Verrat durch SPD – Über das Scheitern der Revolution 1918

von Tilo Gräser

Die Novemberrevolution 1918 war ein Aufbäumen gegen die herrschenden Klassen. Doch die Führungen der SPD und der Gewerkschaften haben bis zum Schluss den Krieg unterstützt und die Ordnung durch ein Bündnis mit den Militärs aufrechterhalten. Das hat aus Sicht von Klaus Gietinger zum Scheitern geführt. Im Interview erklärt er das genauer.

Klaus Gietinger ist Drehbuchautor, Filmregisseur und Soziologe. Unlängst hat er das Buch „November 1918 – der verpasste Frühling“, erschienen in der Edition Nautilus, veröffentlicht.

Herr Gietinger, warum gab aus Ihrer Sicht im Spätherbst 1918 einen verpassten Frühling?

Es entstand zwar eine parlamentarische Demokratie aus diesem Kaiserreich, aber es wäre noch viel mehr möglich gewesen, nämlich eine basisdemokratische Republik. Die hätte meines Erachtens, wenn man das durchgesetzt hätte, nicht 14 Jahre später zum Faschismus geführt.

Sie schreiben auch davon, dass die Novemberrevolution so etwas wie eine vergessene Revolution ist. Was führt Sie zu dieser Einschätzung?

Es ist jetzt 100 Jahre her, aber wenn Sie genau schauen: Es gibt keine großen Feiern, nicht wie am Tag der Deutschen Einheit oder so, sondern ein paar Tagungen und ein paar Veranstaltungen. Dass diese Revolution eine demokratische Revolution war und dass sie eine verpasste Chance war – das ist im Bewusstsein eigentlich weitgehend verschwunden. Es wird nur dessen gedacht, dass der erste Weltkrieg zu Ende gegangen ist. Dass aber da wirklich etwas Neues entstanden ist und mehr hätte entstehen können, das ist vergessen!

Das war keine aufoktroyierte Demokratie, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, wo die Alliierten gesagt haben: So, ihr macht jetzt Demokratie! Sondern es war eine Demokratie, die von unten entstanden ist, die wirklich aus den Arbeitern, aus den SPD-Wählern entstanden ist, und aus den Matrosen. Und es war eine Demokratie, die noch viel mehr hätte wagen können. Es wurde eben nicht der Militarismus zerschlagen, der den Ersten Weltkrieg verursacht hat. Es wurde nicht in der Verwaltung ausgewechselt. Und das Kapital hat weitergearbeitet. Es wurde nichts vergesellschaftet.

Was waren die Ursachen für diese Revolution in Deutschland? Es gab ein Jahr zuvor in Russland eine erfolgreiche Revolution. War das eine Kopie, war das ein Export?

Es war weder eine Kopie noch ein Export. Die Ursache war der verlorene Erste Weltkrieg. Die Leute hatten die Schnauze voll. Es gab schon Hungeraufstände, es gab Streiks, schon seit 1916, zwei Jahre vorher. Der Auslöser war die Revolte der Matrosen in Kiel und in Wilhelmshaven, als die Flotte gegen England auslaufen sollte, um sozusagen in einer letzten Schlacht unterzugehen. Da haben die Matrosen gesagt: Das machen wir nicht mehr mit, der Krieg ist verloren, und wir wollen jetzt, dass dieser Krieg zu Ende geht!

Der Historiker Stefan Bollinger hat im Interview darauf hingewiesen, dass die deutsche Revolution ähnlich wie die russische nicht von Anfang an eine gewalttätige war. Von wem ging die Gewalt dann aus, wer hat damit angefangen?

Am 9. November waren die Arbeiter bei ihren Demonstrationen bewaffnet. Sie haben die Kasernen gestürmt. Aber bis auf einige wenige Schießereien mit einigen Toten  war das eigentlich eine friedliche Revolution, weil die Kasernen einfach übergeben wurden. Sie wurde dann aber gewalttätig, als sie eben nicht die Ergebnisse brachte, die die meisten haben wollten, nämlich eine Zerschlagung des Militarismus und auch eine Vergesellschaftung mindestens der Schlüsselindustrien wie der Bergbau und die Stahlindustrie. Da kam es zu Konflikten. Die wurden sehr schnell von den alten Militärs in Zusammenarbeit mit der Führung der SPD brutalst niedergeschlagen. Und im Übrigen: Die alten Militärs haben zuerst geschossen, am 6. Dezember 1918 in eine friedliche Demonstration und am 24. Dezember 1918 auf die Matrosen im Schloss – letzteres auf Befehl von Ebert.

Was waren aus Ihrer Kenntnis heraus die revolutionärsten Kräfte? Und welche Rolle spielten Personen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die im Januar 1919 von der Konterrevolution ermordet wurden?

Natürlich haben Luxemburg und Liebknecht eine große Rolle gespielt, weil sie gegen diesen Krieg und für eine sozialistische Revolution waren. Aber sie waren eher mythische Figuren. Sie hatten nicht den riesigen Rückhalt. Sie wurden von den Massen nicht so unterstützt, wie sie es gern gehabt hätten. Liebknecht war etwas sektiererisch, der Spartakus-Bund auch. Wer ganz wichtig war, das waren die revolutionären Obleute. Die sind leider im Westen wie im Osten vergessen worden. Die hatten ihre Basis in den Betrieben und waren auch sehr radikal. Die waren links in der USPD. Diese Revolutionären Obleute hatten richtig Einfluss und  haben aber auch zusammen mit Spartakus gearbeitet. Das waren die radikalsten Kräfte.

