Gefälschte Dokumente zu KZ-Arzt Mengele: der unglaubliche Betrug der Gräfin Kaiser-Bethany

von Armin Fuhrer

Wenn ein Historiker Jahrzehnte nach dem Ende des Holocaust neue Quellen zu dem berüchtigten SS-Arzt Josef Mengele enthüllen kann, ist ihm weltweite Beachtung sicher. Das wusste auch Bogdan Musial, als ihm die unglaubliche und unbekannte Geschichte eines jüdischen KZ-Häftlings angeboten wurde. Doch der Geschichtsforscher ließ sich nicht von Sensationsgier leiten.

Die Spannung muss unerträglich gewesen sein an diesem 27. Januar 2015. Der alljährlich wiederkehrende Gedenktag zur Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz sollte diesmal eine besondere Überraschung für den Historiker Bogdan Musial parat haben. Er stand mit seinen zwei Begleiterinnen vor dem Schließfach einer Bank in Zürich, während ein Bankmitarbeiter den Schatz hob: drei Pakete, die von dem Auschwitz-Häftling Salomon Ferencz Fülöp Grósz Chrorin stammen und sensationelles Material beinhalten sollten. Denn dieser Mann sollte Assistent  des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengele gewesen sein.

„Zum Vorschein kam ein lederner Aktenkoffer, eine kleinere lederne Kiste und ein Paket mit Büchern und Zeitschriften, die jeweils mit eigens geschmiedeten und vernieteten Stahlgittern vor unbefugter Einsichtnahme gesichert waren“, beschrieb Musial kürzlich die Szene in der „Welt am Sonntag“.

Es waren zwar nur drei Pakete statt der versprochenen sechs, aber Musial war trotzdem angefixt. Die anderen drei Pakete seien bereits von einem Mitarbeiter des Vatikan abgeholt worden, behauptete die eine von Musails Begleiterinnen, die den Historiker zu dem Zürcher Schließfach geführt hatte. Denn Gräfin Prof. Dr. med Magdolna Nicoletta Krisztina Kaiser-Batthyány-Szentágothay, wie die Dame sich nannte, hatte einen besonderen Draht zum einstigen Besitzer dieser Päckchen: Sie war seine Enkeltochter. Das behauptete sie jedenfalls.

Aufzeichnungen klingen authentisch

Musial nahm die Pakete mit in sein Heim nahe Hannover und bat einen befreundeten Historiker, der der ungarischen Sprache mächtig ist, eine Seite ins Deutsche zu transkribieren. Übersetzt stand dort zu lesen:

„18. März 1942: Zum ersten Mal muss ich bei der Vergasung mitmachen. 200 Menschen wurden in die Gaskammer gebracht. Danach befahl mir ein SS-Arzt, die Zyklon-B-Kanister zu öffnen und durch die Gitter hineinzuschütten. Der Exitus trat erst nach 10 bis 20 Minuten ein. Arme, unglückliche Menschen – meine jüdischen Mitmenschen! Oh mein Gott“.

Das klang authentisch. Josef Mengele war Arzt im Vernichtungslager Auschwitz. Dort quälte er zahlreiche jüdische Häftlinge mit Menschenexperimenten, oder Operationen ohne Betäubung, tötete sie, um ihnen Organe zu entnehmen. Bestraft wurde er für all seine unmenschlichen, grausamen Taten nicht. Ihm gelang die Flucht aus Deutschland, zunächst nach Argentinien, später nach Paraguay. 1979 starb er während eines Badeurlaubs.

Rolle der Münchner Society-Lady Barbara Riepl

Ein Jahr vor jenem 27. Januar 2015 hatte sich eine Freundin der Gräfin, die Münchner Society-Lady Barbara Riepl, an Bogdan Musial gewandt und ihm eine tolle Geschichte erzählt. Riepl, die dritte im Bunde vor dem Zürcher Schließfach, ist Millionärin und Erbin einer Münchner Bauunternehmer-Dynastie, Vorstandsmitglied im Münchner CSU-Wirtschaftsbeirat und als Inhaberin zahlreicher Ehrenämter vielfältig in der Isar-Metropole engagiert, und zudem ist sie die Schwiegermutter des Schauspielers Heino Ferch. Eine helfende Hand, ebenso gutmütig wie gutgläubig.

