Erinnerungen: Die 1990er Jahre

Von (real)Asmodis

Na gut, noch’n Jahrzehnt aus Zeitzeugensicht! Nach den 1980ern jetzt die 1990er Jahre.

Für mich war das die Zeit der Familiengründung (meine beiden Töchter wurden geboren), des Hausbaus, gerichtlicher Auseinandersetzungen, der Programmierung von kommerzieller Software (wovon die Ausstattung für die Kinder finanziert wurde) und zweier, neuer (befristeter) Arbeitsstellen sowie des Umzugs in meinen heutigen Wohnort. Es ist allerdings auch das Jahrzehnt, in dem zumindest in gesellschaftlicher Hinsicht bei mir persönlich die negativen Erfahrungen überwiegen. Anfangs standen die 1990er ja ganz im Zeichen der Wiedervereinigung.

Bloß: Was war das eigentlich für eine Wiedervereinigung?

Die dicke Birne aus Oggersheim stellte sich hin und stilisierte sich selbst zum “Kanzler der Einheit” hoch, fuhr dabei aber doch nur unberechtigterweise die Ernte der Saat ein, die Willy Brandt über zehn Jahre zuvor ausgebracht hatte.

Mehr noch: Durch seine neoliberal geprägte Stillstands- (Rückschritts?-) Politik öffnete er dem ungebremsten Raubtier-Kapitalismus Tür und Tor.

Ich meine, in der DDR waren den Kindern bspw. schon in der Schule wichtige Fertigkeiten für’s Leben – wie bspw. das Schießen – beigebracht worden und auch auf die deutsche Geschichte wurde gesteigerter Wert gelegt.

Die naturwissenschaftliche Ausbildung im Osten verlief praxisorientierter und fundierter als im Westen. Es gab Betriebskindergärten, Urlaubsheime usw.

Solche Sachen hätte der Westen übernehmen können, denn all das empfand ich als äußerst sinnvoll. Meine heimliche Hoffnung diesbezüglich wurde aber enttäuscht, denn es kam ganz anders.

Weil das Übernehmen dessen, was besser war, Geld gekostet hätte. Geld aber schien offensichtlich nur noch der Wirtschaft zuzustehen (so begann bspw. die ständige Befristung von Jobs) und eben nicht mehr denjenigen, welche die Wirtschaft überhaupt erst am Laufen hielten.

Kohl stülpte nämlich einfach das durchaus verbesserungsbedüftige (heruntergekommene?) System Bundesrepublik über Ostdeutschland, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.

Bedeutet: Die neuen Bundesländer gerieten zum Selbstbedienungsladen für Unternehmen aus dem Westen und dubiose Geschäftemacher verdienten sich eine goldene Nase. Der Mensch war ihnen dabei völlig egal. Wer hatte, der blickte verächtlich auf den herab, der weniger hatte.

Man begann, den Egoismus ganz groß zu schreiben und jegliche Form von Altruismus schamlos auszunutzen – wobei der Osten, da er dieses System noch nicht kannte, davon ganz besonders stark betroffen wurde.

Die neoliberale Gesellschaft manifestierte sich und führte zur Polarisierung der Bevölkerung; im Grunde genommen begann ein heimlicher Bürgerkrieg von “oben gegen unten”. Ich bin durchaus versucht, bei den Profiteuren dieses Systems von Kriegsgewinnlern zu sprechen, denn was da ablief, das trug alle Züge einer feindlichen Übernahme.

Geld regiert die Welt: Ich fand das nur noch pervers!

Die feindliche Übernahme bezog sich aber nicht nur auf Ostdeutschland, sondern betraf im Westen auch viele mittelständische Unternehmen – also exakt die Firmen, die zuvor den größten Arbeitgeber in Deutschland gestellt hatten. Da kam ein Großkonzern, der vielleicht erst durch das Abkassieren in der früheren DDR wirklich groß geworden war und kaufte ein kleineres Unternehmen, welches eine Konkurrenz darstellte, auf.

Der einzige Zweck dieses Aufkaufens lag darin, das kleinere Unternehmen dicht zu machen und dessen Mitarbeiter rauszuschmeißen. So schaffte man sich lästige Konkurrenz vom Hals. Dadurch aber wurden einige Konzerne größer und gieriger und mächtiger, gewannen über Lobbyarbeit immer mehr an politischem Einfluss, die SPD wandte sich langsam aber sicher vom Arbeitnehmer ab und den das große Geld besitzenden Bossen zu und … – Na ja, das Ergebnis davon sehen wir ja heute: Zweiklassengesellschaft mit Gesetzen von Reichen für Reiche!

Seit dieser Zeit zählen eigentlich nur noch Seilschaften, Beziehungen und soziale Herkunft. In den Schulen hielt die Herkunftspädagogik in Reinkultur Einzug. Die Arbeitnehmer waren im Zuge der vom individuellen Egoismus gespeisten Entsolidarisierung machtlos geworden und die Arbeitgeber setzten mit der Bildung von die Belegschaften aufspaltenden Scheingewerkschaften noch einen oben drauf. Was war aus der Protestbewegung des vorausgegangen Jahrzehnts geworden?

