Entwicklung durch Wiederverkörperung des Menschen – eine ignorierte Erkenntnis deutschen Geistes

von hwludwig

Sollte es nicht auch drüben einen Tod geben,
dessen Resultat irdische Geburt wäre?
Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch.
Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist.
                               Novalis (1772-1801)

Für die Frage nach Sinn und Ziel des menschlichen Daseins, die tief in jedem Menschen lebt, kann die Idee der Wiederverkörperung oder Reinkarnation nicht ungeprüft übergangen werden, da sie die Möglichkeit ungeheurer Perspektiven des Lebens eröffnet. Vielfach wird behauptet, dieser Gedanke sei keine eigenständige Idee des durch das Christentum geprägten deutschen und europäischen Geisteslebens. Wenn er hier auftauche, sei dies auf die Beeinflussung durch die fernöstlichen Religionen wie Hinduismus und Buddhismus zurückzuführen, in denen der Glaube an eine Seelenwanderung eine große Rolle spiele.

Diese Behauptung, die vor allem von den Kirchen verbreitet wird, geht auf Unkenntnis der europäischen Geistesentwicklung zurück. Forschungen, selbst von evangelischen Theologen, kommen zu dem Ergebnis, dass der Gedanke der Reinkarnation, wie er in den letzten Jahrhunderten namentlich im mitteleuropäischen Geistesleben aufgetreten ist, seinem Inhalt nach mit dem orientalischen Seelenwanderungs-Glauben nichts zu tun und sich auch völlig unabhängig davon begrifflich selbständig entwickelt hat.

So brachte der Marburger evangelische Theologe Ernst Benz 1957 ein Sonderheft der von ihm herausgegebenen „Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte“ heraus, das ausschließlich dem Thema Reinkarnation gewidmet war und Beiträge verschiedener Gelehrter zu diesem Thema enthielt. Im Vorwort  schreibt Ernst Benz, die Lehre von der Reinkarnation sei allmählich in eine neue Form der Begegnung und Auseinandersetzung der Weltreligionen gerückt.

„… die neuere religions- und geistesgeschichtliche Forschung (hat) mit allem Nachdruck auf die Tatsache hingewiesen, dass die Lehre von der Reinkarnation auch im Bereich der christlichen Geistesgeschichte immer wieder ganz spontan hervortritt, und zwar keineswegs immer nur als Folge einer literarischen Beeinflussung durch die fernöstlichen Religionen, sondern in immer neuen, unmittelbaren Durchbrüchen (wie er meint:) letzthin irrationalen Ursprungs, in denen sich die Lehre trotz ihres allgemeinen Verdikts durch die herrschende christliche Lehre zu Wort meldet. Die ganze europäische Geistesgeschichte weist die Spuren immer neuer Einbrüche der Reinkarnationsidee auf.“ 1

Der weitaus bedeutendste dieser Einbrüche fand innerhalb der neueren mitteleuropäischen Geistesentwicklung statt. Dass die Form der Reinkarnationsidee, wie sie in der deutschen Klassik und danach aufgetreten ist, mit der indisch-orientalistischen nichts zu tun hat, wird auch durch deren Vertreter selbst bestätigt. Ernst Benz berichtet von einem Gespräch, das er auf einer Asienreise in Madras mit einem gelehrten Inder über Reinkarnation führte.

Ich erzählte ihm von der eigentümlichen Deutung, die der Gedanke der Reinkarnation in der Philosophie des deutschen Idealismus erfahren hatte, in der die Reinkarnation – so bei Lessing, Herder, Goethe, Wieland, Schlosser – als die Chance einer höheren, universaleren Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in neuen zukünftigen Leben verstanden wird. Shankara Menon sagte darauf: ´Der Hinduismus kennt nicht den Gedanken einer Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit durch eine Kette von Inkarnationen hindurch. Er lehnt den Gedanken einer ewigen Dauer der Persönlichkeit überhaupt ab. Das ewige Leben ist für die hinduistische Anschauung nicht die Verlängerung der menschlichen Persönlichkeit über den Tod hinaus, sondern das Eingehen in die eine Allnatur, in die eine Wahrheit. Damit tritt der Mensch aus dem Bereich des persönlichen Lebens überhaupt hinaus und geht in die All-Einheit des Seins ein`.“ 2

