handelte sich aber nur um vorübergehende Erwägungen.

These 10: Ob die DDR ein Staat ist, ist eine politische und keine theoretische Frage.

Es gibt keine „wissenschaftlich richtige“ Definition des „Staates“. Der Staatsbegriff ist ein politisch-polemischer Begriff. Legt man die drei Elemente des sogenannten „klassischen Staatsbegriffs“ zugrunde (Staatsgewalt, Staatsgebiet, Staatsvolk), so ist die DDR ein Staat. Die Staatslehre der Bundesrepublik hat, anderen Vorbildern folgend, den Staatsbegriff auf verschiedene Weise modifiziert, um die Anerkennung der DDR ausschließen zu können. Alle Definitionsversuche scheiterten aber bisher daran, daß man sie nicht konsequent und universal durchhalten konnte.

„Demokratische Legitimität“ mußte man als Element des Staatsbegriffs wieder aufgeben, weil man sonst weder Spanien noch die Sowjetunion hätte anerkennen können. Man hat argumentiert, daß sich die Bevölkerung der DDR nicht als besonderes Volk weiß und will, sondern als Teil des ganzen deutschen Volkes. Das war richtig, aber auch dieses Element des Staatsbegriffs mußte man fallenlassen, weil sonst die Konsequenz gewesen wäre, daß auch die Bundesrepublik kein Staat wäre und es keine föderalen Ordnungen geben könnte. Man hat die mangelnde Staatlichkeit der DDR mit ihrer machtpolitischen Abhängigkeit von der Sowjetunion begründet. Auch der so modifizierte Staatsbegriff konnte sich nicht durchsetzen, weil er die Möglichkeit verstellt hätte, Polen oder die Tschechoslowakei als Staaten anzuerkennen. Auf dem ausgeweiteten Staatsbegriff zu beharren, wäre der ebenso illegitime wie unwirksame Versuch der Theorie, das außenpolitische Ermessen der Regierung zu beschneiden.

These 11: Die Anerkennung der Staatlichkeit der DDR führt nicht automatisch zur universalen völkerrechtlichen Anerkennung.

Es gibt keine Rechtspflicht zur Anerkennung von Staaten. Eine solche Rechtspflicht wird zwar von einigen Autoren des Ostblocks, insbesondere der DDR, angenommen, im übrigen aber durchgängig abgelehnt. Eine völkerrechtliche Norm kann jedoch nur durch annähernd universale Anerkennung Geltung erlangen. Für die Nichtanerkennung der DDR durch unsere Freunde waren schon bisher nicht staatstheoretische Definitionen maßgebend, sondern politische Solidarität mit der Bundesrepublik, unterstützt durch ökonomische Interessen.

These 12: Die Anerkennung der DDR als Staat in Deutschland präjudiziert nicht die Grenzfrage.

Es ist zwar richtig, daß ein Staat seine Grenze selbst bestimmen kann. Da die Oder-Neiße-Grenze von der DDR als ihre Grenze anerkannt worden ist, ist sie auch von uns mittelbar als Grenze der DDR anerkannt. Die DDR als ein Staat „in Deutschland“ kann aber nicht die Grenze „Deutschlands“ festlegen. Über Deutschland als Ganzes und damit über die endgültigen Grenzen kann auf Grund des Potsdamer Abkommens und wegen der Souveränitätsvorbehalte der Alliierten nur mit deren Zustimmung entschieden werden.

These 13: Die Anerkennung der DDR als Staat in Deutschland berührt den Status von Berlin und seiner Zugangswege nicht.

Die Sicherheit Westberlins hatte durch die Identitätstheorie nichts hinzugewonnen. Sie beruht vielmehr auf Abkommen der vier Mächte, die ihrerseits die Identitätstheorie nie übernomman haben. Die Teilordnungslehre kann schon deshalb den Status von Berlin nicht beeinträchtigen, sondern höchstens bestätigen. Der Status von Berlin kann nur durch die vier Mächte, nicht durch die Bundesregierung geändert werden.