„Der Großvater ihrer guten Freundin sei als Jude in Auschwitz inhaftiert gewesen und habe dort unter dem berüchtigten Lagerarzt Dr. Josef Mengele als Häftlingsarzt arbeiten müssen. Er sei womöglich auch an dessen grausamen medizinischen Experimenten beteiligt gewesen, zitiert die WamS den Historiker Musial.

Der Großvater habe in einer Schweizer Bank Unterlagen deponiert und mit einer bald ablaufenden Sperrfrist versehen. Ob er als Historiker nicht Interesse habe, diese Unterlagen zu sichten und zu veröffentlichen? Na klar hatte Musial Interesse – welcher Historiker hätte dazu nein gesagt!

„Ich war elektrisiert und sagte endgültig zu“

Der deutsch-polnische Wissenschaftler war schon zu diesem Zeitpunkt Feuer und Flamme. Er schien die richtige Adresse zu sein, hatte er sich doch mit den deutschen Vernichtungslagern in Polen beschäftigt. Er war begeistert, als die Geschichte der Gräfin im Laufe der folgenden Monate immer faszinierender wurde.

Vor allem auch, als sie erzählte, ihr Großvater sei mit Hilfe Mengeles und eines katholischen Priesters die Flucht aus Auschwitz gelungen. Als die Gräfin dann im Februar 2015 von einer Reise nach Zürich berichtete, wo sie im Bankschließfach Tagebuchaufzeichnungen mindestens ihres Großvaters, wenn nicht gar Mengeles gesehen habe, war Musials letzter Widerstand gebrochen: „Ich war elektrisiert und sagte endgültig zu“.

Gräfin rühmte sich auch mit guten Beziehungen zu Benedikt XVI.

Kurz darauf begaben sich der Historiker, die Gräfin und die Society-Lady auf eine Reise nach Auschwitz. Vor den Ruinen der Krematorien II und III in Auschwitz-Birkenau verlas die Gräfin einen mehrseitigen, sehr echt wirkenden Brief Benedikts XVI. Denn, das wusste Musial schon von Barbara Riepl, die Frau rühmte sich engster Beziehungen in den Vatikan.

Sie kannte nicht nur den ehemaligen Papst Benedikt, sondern auch dessen Nachfolger Franziskus und ebenso enge Mitarbeiter aus der Spitze des Vatikans. Riepl, die Millionenschwere, hatte sich seit Jahren immer wieder auf Bitten ihrer Freundin bereit erklärt, wohltätige Projekte des Vatikan zu unterstützen oder auch für Benedikt nach dessen Rücktritt einen Treppenlift zu finanzieren. Denn einen solchen könne der Vatikan sich nicht leisten, schließlich war ein nicht verstorbener, sondern nur zurückgetretener Papst nicht vorgesehen und folglich gebe es auch kein Geld für eine solche Position.

So erzählte es Riepls gute Freundin, die Gräfin, und sie konnte auch Dankesbriefe und sogar Messages auf WhatsApp aus der nahen Umgebung des Paptes präsentieren. Und wie praktisch und unkompliziert war es doch, dass sie die Schecks ihrer Freundin aus München aufgrund ihrer engen Kontakte sogleich persönlich in den Vatikan bringen konnte. Kein Wunder, dass die Zuneigung der beiden Damen zueinander immer stärker wuchs. Eine echte Win-Win-Situation.

An der wollte auch Bogdan Musial gerne teilhaben. Die Zeit wurde ihm unendlich lang, bis ihm die Gräfin schließlich im Oktober 2015 im Hause Riepls endlich das „Herzstück“, wie sie es nannte, der Dokumentensammlung übergab. Es sei bislang bei einem Mitarbeiter des Vatikan gewesen, der es ihr nun aber zurückgegeben habe. Es war ein kleines Büchlein mit 108 Seiten, auf denen handschriftliche Notizen angefertigt waren. Die letzte stammte vom 18. November 1964.

„Das waren offenkundig die Memoiren, auf die wir so gehofft hatten“, so Bogdan Musial zur WamS.

