Massaker von Katyn – Russland schuldig gesprochen

EMGR: Angehörige der Opfer des Massakers von Katyn „unmenschlich und erniedrigend behandelt“ – Massaker als Kriegsverbrechen eingestuft

Warschau – Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) in Straßburg hat Russland am Montag schuldig gesprochen, Angehörige der Opfer des sogenannten Massakers von Katyn „unmenschlich und erniedrigend behandelt“ zu haben. Damit verstieß Russland nach Ansicht des Gerichts gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Über zahlreiche Punkte der Klage, die von den Angehörigen eingereicht wurde, fällte das Gericht kein Urteil, weil Russland hier eine Zusammenarbeit verweigert hatte.

Die Angehörigen hatten angeführt, dass Russland ihnen keinen Einblick in die Ermittlungen der dortigen Staatsanwaltschaft zu Katyn gewährt hatte, dass keine Auskunft über den genauen Verbleib der Leichen erteilt und das Katyn-Massaker immer wieder als historischer Fakt in Zweifel gezogen worden sei. Die sich daraus ergebende „unmenschliche und erniedrigende Behandlung“ der Opfer-Nachkommen bestätigte der Gerichtshof bei zehn von 15 Klägern. Gleichzeitig stellte er fest, dass es sich bei dem Massaker um ein Kriegsverbrechen handelte. Schon im Vorfeld hatten die Angehörigen dies zu einem wichtigen Ziel erklärt, „obwohl wir keinen Zweifel haben, dass es sogar ein Völkermord war“, sagte die Klägerin Wanda Rodowicz der Zeitung „Rzeczpospolita“.

Rüge wegen mangelnder Kooperation

Zum wichtigsten Klagepunkt, einer Bewertung des russischen Ermittlungsverfahrens zu Katyn, äußerte sich der Gerichtshof nicht. Er rügte die Verantwortlichen in Moskau dafür, dass sie nicht mit dem Gericht kooperierten und so den Artikel 38 der Menschenrechtskonvention verletzten. So erhielten die Richter keine Kopie der Entscheidung der russischen Militär-Staatsanwaltschaft von 2004, das Verfahren einzustellen.

Unterschiedliche Reaktionen

Die Angehörigen der Opfer zeigten sich zwar mit der Verurteilung Russlands zufrieden, kündigten nach Informationen polnischer Medien jedoch Einspruch an. Dadurch wollten sie erreichen, dass eine höhere Instanz ein Urteil auch über das russische Ermittlungsverfahren fälle, hieß es in Kommentaren. Vertreter Moskaus erklärten sich unter Vorbehalt einverstanden mit dem Urteil. „Auf den ersten Blick scheint das Urteil zufriedenstellend und ausgewogen, aber wir müssen es noch genau untersuchen“, erklärte der russische Vertreter beim Europarat, Wladislaw Jermakow, gegenüber Journalisten.

Hintergrund: Exekutionsbefehl Stalins

Das Massaker von Katyn, das das Verhältnis zwischen Moskau und Warschau bis heute belastet, wurde im Frühling 1940 aufgrund eines von Sowjet-Diktator Josef Stalin unterzeichneten Befehls vom 5. März 1940 zur Exekution von „Nationalisten und konterrevolutionären Aktivisten“ in den besetzten Gebieten Polens verübt. Unter den Opfern waren polnische Intellektuelle, Polizisten, Reservisten und Offiziere, die 1939 von der Roten Armee interniert worden waren. Sie wurden zwischen 3. April und 19. Mai 1940 von Angehörigen des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten der UdSSR (NKWD) im russischen Katyn bei Smolensk, in Mednoje bei Twer (damals Kalinin) sowie in Charkow (ukrainisch Charkiw) in der heutigen Ukraine mit Kopfschüssen hingerichtet.

Im Wald von Bykiwnja (russisch Bykownia; heute Teil von Kiew) wurde Ende Juli 2006 ein weiteres Massengrab mit polnischen Opfern des NKWD entdeckt, in dem bisher vermisste Opfer des Massakers vermutet werden („ukrainische Katyn-Liste“). Im Waldgelände Kuropaty wurden weitere Opfer vergraben, die wahrscheinlich im NKWD-Sitz in Minsk ermordet worden waren. Das weißrussische Regime lässt genauere Forschungen allerdings nicht zu.

Durch die medienwirksamen Exhumierungen durch die deutschen Besatzer, die im Februar 1943 auf die Massengräber stießen, wurde Katyn bei Smolensk, wo rund 4.400 Polen starben, zur bekanntesten Hinrichtungsstelle und gab dem Massaker seinen Namen. Die genaue Zahl der Opfer des Verbrechens ist nicht bekannt. Ein Schreiben des KGB-Vorsitzenden Alexander Schelepin an Nikita Chruschtschow vom März 1959 spricht von 21.857 Opfern. Nach Angaben Polens waren es circa 30.000 Personen.

Auf dem Archivfoto, das mit Mai 1943 datiert ist, sind Soldaten an einem teilweise geöffneten Massengrab im russischen Katyn zu sehen. Den Archiv-Angaben zufolge besteht die Gruppe aus zwei deutschen Offizieren (links) und Alliierten Offizieren in Kriegsgefangenschaft. Die deutsche Wehrmacht hatte die Massengräber im Februar 1943 entdeckt.

Moskau machte jahrzehntelang das NS-Regime dafür verantwortlich

Die Entdeckung der Massengräber 1943 führte zum Abbruch der Beziehungen zwischen der polnischen Exilregierung in London und der Sowjetunion. Moskau machte für das Massaker jahrzehntelang das deutsche NS-Regime verantwortlich. Erst 1990 gestand die Sowjetunion die Schuld des NKWD ein. Russland lehnt jedoch die polnische Einstufung des Massakers von Katyn als „Völkermord“ ab. Damals begonnene Ermittlungen endeten 2004.

Vor zwei Jahren kamen mit Wladimir Putin und Donald Tusk zum ersten Mal der russische und der polnische Regierungschef am Ort des Verbrechens zusammen. Viele Kommentatoren in Polen zeigten sich jedoch enttäuscht, dass Putin bei seiner Rede nicht namentlich Josef Stalin als Auftraggeber des Massakers benannte, sondern nur von einem „totalitären Regime“ sprach. Polnische Beobachter werteten dies als Rücksichtnahme auf diejenigen Russen, die noch immer von einer deutschen Verantwortung ausgehen. Erst später in einem Interview mit RIA Novosti ging Putin auf Stalins Befehl ein. Er relativierte ihn jedoch mit dem Hinweis, der sowjetische Diktator habe sich damit seiner Ansicht nach für den Tod von russischen Kriegsgefangenen in Polen 1920 gerächt.

Im Mai und Dezember 2010 übergab Russland dem Nachbarland Dokumente zum Massaker von Katyn, was von polnischer Seite als „wichtiger Schritt“ eingestuft wurde. Beim anschließenden Warschau-Besuch des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew im Dezember 2010 deutete dieser Entgegenkommen an: Russland werde weiterhin Dokumente über das Verbrechen offenlegen. (APA/red, derStandard.at, 16.4.2012)


Quelle und Kommentare hier:
http://derstandard.at/1334530852674/Massaker-von-Katyn-Russland-schuldig-gesprochen