In der vorchristlichen Zeit hatte der Mensch überhaupt noch nicht ein so starkes in sich abgeschlossenes Persönlichkeits- oder Ich-Bewusstsein wie danach. Dies bereitete sich im antiken Griechen- und Römertum erst vor. In den weiter zurückliegenden Kulturen lebte das Ich des Einzelnen, noch wenig seiner selbst bewusst, ganz eingebettet im Seelischen einer blutsverwandten Gruppe und ging darin völlig auf.

In den östlichen Religionen finden wir deshalb die Grundaussage, dass die Seele des Menschen nicht mit dem Leib sich auflöst, sondern im Seelischen des Kosmos fortbesteht wie ein zusammenhängendes Kraftgebilde von Begierden, Trieben, Instinkten und Leidenschaften. Dieses Seelengebilde verbindet sich in späterer Zeit wiederum mit einer neuen Leiblichkeit, um neue seelische Erfahrungen auf der Erde zu machen.“ 3

Die Seele musste danach streben, alles Niedere in sich immer mehr zu tilgen, damit sie nicht mehr von der Erde zu einer Verkörperung angezogen wurde und in die All-Einheit des Seins eingehen konnte.

Demgegenüber erhob sich der deutsche und europäische Gedanke der Wiederverkörperung von der Seelenwanderung zur Geisteswanderung, der Wiederverkörperung des Geistes, des Ich, zu immer neuen Stufen der Entwicklung.

Fichte: Reinkarnation als Lebensgesetz des Ichs

In der Blütezeit der deutschen Kultur um die Wende des 18. Jahrhunderts erfassten ihre Vertreter das Ich des Menschen als ein von seiner Leiblichkeit nicht bedingtes, ganz in sich selbst gegründetes rein geistiges Wesen. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte drückte die geistige Unabhängigkeit dieses Ich, jenseits aller irdischen Begrenzungen und Bedrohungen, vor seinen Studenten in folgenden energischen Worten aus:

„Ich hebe mein Haupt kühn empor zu dem drohenden Felsengebirge, und zu dem tobenden Wassersturz, und zu den krachenden, in einem Feuermeere schwimmenden Wolken, und sage: Ich bin ewig, und ich trotze eurer Macht! Brecht alle herab auf mich, und du Erde und du Himmel, vermischt euch im wilden Tumulte, und ihr Elemente alle, – schäumet und tobet, und zerreibet im wilden Kampfe das letzte Sonnenstäubchen des Körpers, den ich mein nenne; – mein Wille allein mit seinem festen Plane soll kühn und kalt über den Trümmern des Weltalls schweben; denn ich habe meine Bestimmung ergriffen, und die ist dauernder, als ihr; sie ist ewig, und ich bin ewig, wie sie.“ 4

Die Bestimmung des Ich ist, so Fichte, dass es sich immer weiter entwickelt. Dazu verbindet es sich mit einem irdischen Leibe, um in Gemeinschaft mit anderen Menschen in wechselseitiger Anregung und Hilfe die eigene und die Entwicklung der anderen, ja der ganzen Menschheit voranzutreiben. Dabei beginnt man natürlich nicht bei Null, sondern knüpft an die Leistungen und Errungenschaften der Menschen an, die vorher gelebt haben.

„Alles, was jemals groß und weise und edel unter den Menschen war, – diejenigen Wohltäter des Menschengeschlechts, deren Namen ich in der Weltgeschichte aufgezeichnet lese, und die mehreren, deren Verdienste ohne ihre Namen vorhanden sind, – sie alle haben für mich gearbeitet; – ich bin in ihre Ernte gekommen; – ich betrete auf der Erde, die sie bewohnten, ihre Segen verbreitenden Fußstapfen. Ich kann, sobald ich will, die erhabene Aufgabe, die sie sich aufgegeben hatten, ergreifen, unser gemeinsames Brudergeschlecht immer weiser und glücklicher zu machen; ich kann da fortbauen, wo sie aufhören mussten; ich kann den herrlichen Tempel, den sie unvollendet lassen mussten, seiner Vollendung näher bringen.“ 4

Nun könnte man einwenden, dass ich selber ja auch nur ein begrenztes Leben habe und mit meinem Tode aufhören muss, mich weiter zu entwickeln. Doch das ist für jemand, der wie Fichte die ewige Geistnatur des Ich erfasst hat, zu kurz gedacht.