Die Führungspersönlichkeiten der Grünen, nämlich Bastian und Kelly, starben einen äußerst merkwürdigen Tod, dessen offizieller Darstellung ich mich beim besten Willen und bei allem Verständnis nicht anzuschließen vermag. Nachdem aber diese beiden Köpfe fehlten (oder sollte ich vielleicht besser sagen “abgeschlagen worden waren”?) mutierten die Grünen zu handzahmen Abnickern und Mehrheitenbringern.

Das Aufbegehren gegen die vorherrschenden Zustände wanderte primär in zwei Subkulturen ab. Eine davon war die sich manifestierende Gothic-Szene, deren Mitgliedern der BLÖD-gesteuerte Normalbürger jede noch so abartige Schlechtigkeit zutraute – es lebe nunmal das sorgsam gehegte und gepflegte Vorurteil!

Dabei waren die Allermeisten dieser Leute nur auf ihre ganz ureigene Weise “echt” und verstellten sich nicht, wie es der Mehrheitstrottel tat. Sie distanzierten sich nur demonstrativ von einer Gesellschaft, die sie nicht als die ihre betrachteten, was eigentlich auch nur ehrlich war. Die andere Gruppierung wurde als harmlos erachtet und weit unterschätzt, denn viele Menschen glaubten “die wollen doch nur spielen”. Das waren die Neonazis. Was die unter Spielen verstanden konnte man in Hoyerswerda und Rostock sehen – Deutschland im Herbst … Die überwältigende Mehrheit allerdings erging sich im Konsum, je hemmungsloser desto besser.

Der Kalte Krieg war vorbei und die Sowjetunion zerfallen. Sehr viele Russland-Deutsche – über eine Million und heute würde man die abfällig als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen – kamen in den Westen: Für die Unternehmer ein willkommener Anlass zum Drücken jedweder Art von Löhnen!

Jeder konnte das sehen und alle sahen weg. Im Grunde genommen wurde in den 1990ern ein ganzes Land (Ost wie West) komplett über den Tisch gezogen und alles im Namen des Geldes! Warum aber kümmerte das keinen? Da kann ich nur mutmaßen. Teils lag es sicherlich an der Politik, mit der Reiche über Gebühr begünstigt worden sind u. d. an Kohl und Konsorten. Die ja ihrerseits davon profitierten; ich erinnere nur mal an die Sachen mit den schwarzen Kassen, dem Kirch-Imperium, dem Waffenhändler Schreiber usw. Aber da galt wieder nur das, was schon immer galt: Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen.

Eine ganz wesentliche Rolle dabei dürfte allerdings auch der Aufschwung der IT gespielt haben. Windows (zuerst nur ein DOS-Aufsatz) wurde erwachsen und zum eigenständigen Betriebssystem. Linux wurde erfunden und weiterentwickelt, blieb vorerst aber noch ausschließlich etwas für Nerds.

Ab etwa 1993 kam das Internet nach Europa, angesichts der Verbindungskosten zunächst nur in den Hochschulen und rund zwei Jahre später für alle. Das Postmonopol fiel aber und die Verbindungskosten wurden bezahlbar. Die zunehmende Computerisierung verursachte steigende Arbeitslosigkeit und das wurde durch staatliche Subventionen sogar noch kräftig gefördert, diente es doch der “Modernisierung” und “Automatisierung” zum Erhalt der “Wettbewerbsfähigkeit”: Eine Hand wäscht eben immer auch die andere. Mit der anstehenden und vielbeschworenen “Digitalisierung der Arbeitswelt 4.0″ droht uns das Gleiche demnächst noch einmal.

Der kometenhafte Aufstieg der Mikroelektronik brachte aber noch etwas mit sich, nämlich die Ablenkung von den wesentlichen Dingen. Das war m. E. ein ganz wichtiger Punkt bei all diesem Abzocken und Abkassieren! Denn damit wurde der Spieltrieb der Leute angesprochen und alles andere interessierte eben einfach nicht mehr!

Tamagotchi (kann man sich etwas Überflüssigeres und Sinnloseres überhaupt vorstellen?) mit seinem Nachfolger Furby, CD-ROMs und Spielekonsolen kamen auf; Walkman oder Discman waren selbstverständlich und ein Nokia-Handy musste jeder einfach haben. Jedenfalls jeder, der in der Masse der Konsumtrottel mithalten wollte.

Denn jederzeit und überall per Handy erreichbar zu sein galt als chic, signalisierte und symbolisierte (eingebildete) Wichtigkeit. Wer dabei nicht mithalten konnte, der wurde schlichtweg abgehängt. Im gleichen Maße wie die technische Evolution stattfand, erfolgte auch die soziale Devolution.

