Grundgesetz – Deutsch muss draußen bleiben

von Helmut Berschin

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kennt keinen Sprachartikel. Bei seinem Inkrafttreten, 1949, war das Staatsvolk auch ein Sprachvolk: Der Satz „Die Sprache der  Bundesrepublik ist Deutsch“ wäre so informativ gewesen wie „Eine Kugel ist rund“.

Am 7. Dezember 2016 beschloss der CDU-Bundesparteitag in Essen einstimmig,  Artikel  22 des Grundgesetzes, der in Absatz 1 und 2 die Hauptstadt  und Bundesflagge festlegt, durch einen Absatz 3 zu ergänzen, mit dem Wortlaut:

Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch.

Seitdem geschah politisch nichts; denn für die CDU-Vorsitzende  ist Deutsch im Grundgesetz unerwünscht.

I

Die klassische Rechtslehre definiert einen Staat durch drei Merkmale: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Versteht man den Staat auch als Kommunikationsgemeinschaft, ist noch ein viertes Merkmal notwendig:  gemeinsame Sprache(n). Die Verfassung der meisten Staaten enthält deshalb einen Artikel, der die Staatssprache(n) festlegt. Von den neun Nachbarstaaten Deutschlands haben sechs einen solchen „Sprachartikel“: Österreich, die Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Belgien und Polen.

Traditionell hat die Verfassung mehrsprachiger Staaten einen Sprachartikel. Zum Beispiel gelten in Belgien drei Landessprachen: Französisch in Wallonien, Niederländisch in Flandern, Deutsch in Ostbelgien (Eupen) sowie Französisch und Niederländisch in der Hauptstadtregion Brüssel. In den letzten Jahrzehnten haben aber auch einsprachige Staaten die Landessprache in der Verfassung festgeschrieben, so 1992 der klassische Nationalstaat  Frankreich:

La langue de la République est le français 

Die Sprache der Republik [Frankreich] ist Französisch

Der Sprachartikel dient hier nicht dazu, die Mehrsprachigkeit des Staates zu regeln, sondern seine ‒ tendenzielle ‒ Einsprachigkeit zu bewahren, also die allgemeine Geltung der Nationalsprache. Diese wird heute durch zwei internationale Entwicklungen in Frage gestellt: Erstens die Globalsprache Englisch, welche die  nationalen Sprachen aus vielen Bereichen (Spitzentechnologie, Forschung, Finanzwirtschaft usw.) verdrängt, und zweitens die moderne Massenmigration, welche die sprachliche Zusammensetzung der nationalen Bevölkerung massiv verändert. Letzteres hat in den USA dazu geführt, dass seit den 1980er Jahren die Hälfte der Einzelstaaten ihre Verfassung durch einen Artikel ergänzten, der Englisch als Amtssprache festlegt, etwa in Florida: English is the official language of the State of Florida. 

II

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kennt keinen Sprachartikel. Bei seinem Inkrafttreten, 1949, war das Staatsvolk auch ein Sprachvolk: Der Satz „Die Sprache der  Bundesrepublik ist Deutsch“ wäre so informativ gewesen wie „Eine Kugel ist rund“. Heute sind die Sprachverhältnisse in Deutschland anders:  Deutsch ist nur noch die Sprache der Mehrheitsgesellschaft, aber nicht mehr der ganzen Gesellschaft; es wird nicht in allen Bereichen  verwendet (zum Beispiel kann die Firmen- oder Forschungssprache Englisch sein), und nicht jeder deutsche Staatsbürger ist ein kompetenter Deutschsprecher.

Über Gebrauch und Kenntnis der deutschen Sprache in der Bevölkerung gibt es keine zuverlässigen Daten. Beim Mikrozensus 2017 wurde zwar erstmals nach der „Familiensprache“ gefragt („Welche Sprache wird in Ihrem Haushalt vorwiegend gesprochen?“), aber nicht nach der Deutschkenntnis derjenigen, die zu Hause eine andere Sprache als Deutsch verwenden. Im Einwanderungsland USA hingegen wird seit langem bei der Volkszählung der Sprachengebrauch erhoben: 2011 gaben 20,8 Prozent oder 60 Millionen der über 5-jährigen Einwohner an, eine andere Sprache als Englisch zu Hause zu verwenden; davon sprachen drei Viertel Englisch „sehr gut“ (very well) oder „gut“ (well) und ein Viertel „nicht gut“ (not well) oder „überhaupt nicht“ (not at all).

Für Deutschland ist man auf einzelne Beobachtungen angewiesen, um die aktuelle Deutschkenntnis zu beurteilen:

●   In Zeiten der Wehrpflicht wurden 2000‒2008 von den körperlich tauglichen jungen Männern zwei Drittel der Deutschen eingezogen, aber nur ein Drittel der Deutsch-Türken (mit doppelter  Staatsangehörigkeit), weil diese im Sprachtest so schlecht abschnitten, dass sie Befehle oder schriftliche Hinweise nicht verstanden hätten.

●   Ein Zehntel der Schulabgänger in Deutschland erreicht keine schriftsprachliche Kompetenz: Sie können zwar  einzelne Wörter lesen oder schreiben, aber nur mit Mühe einfache Sätze und stehen Texten hilflos gegenüber. In der Pädagogik bezeichnet man dieses Leistungsniveau als „funktionalen Analphabetismus“. Von den Grundschülern kann nach der vierten Klasse ein Fünftel (noch) nicht richtig lesen.