Musial bemerkte Unregelmäßigkeiten – bei den Telefonnummern

Sogleich begab sich der penible Historiker auf eine Forschungsreise und durchstöberte Archive in Kiew, Sankt Petersburg und Moskau. Zur selben Zeit übersetzte sei Bekannter einige Abschnitte des Tagebuchs. Nachdem Musial im Dezember 2015 nach Hause zurückgekehrt war, nahm er sich das Tagebuch erneut zur Hand. Da fiel dem akribischen Historiker plötzlich etwas Merkwürdiges auf – die dort auf einer Seite notierte Telefonnummer 0048 33 8448015.

Musial hatte viele Jahre in Polen gelebt und wusste daher, dass eine solche Telefonnummer auf keinen Fall aus der Zeit bis 1964 stammen konnte. Denn die Landesvorwahl 0048 stammt aus den sechziger Jahren, die Vorwahl 33 aus den Siebzigern. Und siebenstellige Nummern werden in Polen erst seit 2001 vergeben.

Kurzum: Die Tagebuchnotizen konnten unmöglich echt sein. Eine genaue Untersuchung des gesamten Textes ergab schließlich, dass 60 Prozent aus dem Internet, Büchern und Artikeln abgeschrieben waren und der Rest frei erfunden. Statt wissenschaftliche Feinarbeit betrieb Musial plötzlich kriminalistische Arbeit. Er hatte sofort einen Verdacht, wer für die Fälschung verantwortlich sein musste. Und richtig: Ein Vergleich des Textes durch eine Sachverständige mit der Handschrift der Gräfin ergab, dass sie die Täterin war. Musial begann zu recherchieren und fand bald heraus, um wen es sich bei der Gräfin Kaiser-Bethany tatsächlich handelte: um eine Frau namens Magdalena Kaiser.

Gräfin Kaiser-Bethany: Fantasie machte weder vor dem Vatikan halt – noch vor der Auschwitzrampe

Kaiser entstammte kleinbürgerlichen Verhältnissen und war in Ungarn geboren. Sie träumte stets von einem besseren Leben in Reichtum und Luxus. In den siebziger Jahren zog sie nach Deutschland heiratete dort, trennte sich aber wieder von ihrem Mann. Kurze Zeit studierte sie Medizin. 1983 erhielt sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Vom Traum des Reichtums blieb zunächst nur ihr Nachname, den sie behielt. Irgendwann kam sie auf den Gedanken, es doch mal mit Betrügereien zu versuchen. Es erwies sich, dass die Dame eine sehr florierende Fantasie hatte, die sie in die heiligen Stätten des Vatikan führte und an der Vernichtungsrampe von Auschwitz nicht Halt machte.

Nach seiner Entdeckung unterrichtete Musial Barbara Riepl, die einsehen musste, dass sie seit Jahren von ihrer „Freundin“ hintergangen worden war. Sie hatte ihr gutgläubig 438.000 Euro für angebliche soziale Projekte oder den Treppenlift Benedikts übergeben. Geld, dass die falsche Gräfin für ganz andere Dinge ausgab, für Schmuck beispielsweise. Für diese Taten wurde Magdalena Kaiser im Mai 2018 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die Strafe ist aber noch nicht rechtskräftig.

Für ihren versuchten Betrug an dem Historiker Bogdan Musial und an der Geschichte, bei dem sie im wahrsten Sinne des Wortes über die Leichen von Auschwitz ging, blieb sie dagegen straffrei – dieser Teil wurde nicht einmal vor Gericht verhandelt. Dass sie damit nicht durchkam, ist der wissenschaftlichen Akribie eines Historikers zu verdanken, der sich nicht von der vermeintlichen historischen Sensation und der Hoffnung auf Ruhm blenden ließ, sondern keinen Deut vom Weg der Wissenschaft abwich, die prüft und forscht, bevor sie zu einem Ergebnis kommt.


Quelle und Kommentare hier:
https://www.focus.de/wissen/mensch/nationalsozialismus/graefin-kaiser-bethany-notizen-zu-kz-arzt-mengele-und-gefaelschte-papst-kontakte_id_9303452.html