Das Resultat davon war eine Spaltung der Gesellschaft in arm und reich und die Schere dieser Spaltung öffnet sich auch heute noch immer weiter, da das leidige und dem Übel zugrunde liegende System des Neoliberalismus mittlerweile quasi zur Ersatzreligion mutiert ist.

Es darf keineswegs mehr hinterfragt werden und dass es zuvor auch mal ganz anders ganz hervorragend funktioniert hat zählt schon fast zum verbotenen Wissen. Denn wer das hinterfragt, der wird gleich als “Linker” diskreditiert und als “Gefährder” eingestuft. Unsere heutige Gesellschaft funktioniert sehr ähnlich wie die Psychosekte, deren Machenschaften ich in den 1980ern mitbekam! Warum wohl? Ist das wirklich Zufall?

Panem et circenses – Brot und Spiele und bekannt seit den alten Römern – erfuhr in den 1990ern eine Neuauflage. Der Sozialstaat, bereits lückenhaft wie ich am eigenen Leib erfahren musste, existierte in weiten Bereichen noch. Er sorgte für das Brot, jedenfalls meistens, wenngleich auch schon nicht mehr immer.

Die Mikroelektronik hingegen war zuständig für die für die Spiele, allerdings nicht allein. Die großen Medienimperien bildeten sich und die machten (manipulierten?) die Meinung. Die Verblödung durch Privatsender nahm damals ihren Anfang und ist seither durchaus erfolgreich verlaufen.

Das hat selbstverständlich einen tieferen Sinn: Ein verdummtes Volk lässt sich leichter verarschen und führen! Ich meine, wo sogar die “Teletubbies” angeblich ein Bildungsprogramm sein sollten … Das erstmal dazu.

Hier noch ein paar weitere Schlaglichter aus den 1990ern: Techno als Musikrichtung entsteht. Na ja, einiges davon kann man sich durchaus anhören, auch wenn das Meiste für mich wie ‘ne halbautomatische Stanze klingt. Gitarren – vor allem E- und Bassgitarren, also Metal – sind eben doch unschlagbar.

In Eschede kommt es zu der Katastrophe mit dem ICE “Wilhelm Conrad Röntgen” und die Schlabberjeans-Hosenbeine gehen runter bis über die Schuhe, so dass sie der Straßenreinigung die Arbeit erleichtern. Das Design der D-Mark-Scheine wird komplett geändert und Lady Di verstirbt im Zuge eines mysteriösen Autounfalls.

Südafrika verabschiedet sich vom Apartheid-Regime, es gibt neue Postleitzahlen, Monica Lewinsky wird durch ihre besondere Form der Zungengymnastik weltbekannt und Putin zum neuen Zar in Russland. Kanatschan Alibekow, auch bekannt als Ken Alibek, setzt sich in den Westen ab und berichtet über die ganz groß angelegten Biowaffenprojekte der Russen – woraufhin die Amerikaner wieder eigene Biowaffenprojekte starten – und James Lovelock sowie Lynn Margulis publizieren ihre Gaia-Theorie als Ergänzung zu Darwin’s Evolutionslehre.

An der Princeton University wird das heute noch laufende Global Consciousness Project gestartet und liefert Resultate, mit denen niemand gerechnet hatte (und die sich auch bis dato niemand erklären kann): Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …

Hierzulande lösen zum Ende des Jahrzehnts hin Schröder und Fischer die Birne ab. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und die Arbeitslosenzahlen sind auf irgendwas oberhalb von fünf Millionen geklettert. D. h., das von der arbeitsfähigen Bevölkerung jeder Achte arbeitslos ist. Das wirkt sich auf den Binnenmarkt aus (keine Kaufkraft mehr) und deutsche Unternehmen setzen zunehmend auf den Export, wohl wissend und es neoliberal geprägt auch billigend in Kauf nehmend, dass dadurch der Binnenmarkt komplett den Bach runter geht.

Die Verarmung großer Teile der Bevölkerung ist dadurch vorprogrammiert. Schröder und Fischer treten zur Wahl mit dem Versprechen an, die Arbeitslosenzahlen zu senken. Was ihnen auch gelingen wird, allerdings erst im darauf folgenden Jahrzehnt.

Man beachte allerdings die Feinheiten: Es ging ihnen darum, die Arbeitslosenzahlen zu senken und eben nicht darum, die Arbeitslosigkeit zu verringern. Erkennt ihr den zwar kleinen, aber feinen Unterschied?

Oder, mit anderen Worten: Die Politiker verarschen die Bevölkerung, weil sie sich meilenweit von der entfernt haben! Besagte Verarschung geschieht zum Aufrechterhalten der eigenen, hohen sozialen Rangordnungsstellung einer abgehobenen Führungsclique.

Wenn das keine Zweiklassengesellschaft ist und kein Herrenmenschendenken sein soll, dann weiß ich auch nicht …


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