A. Fursow – Die finalen 30 Jahre des Kapitalismus

Der zweite Teil einer Übersetzung eines Artikels von Prof. A. Fursow durch Artur (Quelle)

3.

Mitte / Ende der 1970er Jahre nahm für eine gewisse Zeit der zweite Ansatz Überhand, die Anhänger des ersten wichen von ihren Positionen zurück. Größtenteils (aber bei weitem nicht nur) war das eine Folge von Prozessen innerhalb der sowjetischen Gesellschaft und seiner Spitze. Faktisch gesehen war es in der zweiten Hälfte der 1960er die Absage des Sprungs in die Zukunft auf Basis des wissenschaftlich-technischen Progresses, welcher die Positionen bestimmter Segmente der Nomenklatur sowie der herrschenden Gruppe des systemischen Anti-Kapitalismus bedrohte; es gab einen Kampf innerhalb der sowjetischen Führung sowohl auf Klan-, als auch auf Behördenebene (vereinfacht gesagt: Segmente des KGB und der Armee gegen Segmente der KPdSU); die Erstarkung pro-westlicher („liberaler“, „pro-marktwirtschaftlicher“) Tendenzen und Gruppen in der sowjetischen Verwaltung vor dem Hintergrund des Abrutschens sozialistischer Methoden des Planens und Regierens einerseits, und dem Auftauchen von sowjetischen Straßenhändlern im Laufe der 1970er mit einer ausschließlichen Marktwirtschafts- und Konsumorientierung (das letztere war eine Reaktion auf die Krise offizieller Werte und der offiziellen Ideologie) andererseits. Das alles führte zum Auftauchen von Gruppen und Strukturen innerhalb der UdSSR, welche an kardinalen Veränderungen des Systems in eine (quasi-)kapitalistische Richtung interessiert waren.

Es geschah das, was L. Trotzki noch in den 1930er Jahren vorhersagte und wovor Stalin sich so in Acht nahm, als beide das Anwachsen des Klassenkampfes proportional zum Fortschritt des Sozialismus feststellten. Die Gruppen und Strukturen, welche erwähnt wurden, stellten objektiv gesehen Verbündete (Komplizen) der Stellvertreter der zweiten Herangehensweise der westlichen Machtspitze an die UdSSR dar. Und eine Reihe von Fehlern der sowjetischen Verwaltung und Zufälle, – ohne welche, so schrieb Marx, die Geschichte sehr mystischer Natur wäre, – zusammen mit einem bis ins Armselige niedrigen Niveau der spätsowjetischen Führung (man muss sich nur an Gorbatschow, Ryschkow, Schewardnadse und Krutschkowa erinnern) spielten eben jenen Kräften in die Hände und begruben dabei die Hoffnungen der Anhänger des ersten Ansatzes. „Schurken und Gesindel (und in der UdSSR auch noch die Idioten; die Idiotisierung der Machtelite der USA begann sofort nach dem Zerfall der UdSSR) der Spitzen des Westens und der UdSSR, vereinigt euch!“, so könnte die Losung des Clusters lauten, welcher das System und die UdSSR in den 1980ern zerstörte und auf diese Weise der Lebensverlängerung des Kapitalismus zuspielte.

Die Krise konnte aufgrund der Zerstörung und Ausraubung des Soz-Systems für gerade einmal zwei Jahrzehnte aufgeschoben werden. 2008 war sie mit dem Schritt eines Offiziers wieder da, dabei zeigend, dass die Dynamik, gestützt durch die Plünderung der Länder des ehemaligen Ostblocks und die damit zusammenhängende Druckausübung auf nun schutzlose, schwachentwickelte Länder, ausgeschöpft war. Übrigens, eben genau deswegen brauchte man die russländischen vier Jahre 2008-2012 [AdÜ.: Präsidentenamtszeit von Medwedew], welche mit ihren (zum Glück aus verschiedenen Gründen nicht realisierten) Projekten entsprechende Korrelationen zu Obamas Amtszeit hätten werden sollen; allerdings klappte es nicht und fiel letztendlich auch durch. Aufgrund einer zusammenhängenden Reihe gewisser Umstände, über welche hier zu reden den Rahmen sprengen würde, war Russland sogar in seinem ausgeraubt-zersplitterten Zustand, genauso wie in den 1920er Jahren (allerdings, nochmal, aus anderen Gründen), ein zu großer Brocken für das große System „Kapitalismus“, – ein sterbendes, aber deswegen noch lange nicht weniger, oder sogar gerade deswegen, gefährliches.