Die Anerkennung der DDR als Staat in Deutschland hat auch nicht etwa eine für Berlin gefährliche Entwicklung ermöglicht. Auch eine Anerkennung der DDR als Staat in Deutschland durch alle vier Mächte würde die Viermächteverantwortung für Deutschland unberührt lassen. Wenn die vier Mächte ihre Souveränitätsvorbehalte für ganz Deutschland eines Tages aufgeben sollten, wäre das eine von der Identitätstheorie oder Teilordnungstheorie ganz unabhängige Entscheidung.

These 14: Die Teilordnungslehre ist verfassungsrechtlich unangreifbar.

Die Politik der Bundesregierung ist in rechtlich nachprüfbarer Weise an die Grundsätze gebunden, die sich aus der Präambel und aus Artikel 146 des Grundgesetzes ergeben. In der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts begründen sie „für alle Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland die Rechtspflicht… die Einheit Deutschlands mit allen Kräften anzustreben, deren Maßnahmen auf dieses Ziel auszurichten und die Tauglichkeit für dieses Ziel jeweils als einen Maßstab ihrer politischen Handlungen gelten zu lassen“ und umgekehrt die Rechtspflicht, „alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Wiedervereinigung rechtlich hindern oder faktisch unmöglich machen“. Allerdings respektiert das Bundesverfassungsgericht das politische Ermessen der Bundesregierung.

An folgender Argumentation würde jeder verfassungsrechtliche Angriff auf die Teilordnungslehre scheitern: Im Zusammenwirken von Zweistaatentheorie im Osten und Identitätstheorie im Westen sind die Elemente der Einheit Deutschlands mehr und mehr zusammengeschrumpft. Eine beiderseitige Annahme der Zweistaatentheorie würde ebenso wie ein Beharren der Bundesrepublik auf der Identitätstheorie das, was von der Einheit noch verblieben ist, endgültig zerstören.

Die Teilordnungskonzeption der Bundesregierung kann diesen Zerstörungsprozeß vielleicht auch nicht aufhalten, wenn nämlich die DDR-Regierung auf die Dauer nicht darauf eingeht. Die Bundesregierung versucht, gegen die Ostberliner Sezessionstendenz das andere starke Interesse der DDR, nämlich an der universalen völkerrechtlichen Anerkennung, politisch einzusetzen und in den Dienst der innerdeutschen Verklammerung zu stellen. Nach Lage der Dinge bietet die Teilordnungslehre die relativ beste Chance, soviel wie möglich von der Einheit zu retten und Gefahren für die Endgültigkeit der Teilung abzuwenden.

These 15: Die Preisgabe der Identitätstheorie beruht nicht auf Kapitulation des Rechts vor der Macht, sondern auf Einsicht in die Realisierungsbedingungen des Rechts.

Aus vielen Äußerungen gegen die Anerkennung der DDR als Staat in Deutschland spricht Sorge um Menschenrechte, Selbstbestimmung und nationale Einheit. Indessen kann kein wahrheitsliebender Kritiker ein gleiches Engagement bei den Befürwortern der Teilordnungslehre bezweifeln. Nicht die Liebe zum Recht unterscheidet die Gruppen, sondern unterschiedliche Beurteilung seiner Realisierungsbedingungen.

Die Identitätstheorie war der juristische Ausdruck der politischen Hoffnung, das Gebiet der DDR in die westliche Gemeinschaft integrieren zu können. Diese Möglichkeit hat sich als illusorisch erwiesen. Allenfalls kann der Versuch mit der Teilordnungslehre in bescheidenem Umfang dem Frieden, der Liberalisierung und der nationalen Verklammerung dienen – wenn man sehr viel Geduld und Beharrlichkeit aufbringt.

Ein unrealisierbares Recht hört auf, Recht zu sein, und verflüchtigt sich zur Moral. Sie freilich gilt es weiterhin hochzuhalten.


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