„O! es ist der erhabenste Gedanke unter allen: Ich werde, wenn ich jene erhabene Aufgabe übernehme, nie vollendet haben; ich kann also, so gewiss die Übernehmung derselben meine Bestimmung ist, ich kann nie aufhören zu wirken und mithin nie aufhören zu sein. Das, was man Tod nennt, kann mein Werk nicht abbrechen; denn mein Werk soll vollendet werden, und es kann in keiner Zeit vollendet werden, mithin ist meinem Dasein keine Zeit bestimmtund ich bin ewig. Ich habe zugleich mit der Übernehmung jener großen Aufgabe die Ewigkeit an mich gerissen.“

Ich werde meine Entwicklung in einem irdischen Leben nie vollendet haben. Der Tod kann mein Werk auf Erden nur unterbrechen, aber nicht abbrechen. Ich bin ewig und kann nicht aufhören zu wirken, also mich zu entwickeln. Mein Werk, also meine und der anderen Menschen Entwicklung soll  vollendet werden. Also muss das Ich des Menschen – das steckt in Fichtes Worten – wieder zu weiteren zeitlich begrenzten Inkarnationen in je neuen Körpern zur Erde kommen.

An anderer Stelle spricht Fichte es auch noch deutlicher aus:

„Und nun erscheint das gegenwärtige Leben nicht mehr als unnütz und vergeblich; dazu, und nur allein dazu, um diesen festen Grund in einem künftigen Leben zu gewinnen, ist es uns gegeben, und allein vermittelst dieses Grundes hängt es mit unserm ganzen ewigen Dasein zusammen. –  Es ist sehr möglich, daß auch dieses zweiten Lebens nächstes Ziel durch endliche Kräfte mit Sicherheit und nach einer Regel ebenso unerreichbar sei, als das Ziel des gegenwärtigen Lebens es ist; und daß auch dort der gute Wille als überflüssig, und zwecklos erscheine. Aber verloren kann er dort eben so wenig sein, als er es hier sein kann. …

Seine notwendige Wirksamkeit würde sonach in diesem Falle uns auf ein drittes Leben hinweisen, in welchem die Folgen des guten Willens aus dem zweiten sich zeigen würden, und welches folgende Leben in diesem zweiten auch nur geglaubt würde; zwar mit festerer, und unerschütterlicher Zuversicht, nachdem wir die Wahrhaftigkeit der Vernunft schon durch die Tat erfahren, und die Früchte eines reinen Herzens in einem schon vollendeten Leben treu aufbewahrt wieder gefunden hätten.“ 5

Lessing: Erziehung des Menschengeschlechts

Bereits vorher hatte sich schon Gotthold Ephraim Lessing jahrelang mit dem Gedanken der Entwicklung des Menschen durch viele Verkörperungen hindurch befasst, die in ihrer Gesamtheit die Entwicklung der ganzen Menschheit ausmachten. Er sieht das Leben des einzelnen Menschen mit seinem individuellen Schicksal als Offenbarung einer verborgenen Erziehung Gottes und so auch die ganze Geschichte der Menschheit als eine göttliche Erziehung des Menschengeschlechtes zu immer anderen und schließlich immer höheren Stufen der Entwicklung. In einer kleinen Schrift fasste er diese Ideen zum Ende seines Lebens zusammen.  Zum Verhältnis der Entwicklung des einzelnen Menschen zur geschichtlichen Entwicklung der ganzen Menschheit heißt es zum Schluss:

„§ 92. Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel Seitenschritte zu tun! – Und wie? wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert?