4.

Die Zeitlinie 2008-2014 trennt die auslaufende Phase der spätkapitalistischen Entwicklung auf eine evolutionäre (ungeachtet aller Kriege und Revolutionen) und auf eine revolutionäre – im Sinne einer terminalen, letalen, welche das Finale des Kapitalismus darstellen wird. Wenn man davon ausgeht, dass die vorangehenden Geschichtsepochen des kapitalistischen Systems 130 Jahre dauerten (plus-minus ein Jahrzehnt), so sollte logisch anzunehmen sein, dass das terminale Stadium noch 30 Jahre andauern wird, also bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts, und dass der „Austritt“ aus dem System ein Spiegelbild seines „Eintritts“ sein wird. Der „Eintritt“ in den Kapitalismus war der „erste Weltkrieg“, genauer gesagt der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), welcher sich prinzipiell sowohl von den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, als auch von den ihm darauffolgenden, globalen Siebenjährigen und Napoleonischen Kriegen unterscheidet. Es war ein mit Unterbrechungen 30 Jahre dauernder und über den gesamten europäischen Raum ausgebreiteter Konflikt. Im Grunde entstand in diesem eine ganze Gesellschaft in Militäruniform, dessen wichtigste Subjekte das Kapital und der Staat waren. Höchstwahrscheinlich werden die nächsten 30 Jahre auch durch Kriege gezeichnet; allerdings wird der Krieg nicht global im Sinne des 20. Jahrhunderts, sondern weltumfassend, und der Schauplatz kriegerischer Handlungen natürlich nicht auf Europa beschränkt sein. Eigentlich läuft bereits der Epochenkrieg des Weltuntergangs, allerdings nicht des allgemeinen, sondern des Untergangs der kapitalistischen Welt: der Nahe Osten (Syrien, Irak), Europa (östliche, also russische Ukraine), Nigeria. Ich denke, dass Brände bald auch woanders entstehen werden: in Zentralasien, in Westchina. Dazu noch der Konflikt zwischen Migranten und Westeuropäern, welcher sich weiter ausbreiten wird, – ist das etwa kein neuer Typus des Krieges? Normalerweise sind Eintritt und Austritt in dieses oder jenes System gespiegelt; nur nimmt der Eingang einen Rubel, wo der Ausgang zwei Rubel hergibt. Oder auch zehn.