●   Bei staatlichen Eingangsprüfungen scheitern viele Bewerber (die meisten mit Abitur) am Testdiktat ‒ obwohl man zum Beispiel in Rheinland-Pfalz bei 150 Wörtern Text zwanzig Fehler machen darf.

●   An den Schulen westdeutscher Großstädte,  vor allem den Grundschulen, ist mangelnde Deutschkenntnis zum Hauptproblem geworden. Eine Frankfurter Grundschullehrerin beschreibt die Lage so (FAZ 13. Februar 2017):

„Ich bin seit 15 Jahren Lehrerin, aber wenn ich gewusst hätte, dass der Unterricht irgendwann so aussieht wie jetzt, hätte ich einen anderen Beruf gewählt. […] Eine durchschnittliche Klasse sieht heute so aus: Von 25 Kindern können ein Drittel nicht richtig Deutsch sprechen, etwa acht Kinder sind verhaltensauffällig, dazu kommen traumatisierte Flüchtlingskinder […]. Auf der Strecke bleiben die paar normalen, unauffälligen, lernbegierigen Kinder, […] weil man als Lehrerin keine Zeit für sie hat.“

Viele Eltern dieser „normalen Kinder“ nehmen diese Situation nicht hin und melden ihr Kind an öffentlichen Schulen in Stadtteilen mit geringem Ausländeranteil an. Oder schicken es gleich auf eine Privatschule, insbesondere eine „International School“ mit Englisch als Unterrichtssprache. Nach dem Abitur kann dann das Kind in Deutschland an englischsprachigen Privatuniversitäten studieren oder an den öffentlichen Hochschulen, die neuerdings Studiengänge auf Englisch anbieten. Spitzenreiter ist hier die Technische Universität München, die bis 2020 alle Master-Studiengänge auf Englisch umstellen will.

III

Der Funktionsverlust der deutschen Sprache zeigt sich an der Spitze und Basis der Gesellschaft. Oben, in Bereichen wie Wissenschaft, Technik oder Finanzwirtschaft, treten die Muttersprachler aus der deutschen Sprachgemeinschaft aus und verwenden Englisch, die Sprache der globalen Elite ‒ ähnlich wie im 18. Jahrhundert die europäische Aristokratie Französisch sprach. Unten treten bestimmte Bevölkerungsgruppen gar nicht in die deutsche Sprachgemeinschaft ein, sondern bleiben in ihrer anderssprachigen Parallelgesellschaft. Die kommunikative Abwertung des Deutschen hat eine Gegenbewegung hervorgerufen, mit dem politischen Ziel, es im Grundgesetz als Landessprache festzulegen. 2006 forderte Bundestagspräsident Lammers im Rahmen der Grundgesetzänderungen zur Föderalismusreform, den Artikel 22 durch folgenden Absatz 3 zu ergänzen: „Die Landessprache ist Deutsch“. 2008 beantragte der CDU-Bundesparteitag  mehrheitlich eine entsprechende Grundgesetzänderung ‒ gegen den Willen der Kanzlerin, die erklärte: „Ich persönlich finde es nicht gut, alles ins Grundgesetz zu schreiben“. 2016 bestätigte der CDU-Bundesparteitag einstimmig, Deutsch im Grundgesetz zu verankern. Im Wahlprogramm 2017 der Union fehlt diese Forderung, ebenso im Koalitionsvertrag 2018.

Was spricht gegen Deutsch im Grundgesetz? In der öffentlichen Debatte ‒ zuletzt am 2. März, als der Bundestag einen entsprechenden Antrag der AfD ablehnte ‒ werden Stichwörter aus dem Migrationsdiskurs verwendet: Deutsch zur Landessprache erklären sei ein Zeichen von „Abschottung“ und „Ausgrenzung“ gegenüber Anderssprachigen, „ausländerfeindlich“ und wirke „abschreckend“ auf ausländische Fachkräfte, in Deutschland zu arbeiten. Hinzukommen zwei Standardargumente gegen jedes neue Gesetz: Erstens „Ist schon hinreichend geregelt!“ (hier im Bundesverwaltungsgesetz § 23, 1: „Die Amtssprache ist Deutsch“) und zweitens „Bringt nichts!“.

Gibt es bessere Argumente gegen Deutsch im Grundgesetz? Durchaus, aber sie werden öffentlich nicht gesagt. Einen Hinweis gab in der Bundestagsdebatte die Abgeordnete Barrientos (Linke): „Wenn etwas im Grundgesetz fehlt, dann ist es die Kultur als Staatsziel, und zwar Kultur in all ihrer Buntheit.“ Nun sind Multikultur und Vielsprachigkeit (Multilinguismus) zwei Seiten einer Medaille. Wer ein multikulturelles Deutschland jenseits der Folklore will, kann deshalb Deutsch nicht als alleinige Landessprache festlegen. Wenn der Islam „zu Deutschland gehört“, warum dann nicht auch die Hauptsprachen der Muslime? Arabisch und Türkisch werden hierzulande millionenfach gesprochen: Müsste man beide nicht als Schul- und Amtssprache anerkennen?

Politisch wird dieser Sprachenpluralismus nicht gefordert. Noch nicht: Man will die Wähler, die gerade lernen müssen, dass der Islam zu Deutschland gehört, nicht überfordern.


Helmut Berschin ist Professor em. für Romanische Sprachwissenschaft


Quelle und Kommentare hier:
https://www.tichyseinblick.de/meinungen/grundgesetz-deutsch-muss-draussen-bleiben/