§ 93. Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben. – In einem und eben demselben Leben durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ gewesen sein? Kann er in eben demselben Leben beide überholet haben?

§ 94. Das wohl nun nicht! – Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?

§ 95. Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?

§ 96. Warum könnte auch Ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu meiner Vervollkommnung getan haben, welche bloß zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen können?

§ 97. Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu tun, uns die Aussichten in ewige Belohnungen, so mächtig helfen?

§ 98. Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?

§ 99. Darum nicht? – Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen? Wohl mir, daß ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände, würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen?

§ 100. Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde? – Verloren? – Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“ 6

Was haben die Errungenschaften früherer Kulturen der Menschheit mit den heutigen einzelnen Menschen zu tun? Er muss den Weg, den die Menschheit in ihrer Entwicklung genommen hat, selbst mitgemacht haben. Die Entwicklungsetappen der Geschichte ergeben für ihn nur einen Sinn, wenn er mit ihnen in einem inneren Zusammenhang steht, d.h. damals jeweils selbst gelebt und die Fähigkeiten Teil seiner eigenen Seele geworden sind.

Goethe: Selbstverständliche Metamorphosen der Entwicklung

Goethe hat über die Idee der Wiederverkörperung nie besonders theoretisiert, geschweige denn sie problematisiert; sie war ihm selbstverständliche Anschauung seines in sich ruhenden Geistes. Er beobachtete in der Natur ein ständiges Entstehen und Vergehen, ein Sterben und Wieder-Auferstehen in neuen Gestalten. Warum sollte es in der Entwicklung des Menschen anders sein?

„In Natur und Geschichte … sah Goethe das gleiche lebendige Prinzip des Formenwandels wirksam. Wie er in der einzelnen Pflanze die Urpflanze wahrnimmt, so sieht er in jedem Menschen die ewige Entelechie (das geistige Ich). Und indem er durch die leiblich-seelische Behausung hindurch die Entelechie als den Bewohner derselben anschaut, begegnet er, ohne sie erst gedanklich ausdenken zu müssen, der Idee der Wiederverkörperung.

Die Urpflanze entfaltet im räumlichen Nebeneinander ihren Reichtum. Im Formen- und Farbenspiel ihrer tausend Metamorphosen zaubert sie den Garten des Pflanzenreichs vor uns hin. Die menschliche Entelechie hat das zeitliche Nacheinander der Geschichte zu ihrem Reich. Im lebendigen Anschauen der Menschen, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in den Epochen der Vergangenheit findet der Mensch erst sich selbst. …
Die wiederholten Erdenleben sind die Metamorphosen, durch welche die ewige Entelechie des Menschen hindurchschreitet und die Fülle ihrer Möglichkeiten ausschöpft.“ 7

Goethe lebte in inniger Vertrautheit mit dieser Idee. Sie durchdrang seine ganze Lebensgesinnung.

„Wo er sie aussprach, hat sie stets die göttliche Selbstverständlichkeit einer Naturtatsache, und die Worte, die er ihr leiht, sind nie ohne den vollen Pulsschlag seiner Persönlichkeit und die höchste Sorgfalt seines Künstlertums.“ 6

In der Freundschaft mit Frau Charlotte von Stein wurde die Idee der Wiederverkörperung für ihn persönliche Realität. Er fühlte sich gedrungen, im Juli 1776 das „Geheimnis der Reminiszenz“ in poetische Worte zu fassen:

„Sag, was will das Schicksal uns bereiten? 
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
meine Schwester oder meine Frau.

Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
spähtest, wie die reinste Nerve klingt,
konntest mich mit einem Blicke lesen,
den so schwer ein sterblich Aug‘ durchdringt…

Und von allem dem schwebt ein Erinnern
nur noch um das ungewisse Herz,
fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern,
und der neue Zustand wird ihm Schmerz.“

Charlotte von Stein konnte sich mit dem Gedanken der Wiederverkörperung lange Zeit nicht befreunden und näherte sich ihm erst gegen Ende ihres Lebens an. In den Zusammenhang der Bemühungen Goethes, die Freundin für seine Anschauung zu gewinnen, gehört sein Gedicht „Gesang der Geister über den Wasser“:

„Des Menschen Seele
gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
zum Himmel steigt es,
und wieder nieder
zur Erde muß es,
ewig wechselnd. …“

Das ganze Gedicht hier.