Auf diese Weise stellt die Zeitzone 2008-2014, – dabei sowohl die gegenwärtige Phase der spätkapitalistischen Epoche abschließend, als auch die Epoche und die Phase in einen terminalen Zustand überführend, – ein Spiegelbild zur Periode 1962-1968 dar, einen Randbereich zwischen zwei Phasen innerhalb der eigentlichen spätkapitalistischen Epoche. Zwischen 1962 und 2014 (bzw. 1968 und 2004) lief das Leben einer ganzen Generation ab, sowohl bei uns, als auch überall auf der Welt, inklusive des Westens. Die letzten fünfzig Jahre sind eine Epoche enttäuschter Hoffnungen, wobei der Höhepunkt dieser Hoffnungen eben jene 1960er waren, Zeiten des unbegrenzten Optimismus, als im Westen, so schien es, der kapitalistische Traum realisiert wurde („der amerikanische Traum“, „das deutsche Wirtschaftswunder“, und andere), während in der UdSSR jeden Moment wenn schon nicht die Jefremow’sche Ära [AdÜ.: Iwan Jefremow, sowjetischer Science-Fiction-Autor] des Großen Ringes [AdÜ.: Kommunikationsgemeinschaft der Erde und außerirdischer Zivilisationen] oder, noch besser, die „Ära der sich treffenden Hände“ [AdÜ.: Beginn der interstellaren Erschließung und Erstkontakte], so doch etwas in der Art von der „Welt des Mittags“ [AdÜ.: Sci-Fi-Zyklus über eine interstellar forschende, kommunistische Menschheit] von A. und B. Strugazki beginnen sollte. Nichts davon wurde jemals Wirklichkeit: der sowjetische „Halbtags“- (bzw. Morgen-) Kommunismus, als „Vormittagsprogramm der Nomenklatur“ in die Geschichte eingehend, ist zerstört; der US-amerikanische Traum wurde geklaut; in Deutschland erfreuen sich diejenigen der Früchte des „deutschen Wirtschaftswunders“, welche im Dritten Reich als Untermenschen durchgegangen wären, und welche nun selber die Deutschen als Untermenschen ansehen, und die deutschen Frauen – als zur sexuellen Nutzung gebrauchsfertiges, wehrloses weißes Fleisch.

5.

Was geschah mit der Welt in den letzten 50 Jahren? Wie ging sie kaputt? Dieser Absturz erinnert an denjenigen 1875-1925, welchen der holländische Historiker J. Romijn eine „Wasserscheide“ nannte. Unsere „Wasserscheide“ endete 2008-2014, wonach die Welt in etwas gänzlich Unbekanntes eintrat; allerdings wurden die Karten der Geschichte, welche zu wilden Spielen, oder besser gesagt, zur wilden Jagd des 21. Jahrhunderts aufrufen, im vorangegangenen 50-Jahre-Zyklus verteilt. Die Karten sind verteilt, die Figuren oder, wenn man sich weiter der Terminologie des Spiels bedient, „die Spielsteine“ sind alle auf ihren Plätzen. Um die möglichen Entwicklungsvarianten der Ereignisse in den finalen 30 Jahren des Kapitalismus und des Westens als Zivilisation zu verstehen (hoffen wir, dass nur sie, und nicht die gesamte Weltzivilisation, Homo Sapiens und die Biosphäre betroffen sein werden), lohnt es sich zu schauen, wer, wie und welche Karten verteilt hat, welche „Spielsteine“ wo, wann und wie aufgestellt wurden.

Das alles ist auch aus folgendem Grund unerläßlich: der Soziologe B. Mur bemerkte einst: „Sollte es den Menschen der Zukunft bestimmt sein, irgendwann die Ketten der Gegenwart / der Wirklichkeit [AdÜ.: „цепи настоящего“ lässt sich mehrdeutig übersetzen] zu sprengen, werden sie die Kräfte verstehen lernen müssen, welche diese Ketten schiedeten“. Die Ketten, in welche bestimmte Kräfte versuchen die Menschheit im 21. Jahrhundert zu bannen, – diese Ketten sind unsichtbar und sogar auf gewisse Weise angenehm-narkotisch. Sie wurden vor langer Zeit geschmiedet, die Zeit des entscheidenden Beschlagens allerdings waren die letzten 50-60 Jahre. Eben hier liegt das Geheimnis der Koschtschei’schen Sterblichkeit [AdÜ.: „Koschtschei der Unsterbliche“ – Hexenmeister der russischen Mythologie, welcher seine Seele außerhalb seines Körpers aufbewahrte] der heutigen Herren des Weltspiels begraben.

