Jedwabne: Das Tabu der polnischen Täter

von Meret Baumann

Die Wahrheit über das Pogrom in Jedwabne vor 75 Jahren erschütterte Polens Selbstverständnis. Das Bild, dass die Polen nur Opfer und Helden des Widerstands waren, zerbrach.

Wenn am Sonntag im nordostpolnischen Städtchen Jedwabne des Pogroms an jüdischen Einwohnern vor 75 Jahren gedacht wird, wird nach wie vor ein Teil der Bevölkerung den Feierlichkeiten ablehnend gegenüberstehen. Denn es waren polnische Täter, die am 10. Juli 1941 das Massaker an rund 400 Juden verübten, nicht die deutschen Besatzer, wie jahrzehntelang behauptet wurde.

Als das im Jahr 2000 erschienene Buch «Nachbarn» des polnisch-amerikanischen Historikers Jan T. Gross Polen eine Mitschuld an diesem Verbrechen gab, erschütterte dies das Selbstverständnis des Landes und leitete die heftigste Geschichtsdebatte seit der Wende 1989 ein.

«Wir entschuldigen uns nicht»

Auf ihrem Höhepunkt ein Jahr später entschuldigte sich der damalige Staatspräsident Kwasniewski für das Pogrom an dessen 60. Jahrestag. Doch viele Einwohner Jedwabnes blieben der Feier fern, in den Fenstern des Ortes hingen Zettel mit der Aufschrift: «Wir entschuldigen uns nicht.»

Der damalige Bürgermeister, der sich für eine Aufklärung der Greueltat eingesetzt hatte, trat sogar zurück aufgrund des Widerstands. Auch die folgenden Gedenkfeiern blieben in der Bevölkerung umstritten.

Dass es in Jedwabne 1941 kurz nach dem deutschen Einmarsch in das bis dahin sowjetisch besetzte Gebiet zu einem Massaker gekommen war, wurde nie angezweifelt. Schätzungen gingen von rund 1600 jüdischen Opfern aus. 1949 wurden mehrere Männer verurteilt. Das kommunistische Regime machte hernach jedoch die Wehrmacht für die Tat verantwortlich – eine Version, die sich im allgemeinen Geschichtsbewusstsein durchsetzte und nach der Wende Bestand hatte, bis zum Erscheinen von Gross‘ Buch.

Nach seinen Forschungen haben rund 40 polnische Männer ihre jüdischen Nachbarn zusammengetrieben, in eine Scheune gejagt und dann bei lebendigem Leib verbrannt. Deutsche seien zwar zugegen gewesen, hätten aber nur Filmaufnahmen gemacht.

Im Sommer 2000 leitete das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) eine Untersuchung ein, die Gross‘ These im Wesentlichen stützte. Die Opferzahl wurde nach Ausgrabungen jedoch auf 300 bis 400 korrigiert. Das Rabbinat liess allerdings aus religiösen Gründen nur eine oberflächliche Exhumierung zu. Auch laut den Ermittlungen des IPN waren die Täter Polen, von den deutschen Besatzern geduldet und möglicherweise angestiftet. Das Institut bestätigte Gross zudem darin, dass Jedwabne bei weitem kein Einzelfall war: In mindestens zwei Dutzend Ortschaften in Nordostpolen kam es zu Gewalttaten.

Der Nestbeschmutzer

In Jedwabne fand das grösste dieser Massaker statt. Der Ort wurde zum Sinnbild des zerbrochenen Geschichtsbilds, dass die Polen im Zweiten Weltkrieg ausschliesslich Opfer und Helden des Widerstands waren. Gross war daran massgeblich beteiligt. In seinem Werk «Angst» (2006) thematisierte er den polnischen Antisemitismus nach dem Ende der deutschen Besatzung, der sich in Überfällen mit Hunderten von Toten äusserte. In «Goldene Ernte» (2011) beschrieb der in Princeton lehrende Historiker schliesslich, wie viele Polen vom Holocaust profitierten, indem sie sich am jüdischen Eigentum bereicherten.

Auch wenn Gross von Kollegen immer wieder Ungenauigkeiten oder schlicht Fehler vorgeworfen wurden, so hat er doch eine für Polen überaus wichtige Debatte angestossen. In streng katholischen und nationalkonservativen Kreisen gilt er jedoch als Nestbeschmutzer und Feind. Eine solche Sicht teilt weitgehend auch die seit Herbst regierende Partei Recht und Gerechtigkeit, die eine Polen idealisierende Geschichtspolitik verfolgt. Die Präsidentschaftskanzlei prüft derzeit sogar, Gross einen 1996 verliehenen Verdienstorden abzuerkennen.

Präsident Duda nahm diese Woche an einer Gedenkfeier für die Opfer des Massakers von Kielce teil, wo am 4. Juli 1946 über 40 Juden ermordet worden waren – das schlimmste jener Nachkriegs-Pogrome, die Gross ebenfalls beschrieb und die Tausende in die Emigration trieben. Duda verurteilte das Verbrechen. Wer sich daran beteiligt habe, habe sich aus der Gemeinschaft der Staatsbürger ausgeschlossen. Es sind nach dieser Sichtweise Einzeltäter.

Dass Kielce in einer Reihe von durch Polen verübte Greueltaten während und nach dem Krieg steht, sagte Duda nicht.


Quelle und Kommentare hier:
http://www.nzz.ch/international/europa/75-jahrestag-des-pogroms-von-jedwabne-das-tabu-der-polnischen-taeter-ld.104786