In einem Gespräch mit J. D. Falk am Begräbnistag seines älteren Freundes Christoph Martin Wieland (25.1.1813) machte sich Goethe in feierlicher und wehmütiger Stimmung Gedanken über die ewige Entelechie Wielands, von der er erwartete, dass er ihr einst wiederbegegnen werde, und schloss mit den Worten:

Ich bin gewiss, wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen und hoffe wohl noch tausendmal wiederzukommen.“ 8

Eine Fülle weiterer Vertreter der Reinkarnation innerhalb des deutschen Geisteslebens bringt Emil Bock in seinem Buch „Wiederholte Erdenleben. Die Wiederverkörperungsidee in der deutschen Geistesgeschichte“, auf das hier nur verwiesen werden kann.

Rudolf Steiner: Erkenntnis der Reinkarnation

Rudolf Steiner knüpfte geistesgeschichtlich an die Denker des deutschen Idealismus an. Diese waren in der Beobachtung der Natur der Gedanken selbst zu der Erfahrung gekommen, dass in den Begriffen und Ideen ein inneres Leben: die Wahrheit des in der Welt wirkenden Geistes vorhanden ist. In seinen Tiefen erfasst, erscheint der Gedanke nicht mehr nur als subjektives Gebilde, sondern in ihm offenbart sich als lebendige Idee das Höchste und Tiefste, was in der Welt geistig schafft und sich in physischen Erscheinungen verdichtet. So erfassten sie auch das eigene Ich als ein geistig in sich bestehendes und geistig im Physischen wirkendes Wesen.

Hier setzte R. Steiner an, indem er dieses anfängliche Erleben des Geistigen im Denken durch Übungen verstärkte, die sich nicht auf die Ideen, sondern auf die diese hervorbringende Tätigkeit des Denkens selbst richteten, welche im gewöhnlichen Bewusstsein unbeachtet bleibt. Dadurch komme man dazu, dass sich die Ideen zur geistigen Anschauung dahinter wirkender geistiger Vorgänge und Wesen erweiterten, von denen die Ideen nur Abschattungen seien.

Dies auf das eigene Ich gewendet, führte ihn dazu, den menschlichen Wesenskern real in freier Loslösung von der Leibesorganisation“ zu erleben und zu schauen. Damit hatte er auch den Ausgangspunkt gewonnen, die geistige Wesenheit des Menschen nach dem Tode in ihrem Durchgang durch eine geistig-göttliche Welt und schließlich ihren Niederstieg zu einer neuen irdischen Verkörperung zu verfolgen.9 Damit erhob er den Anspruch, das, was bis dahin nur geahnt, gefühlt und in logischen Argumenten vorgestellt wurde, zu wissenschaftlicher geistiger Erkenntnis zu erheben.

Die Verbindung zwischen den Inkarnationen bildet das Schicksal oder Karma des Menschen. So wie nach dem nächtlichen Schlaf unser Leben an einem neuen Tage von den Wirkungen der Taten des vorherigen Tages abhängt, so ein neues Erdenleben von den Wirkungen des vorangegangenen. Der Menschengeist verkörpert sich immer wieder, und sein Gesetz besteht darin, dass er die Wirkungen und Früchte, negative wie positive, in die folgenden Erdenleben hinübernimmt.