Letztendlich stellt die heutige Situation, – eine Situation, in der eine Epoche, ein System dahingeht, fast fort ist, und die andere noch nicht angebrochen ist; wo die Welt (und wir mit ihr) ein Leben zwischen den Zeiten, zwischen den Systemen führt, welches andauernd der Gefahr des Absturzes in den Brunnen der Zeit bzw. in sein „schwarzes Loch“ ausgesetzt ist, – eine einmalige Möglichkeit des Lüftens der Geheimnisse der Vergangenheit, des Aufdeckens der Geheimnisse der Zukunft, und durch ihr Zusammenführen des Verstehens der anbrechenden Gegenwart dar. So schrieb darüber im „Zweiten Buch“ [AdÜ.: „Generation ohne Tränen. Erinnerungen.“] N. Mandelstam: „In der Periode des Gärens und des Verfalls wird der Sinn der kürzlichen Vergangenheit plötzlich klar erkennbar, da es noch nicht die Gleichgültigkeit der Zukunft gibt, die Argumentation des gestrigen Tages allerdings schon zerfallen ist, und die Lüge sich nun stark von der Wahrheit unterscheidet. Man muss Schlüsse ziehen, wenn die Epoche, welche in den Tiefen der Vergangenheit heranreifte und nun keine Zukunft hat, vollständig ausgeschöpft ist, die neue allerdings noch nicht begonnen hat. Dieser Moment wird fast immer nicht genutzt, und die Menschen gehen in die Zukunft, ohne die Vergangenheit bewusst verstanden zu haben.“

Wir dürfen diesen Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen; auch eben deshalb sollte man heute aufmerksam auf die Welt der 1960er – 2010er Jahre als Ganzes schauen, und auf deren regionale und kulturhistorische Blöcke:

die UdSSR / Russländische Föderation bzw. das historische Russland, völlig gleich, wie es heißt und in welch miserablem Zustand es sich befindet;

die Anglosphäre;

die Germanosphäre;

die Romanosphäre (inklusive des Vatikan);

Osteuropa;

die arabische Welt;

der Mittlere Osten und Zentralasien („Iran und Turan“);

Süd- und Südostasien

Ostasien

Afrika südlich der Sahara;

Lateinamerika.

Es geht hier nicht um eine genaue und hochspezialisierte Sicht auf die Welt und ihre Bestandteile, sondern um das, was A. Asimow [AdÜ.: russischer Biochemiker und Sci-Fi-Autor] „die Übersicht“ nannte. Asimow schrieb über den Nutzen, auf den Garten der Wissenschaften wie aus einem Heißluftballon herunterzuschauen. Jede Vielfältigkeit verschwindet dabei, doch verbleiben dabei, so der bekannte Wissenschaftler und Fantast, „andere, besondere Vorteile: wenn ich auf den Garten aus einer Höhe schaue, so erblickt man von Zeit zu Zeit… ein erkennbares Fragment der Komposition, welches auf der Erde möglicherweise nicht erkennbar gewesen wäre“. Ich denke, dass ist das beste Mittel, um sich eine Übersicht der Welt zu verschaffen, der es bestimmt ist, in den nächsten 30 Jahren zu verschwinden. Damit diese jedoch so verschwindet, wie es uns, den Russen, nützlich ist, und um nicht zusammen mit ihr zu verschwinden, brauchen wir eine reale Karte der Welt, – die Basis dafür, was K. Polanyi [AdÜ.: österreichisch-ungarischer Wirtschaftswissenschaftler] die „sinistre intellektuelle Überlegenheit“ nannte.

Diejenigen, welche A. E. Edrichin-Vandam unsere „globalen Eroberer und unsere Lebensrivalen“ nannte, die Briten und die US-Amerikaner, verlieren anscheinend keine Zeit. Unter anderem haben anglo-amerikanische Geheimdienste und die Geschichtsfakultäten einiger starker Universitäten der Anglosphäre damit begonnen, Historiker neuen Profils vorzubereiten; im Grunde ist das die Schaffung neuer Berufe im Bereich der Geschichtsforschung (die Schule der Geschichtsfakultäten Oxfords, Cambridges und Darhams wurde generell von der Mehrheit der britischen Regierungselite absolviert) und der aufklärungsanalytischen Beschäftigung. Erstens ist das die Profession eines Systemhistorikers, eines Spezialisten für historische Systeme, und folglich auch für ihre Unterwanderung und Zerstörung oder auch andersherum, ihren Schutz; der heutige Interessenanstieg zur imperialen Problematik ist durchaus kein Zufall. Zweitens ist da die Profession des „Entdeckerhistorikers“ (investigative historian). Wenn der „Systemling“ in erster Linie ein Theoretiker ist, so arbeitet der „Entdecker“ auf der Ebene der empirischen Verallgemeinerungen, dabei die Gesamtheit der indirekten Zeugnisse analysierend und aktiv die historischen Prozesse mithilfe der Analyse von Big Data lesend.