Sie schreiben im Buch und in der September-Ausgabe der Zeitschrift „Z“, dass sich in Folge eine präfaschistische Entwicklung gezeigt hat. Woran machen Sie das fest?

Das hat hauptsächlich mit der Entstehung der Freikorps zu tun. Die kaiserliche Armee war nicht mehr fähig, diese Revolution niederzuschlagen. Die Führung der SPD hat sich dann mit diesen alten kaiserlichen Truppen, die neu zu den Freikorps formiert wurden, verbündet. Das waren vom Krieg geprägte und extrem radikale gewalttätige Truppen, die dann nach einem Befehl von Gustav Noske jeden, der gegen die Regierungstruppen kämpfend mit der Waffe in der Hand aufgefunden wurde, erschossen. Das war ein rechtswidriger Befehl, ein völkerrechtswidriger Befehl, der zu massenhaften Morden geführt hat. Das war die Gewalttätigkeit, die meines Erachtens schon präfaschistisch war.

Die Revolution, der Veränderungswille und auch der Wille zum Ende des Krieges ging ja von Matrosen hauptsächlich aus, ebenso von Soldaten, die von der Landfront kamen. Wie war das möglich, dass in Deutschland dann so viele Soldaten in den Freikorps und zuvor in den Reichwehr-Resten sich gegen die Revolution einsetzen ließen?

Dieses kaiserliche Heer war tatsächlich am Ende. Sie hatten keine Truppen mehr, auch an Weihnachten hatten sie eigentlich keine Truppen mehr. Aber es wurden eben aus diesen, man kann sagen, verwilderten Soldaten, die aus dem Krieg kamen und die nichts anderes kannten als den Krieg, die Freikorps geschaffen. Es gibt ja diesen Typ des Kriegers. Die haben natürlich auch richtig Geld bekommen, wirklich gutes Essen und gute Verpflegung. Die konnten da sozusagen ihr Mütchen kühlen und konnten endlich mal gegen die vorgehen, von denen es hieß, die haben die Niederlage des Krieges verschuldet. Es gab diese Dolchstoßlegende, dass die Heimatfront den Krieg verloren hat und nicht die Front in Frankreich. Aber so war es nicht, der Krieg war tatsächlich verloren. Das war eine Revanche, eine Rache. Die wurden angeführt von Offizieren, die auch bei dieser Revolution versagt hatten, nichts gegen diese Revolution gemacht. Die sind aus Rache da ganz brutal vorgegangen.

Warum ist die Novemberrevolution 1918 gescheitert, wie Sie in Buch und Zeitschrift feststellen? Welche Lehren lassen sich aus diesem Ereignis heute, 100 Jahre später, ziehen, außer dass daran erinnert wird, dass es gewesen ist?

Sie ist zum großen Teil gescheitert. Es entstand dann die Weimarer Republik. Es gab das Frauenwahlrecht, es gab den Acht-Stunden-Tag, Gewerkschaften, die Forderungen stellen konnten. Es gab sogar Betriebsräte, die aber eben eingeschränkt wurden. Die hatten nicht die Rechte, die sie eigentlich haben wollten. Aber was nicht zerschlagen wurde, das war eben der Militarismus und auch der Kapitalismus, die Stahlindustrie und Krupp und so weiter, die diesen Krieg mit verschuldet hatten. Die wurden nicht zerschlagen und die wurden nicht sozialisiert. Die Militärs wurden nicht entmachtet. Es gibt ja dieses berühmte Buch von Theodor Plievier, „Der Kaiser ging, die Generäle blieben“. Die Militärs haben weiter ihre Macht ausgeübt, genauso wie die Kapitalisten. Die haben sich zusammengetan und haben die aufmüpfigen Arbeiter unter Führung der Sozialdemokratie zusammengeschossen.

Und welche Lehren lassen sich heute, 100 Jahre später, daraus ziehen?

Das ist ganz schwer. Ich denke, eine Lehre ist immer: So viel Demokratie wie es nur geht wagen. Wir haben ja leider im Moment eine Massenbewegung, die in die andere Richtung geht. Da muss man sich ganz klar dagegen wehren und da muss man dagegen aufstehen – jetzt nicht unbedingt in einer Partei, aber ich denke, man muss diese Demokratie bewahren und man muss sie weiter ausbauen.

Die Linke in Deutschland gilt seit 100 Jahren quasi infolge der Novemberrevolution als gespalten. Ist irgendetwas in Sicht, dass diese Spaltung seit 100 Jahren überwunden werden könnte?

Ganz ehrlich gesagt, ich sehe das im Moment nicht. Ich habe das Gefühl, die SPD verschwindet. Sie ist meines Erachtens auch keine linke Partei mehr, spätestens seit der Agenda 2010. Wenn sie das vor einem Jahr revidiert hätten, dann hätten sie vielleicht noch eine Chance gehabt. Aber das ist eine untergehende Partei. So sehr diese Partei Fehler gemacht hat und Verantwortung zu tragen hat für das, was da in der Novemberrevolution passiert ist – ich bedaure ihren Untergang, weil man weiß ja nicht, was danach kommt. Wenn das alles von der AfD übernommen wird, dann Gute Nacht.

Herr Gietinger, herzlichen Dank.

Klaus Gietinger: „November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts“

Edition Nautilus 2018. 272 Seiten. ISBN 978-3-96054-075-5; 18 Euro


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https://de.sputniknews.com/gesellschaft/20181020322690941-novemberrevolution-spd-weltkrieg/