Welche Eindrücke die Seele wird haben können, welche Wünsche ihr werden befriedigt werden können, welche Freuden und Leiden ihr erwachsen, mit welchen Menschen sie zusammenkommen wird: das hängt davon ab, wie die Taten in den vorhergehenden Verkörperungen des Geistes waren. … Das Leben der Seele ist somit ein Ergebnis des selbstgeschaffenen Schicksals des Menschengeistes.“ 10

Damit tritt die Wiederverkörperung des Menschen zum ersten Mal als organisches Glied eines umfassenden Erkenntnis- und Weltanschauungszusammenhanges, der anthroposophischen Geisteswissenschaft, auf, ohne sich auf irgendeine Überlieferung oder rein gedankliche Überlegung zu berufen, sondern allein auf unmittelbare übersinnliche Forschung. Nach zahlreichen schriftlichen und mündlichen Darstellungen der übersinnlichen Erkenntnismethode hielt Rudolf Steiner 1924 schließlich eine Reihe von „Karma-Vorträge“, in denen er vorangegangene Erdenleben historischer Persönlichkeiten beschrieb und so tiefe Einblicke in innere Zusammenhänge der Menschheitsgeschichte aufschloss.

Reinkarnations-Erinnerungen

Nun kommt den theoretischen Überlegungen und Forschungen zur Wiederverkörperung des Menschen interessanterweise auf der anderen Seite entgegen, dass zunehmend Menschen Reinkarnationserfahrungen haben. In den letzten Jahrzehnten sind global tausende von Fällen aufgetreten, dass kleine Kinder sich an ein noch nicht lange zurückliegendes voriges Leben auf der Erde erinnern, in denen sie eines gewaltsamen Todes gestorben sind, und sich ihre Angaben vielfach auch auf verblüffende Weise bestätigen.

Der Medizin-Prof. Ian Stevenson von der Universität Virginia hat sich von 1953 an und ab 1964 vorrangig damit forschend befasst.11 Er nimmt zu recht an, dass die Dunkelziffer noch wesentlich höher ist. Viele Eltern gehen auf die Worte der Kinder nicht ein, da sie sie für blühende kindliche Phantasie halten, und im Heranwachsen gehen diese Erinnerungen in der Regel vollständig verloren.

Ein besonders eindrucksvoller Fall ist der des jetzt 46-Jährigen Deutschen Udo Wieczorek aus der Nähe von Ulm, der sich bereits im Alter von vier Jahren in Albträumen als Soldat im Ersten Weltkrieg erlebte.12 Bei ihm traten die Traumszenen mit 18 Jahren erneut auf und konnten von ihm viel klarer und bewusster erfasst werden.

Er sah sich z. B. tödlich verletzt im Schützengraben noch mit letzten Kräften einen Brief schreiben, den er in einer Dose hinter einem herausgelösten Stein der rückwärtigen Natursteinmauer verbarg. Mit 22/23 reiste er mehrmals in die Dolomiten, wo er in diesem Leben noch nie war, und erkannte dort viele Einzelheiten der Landschaft wieder, fand schließlich den verfallenen Schützengraben – und hinter dem Stein in der Mauer den geschriebenen Brief. (Siehe detailliert hier.)

Zusammenhang des Einzelnen mit der Menschheit durch Reinkarnation

Die zentrale Veranlagung des Deutschen besteht, wie in einem vorigen Artikel beschrieben, darin, sich im Ich als einem von aller Materie unabhängigen, in sich selbst gegründeten geistigen Wesen zu erfassen. Das führt dann bei denjenigen, die diese Aktivität aufbringen, zu einem starken Individualismus und Freiheitsbewusstsein. Ein Ich ist aber jedem Menschen eigen, gleich welchem Volk oder welcher Rasse er angehört.

Das Ich ist also allgemein menschlich, es macht den Menschen an sich aus. Ein Mensch, der sich zu seinem höheren, in sich selbst gegründeten Ich erhebt, befindet sich in der Sphäre des Allgemein-Menschlichen, in der er sich mit der ganzen Menschheit verbunden fühlt; er empfindet sich zugleich als Weltbürger und Vertreter tiefer Menschlichkeit.