Die nächsten 30 Jahren werden ohne Frage ähnlich eines Sprungs in die Dunkelheit oder, man erinnere sich an die berühmte russische Geschichte [AdÜ.: „Конёк-Горбунок“ – „das Buckelpferdchen“ von P. Jerschow], in einen Kessel mit kochendem Wasser sein. Und bei weitem nicht alle werden aus diesem wieder als gute Jungspunde entspringen, unter lauten Rufen: „Was für ein Wunder! … / Wer hätte sich vorstellen können, / Dass man sich derart verjüngern kann!“. Dem Großteil der „Springer“ ist höchstwahrscheinlich ein anderes Schicksal beschieden: „Plansch, in den Kessel – und dort gekocht…“. Um eben nicht gekocht zu werden, um die Temperatur im Kessel zu kennen, oder noch besser, um sie zu regulieren, braucht man die „sinistre intellektuelle Überlegenheit“, deren Fundament eine reales Bild der Welt und des eigenen Landes ist. Zudem ist es sicherlich keine Sünde, sich der letzten Erkenntnisse der ausländischen „Systemlinge“ und „Entdecker“ zu bedienen; solche Möglichkeiten bestehen. Über die Tschechen steht bei K. Leontjew [AdÜ.: russischer Schriftsteller]: eine Waffe, welche die Slawen von den Deutschen eroberten und gegen sie selbst richteten. Ein richtiger Schachzug, vor allem, wenn es um die Frage der Sicherheit geht – der staatlichen, der psychohistorischen und der zivilisatorischen.

6.

Es wäre logisch, mit Russland zu beginnen, aber wir haben schon viel zu diesem Thema gesprochen. Deshalb beginnen wir mit der Anglosphäre, mit ihrem amerikanischem Teil, den USA. Also mit denen, welche man hier bei uns verlegen „Partner“ nennt, mit welche aber uns ohne jegliche Scham als „Gegner“ und „Bedrohung“ bezeichnen, und ähnliches. Nun, enttäuschen wir lieber nicht unsere „Partner“, sie wissen es ja in diesem Fall (aber nur in diesem Fall!) offensichtlich besser. Wie d’Artagnan in einem Gespräch mit dem Kardinal Richelieu [AdÜ.: in „Die drei Musketiere“ von A. Dumas] bemerkte, sei der Höchste derart mächtig, dass es gleich ehrenvoll sei, sein Freund oder sein Feind zu sein. Ehrlich gesagt ist das heutige US-Amerika bei weitem nicht mehr so machtvoll wie in den 1950ern / 1960ern oder sogar wie in den 1990er Jahren, als Russland besonders schwach war; das Prinzip bleibt jedoch erhalten, zumal die Russländische Föderation auch bei weitem nicht mehr die UdSSR ist.

Nun gut, wir fangen also mit Amerika an. Dabei ist für uns im aktuellen Kontext wichtig, was die US-Amerikaner (und auch die Westeuropäer) über sich selbst schreiben, was ihr empirisches Material ist. Das Recht auf Verallgemeinerungen und Interpretationen behalten wir uns vor.

Es macht Sinn, anderthalb Dutzend nützlicher Bücher in die Hand zu nehmen und durch ihr Prisma (oder aus ihrer Übersicht) auf die US-amerikanische Gesellschaft des letzten halben Jahrhunderts zu schauen. Ich möchte dabei ein paar Bücher hervorheben, welche seriöse, wissenschaftliche Studien oder ernsthafte, unengagierte Publizistik darstellen, zur selben Zeit jedoch auch Bestseller wurden. Das sind „Das Auseinandergehen. Der Zustand des Weißen Amerika, 1960-2010“ von Ch. Murray (Murray Ch. Coming Apart. The State of White America, 1960–2010. N.Y., 2013); „Amerika als Dritte Welt“ von A. Huffington (Huffington A. Third World America. N.Y., 2011); „Amerika der Dunkelalter. Die finale Phase des Imperiums“ von M. Berman (Berman M. Dark Ages America: The Final Phase of Empire. N.Y., L., 2007); „Generation Soziopath. Wie die Baby-Boomer Amerika verrieten“ von B. Cannon-Gibney (Cannon-Gibney B. A Generation of Sociopaths. How the Baby Boomers Betrayed America. N.Y., Boston, 2017); „Der Aufstieg und Fall des amerikanischen Wachstums. Der amerikanische Lebensstandard seit den Zeiten des Bürgerkriegs“ von R. Gordon (Gordon R.J. The Rise and Fall of America Growth: The U.S. Standard of Living since the Civil War. Princeton, 2016); der Bestseller „Wer klaute den amerikanischen Traum?“ von H. Smith (Smith H. Who Stole the American Dream? N.Y., 2012); „Trauriges Amerika. Das wahre Gesicht des USA“ des Franzosen M. Floquet (Floquet M. Triste Amérique. Le vrai visage des États-Unis. P., 2016) – es ist offensichtlich, dass Floquet hier den Titel des berühmten Buches „Traurige Tropen“ des Sozioanthropologen C. Lévi-Strauss, dieses Indien und Brasilien gewidmet, parodiert.

Also, uns erwartet ein Amerika, – eben jenes, über welches „Nautilus Pompilius“ [AdÜ.: sowjetische Rockgruppe] vor langer Zeit in seinem „Good bye America, oh, wo ich werde niemals sein“ sang. „Wo ich werde niemals sein“, weil dieses Amerika, welches die sowjetische Einbildung zeichnete, überhaupt niemals existiert hat, und das real existierende Amerika der 1980er / 1990er Jahre unwiederbringlich verschwunden ist. Nachdem ich 2007 in Amerika gewesen bin, – nach einer fünfzehnjährigen Pause, – habe ich deutlich gefühlt und verstanden, dass ich in einem anderen Land gelandet bin, als in dem, welches ich 1993 besucht habe (und nochmal ganz anders, welches ich 1990 besuchte). Übrigens, auch die Russländische Föderation des Jahres 2007 ist eine völlig andere Welt, als die RF 1993. Umso interessanter ist der Blick auf die Metamorphosen und der Versuch des Verstehens ihrer Gründe. Churchill irrte sich nicht, als er behauptete, wie wichtig und interessant alles ist, was in der Welt geschieht. Besonders, wenn diese Welt die letzten Zölle vor der Ziellinie hinkt und vor unseren Augen knirscht wie eine leere Nussschale, und bösartige Nussknacker sich auch weiterhin bemühen, diese endlich zu zerbeißen. Man schaut auf sie und erinnert sich an die Phrase Lew Sadows in der brillianten Verkörperung durch den Schauspieler W. Belokurow im Dreiteiler „Leidensweg“: „Versteck deine Zähne – oder ich reiß’ sie aus!“ Eine der Aufgaben zur Sicherstellung der staatlichen psychohistorischen Sicherheit ist das rechtzeitige Rausreißen der Zähne der Wolfshunde, dabei der klassischen Antwort auf die Frage zuvorkommend, warum sie solch große Reißzähne haben.


Quelle und Kommentare hier:
http://vineyardsaker.de/2018/02/28/a-fursow-die-finalen-30-jahre-des-kapitalismus/