Es erscheint zunächst als ein Paradoxon, dass sozusagen der extremste Individualismus zugleich Kosmopolitismus und Humanität bedeutet. Es ist eben das Allgemein-Menschliche des geistigen Ich, das in allen dreien lebt. Und gerade wenn sich das Ich zum Kosmopolitismus, zum Interesse und zur Verbundenheit mit den Menschen aller Völker erhebt, erlebt es die Vielfalt, Besonderheit und Spezialisierung menschlichen Daseins, wie sie im Raume ausgebreitet ist. Und in der Erkenntnis der wiederholten Erdenleben kommt ihm zum Bewusstsein, dass er selbst

auf diesem Wege sozusagen die ganze Menschheit in ihren verschiedenen Rassen, Völkern und geschichtlichen Zeitaltern durchwandert, also in gewissem Sinne die gesamte Menschheit in ihrem bisherigen Werdegang in sich trägt.“ 13

Die Tatsache der fortlaufenden Reinkarnation jedes Menschen stellt so den inneren Zusammenhang zwischen Einzelmensch und Gesamtmenschheit her. Die Wiederverkörperung ist das innerste Lebensgesetz des sich entwickelnden Menschen-Ichs und damit auch der Menschheit.

Zukunftsperspektiven

Man versuche sich vorzustellen, wie sich die ganze Lebenseinstellung des Menschen durch die Gewissheit der Wiederverkörperung grundlegend verändert. Dadurch, dass er sein jetziges Schicksal weitgehend als Folge seiner Taten und Leiden vergangener Erdenleben erkennt und in seinem jetzigen Leben die Ursachen für sein Schicksal in folgenden Erdenleben, wird ein ganz anderes Verantwortungsgefühl sich selbst und seinen Mitmenschen, ja, der ganzen Menschheit gegenüber erwachen, mit der er als ein Teil verbunden ist.

Und dies wird sich allmählich verändernd auf das gesamte kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben auswirken. In die Seele des Menschen wird auch eine ganz andere Gelassenheit und Lebenssicherheit einziehen.

Die Wiederverkörperung widerspricht nicht dem Christentum, sondern nur den Dogmen der Kirchen. Die Liebe zum Entwicklungsort Erde, mit der Christus als Menschenbruder verbunden ist, bildet gegenüber der Weltflüchtigkeit östlicher Lehren gerade den Kern der westlichen Erkenntnis, wie sie insbesondere im deutschen Geistesleben entwickelt ist. Sie ist ein wesentlicher Beitrag des deutschen Geistes zur Menschheitskultur, der sich noch gegen die engstirnige Beschränktheit des herrschenden Materialismus entfalten muss. Was aber nur geschieht, wenn sich genügend Menschen dieser tiefsten Lebensfrage ernsthaft stellen.

Es wäre eine Katastrophe, wenn es den globalen Drahtziehern der Massenmigration und den deutschen bildungsfernen Selbsthassern gelänge, das deutsche Volk mit seinen hohen Kulturanlagen auszulöschen.

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1   Zitiert nach H. E. Lauer: Die Volksseelen Europas, Stuttgart 1965, S. 261
2   Zitiert nach Lauer a.a.O., S. 261-262
3   Pietro Archiati: Die Weltreligionen, 1997, S. 66
4   Johann Gottlieb Fichte: Über die Bestimmung des Gelehrten (1794), Ende 3. Vorlesung:
gutenberg.spiegel.de

5   Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800), Kap. 10 III.: gutenberg.spiegel.de

6   Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780):
gutenberg.spiegel.de
7   Emil Bock: Wiederholte Erdenleben. Die Widerverkörperungsidee in der deutschen Geistesgeschichte, Stuttgart 19756, S. 58-59
8   Zitiert nach Emil Bock wie Anm. 6, S. 58
9   Vgl. Rudolf Steiner: Reinkarnation und Karma, GA 34
10 Rudolf Steiner: Theosophie, GA 9, Dornach 1961, S. 87, 88
Vgl. das ganze Kapitel „Reinkarnation und Karma“

11 Vgl. Zunehmende Erinnerungen von Kindern
12 Siehe: Die dramatischen Erinnerungen des Udo Wieczoreks …
13 Hans Erhard Lauer wie Anm. 1, S. 260


Quelle und Kommentare hier:
https://fassadenkratzer.wordpress.com/2018/08/24/entwicklung-durch-wiederverkoerperung-des-menschen-eine-ignorierte-erkenntnis-deutschen-geistes/