7. Januar 1954: Zehn Richter korrigieren die deutsche Geschichte

Aus der „ZEIT“ vom 7. Januar 1954

Von W. Fredericia

Kann man aus einer Nation austreten? Oder auch nur den geschichtlichen Zusammenhang zerreißen, in dem die Nation sich in der Form des Staates durch die Jahrhunderte darstellt?

So möchte man fragen, wenn man das Urteil liest, mit dem das Bundesverfassungsgericht einen Block von Verfassungsbeschwerden sogenannter 131er zurückgewiesen hat. Denn in der Begründung trägt das Gericht, ohne zunächst auf die Rechtsstellung dieser durch den Zusammenbruch des Jahres 1945 um ihre Positionen gebrachten Beamten einzugehen, nach Kräften alle greifbaren Argumente zusammen, um den Nachweis zu führen, daß der deutsche Staat am 8. Mai 1945 zu bestehen aufgehört habe.

Das Bundesverfassungsgericht weicht zwar einer konkreten Formulierung dieser Auffassung aus. Es bringt sie nicht in der richterlichen Sprachform und nicht in der Form einer Entscheidung: es sagt nicht ausdrücklich, daß der deutsche Staat am Tage der Kapitulation verschwunden sei, aber es läßt keinen Zweifel daran, daß es dieser Ansicht ist.

„… auch wenn man … das Weiterbestehen eines zunächst nur seiner Handlungsfähigkeit beraubten Deutschen Reiches annimmt…“, so heißt es in der Begründung.

Welch ein Bedingungssatz! Er folgt auf eine Anzahl von Gründen, mit denen das Aufhören der deutschen staatlichen Existenz nachgewiesen werden soll: Und welche Argumente zieht das Bundesverfassungsgericht heran, um diesen Nachweis zu führen?

Vor allem das Verhalten der Alliierten,

„das nur von der Annahme aus erklärbar ist, daß jede deutsche Staatsgewalt erloschen sei“.

Sogar eine Deklaration der Besatzungsgenerale aus dem sowjetischen Hauptquartier vom Juni 1945 befindet sich unter dem Beweismaterial. Soll so etwas jetzt Rechtsquelle deutscher Gerichte werden, obwohl wir bestimmt nicht die Teilhaber, sondern nur die Opfer derartiger, allerdings zur Vernichtung Deutschlands erdachter Dokumente waren?

Daß die Frage schließlich formell doch nicht entschieden wird, begründet das Gericht damit, es sei im Beamtenrecht-Ausschuß des Bundestages keine einhellige Meinung erzielt worden, ob der Bund Rechtsnachfolger des Reiches sei. Wie dem auch sein mag –: die Öffentlichkeit würde, bei allem schuldigen Respekt, dem Beamtenrechts-Ausschuß sowieso schwerlich die Kompetenz zusprechen, eine solche Frage zu verneinen.

Vielleicht ist es noch ein Glück, daß das Gericht in dieser Hinsicht nur argumentiert und nicht entschieden hat. Doch ist auch das schon schlimm genug. Denn wie soll der Bund Rechte aus der Rechtsnachfolgeschaft des Reiches geltend machen, wenn sein höchstes Gericht selbst die Argumentationen dagegen zusammenträgt!

Die Karlsruher Richter werden sagen, sie hätten nur Argumente erwähnt, zum Beispiel Besatzungsanweisungen wiedergegeben oder einen Staatsrechtslehrer zitiert. Aber es ist ein großer Unterschied, ob der Professor Kelsen, dessen Sympathien jedenfalls nicht bei der Bundesrepublik liegen, seine Vernichtungsthese in einer amerikanischen Zeitschrift publiziert oder ob das deutsche Verfassungsgericht diese Argumente in seine Urteilsbegründung übernimmt!

Mit welchem Recht kümmert sich die Bundesregierung um die Oder-Neiße-Linie – so werden wir gefragt werden –, wenn der Bund nicht der Rechtsnachfolger des Reiches, sondern eine Neugründung ist?

Oder: Was interessiert sich eigentlich die Bundesrepublik für das Saargebiet?

Oder: Was hatten, seit 1945, die Finanzämter nach Steuerrückständen aus den vorangegangenen Jahren zu schnüffeln?

Haben die zehn Karlsruher Richter alle ihre Argumente gegen die Kontinuität des Deutschen Staates zu Papier gebracht, weil sie gar so unpolitische Nur-Juristen sind? Als Nur-Juristen hätten sie sich wohl mit dieser Fragen deren klarer Beantwortung sie dann doch ausgewichen sind, gar nicht beschäftigt. Wollten sie also Politik machen oder gar – Geschichte? Die Geschichte wird zuletzt nicht von Männern und auch nicht von Institutionen gemacht, sie ist ein Prozeß. Ein Prozeß, den kein Gericht entscheiden kann.

Nicht weniger anfechtbar wird die Begründung den meisten in jenen Punkten erscheinen, wo sie sich mit dem Thema der Verfassungsbeschwerden, nämlich mit der Rechtsstellung der Beamten, befaßt. Das Gericht argumentiert, daß

„die zum Deutschen Reich bestehenden Beamtenverhältnisse mit dem Zusammenbruch von selbst erloschen“ seien.

Das heißt: alle Beamtenverhältnisse, ob es sich nun um Nazis handelt oder um Antifaschisten, um Christen oder Juden, um Ministerialdirektoren oder Briefträger. Im Hitler-Reich, so meint das Gericht, sei das Beamtenverhältnis durch die Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung ausgehöhlt, ja beseitigt worden.

Der Beamte sei daher nicht mehr dem Staat, sondern Hitler und der nationalsozialistischen Partei verpflichtet gewesen, und ein auf solcher Rechtspflicht beruhendes Rechtsverhältnis verliere seine entscheidende Grundlage, wenn der Staat der ihn beherrschenden Partei befreit und die Partei selbst für illegal erklärt wird.

Damit wird beispielsweise behauptet, daß, wenn ein Arbeitgeber durch Gewalt und Erpressung seinem Arbeitnehmer zusätzliche Verpflichtungen auflädt, das Vertragsverhältnis ausgehöhlt wird und dadurch zum Schaden des Arbeitnehmers erlischt, der daraufhin seine vertraglichen Ansprüche gegen den erpresserischen Arbeitgeber und seinen Rechtsnachfolger nicht mehr geltend machen kann.

Auch hier sucht das Bundesverfassungsgericht alle möglichen Verfügungen der Besatzungsmächte zusammen, ohne zu bedenken, daß die Eingriffe eines einrückenden Okkupationsheeres ihrer Natur nach Gewaltakte sind. Sie müssen zwar, insofern ein genügender Zwang dahinter steht, anerkannt werden, sind aber doch in keiner Weise zur Interpretation der Rechtsverhältnisse zwischen dem okkupierten Staat und seinen Bürgern geeignet.

Warum also zerbrechen sich deutsche Richter den Kopf darüber, ob es wohl der Wille des alliierten Oberbefehlshabers war, daß das Wort removal mit „Entfernung“ oder mit „Entlassung“ zu übersetzen sei, wenn sogar die Besatzungsbehörden selbst sich damit begnügten, daß die betroffenen Beamten zeitweise ihren Dienst nicht ausübten.

Es kann doch bei der Beurteilung der Besatzungsanweisungen von 1945 und 1946 nicht unberücksichtigt gelassen werden, daß die Besatzungsmächte keineswegs mit der Absicht des Aufbaues, sondern eben mit der Absicht der Zerstörung nach Deutschland kamen. Erst später änderte sich diese Tendenz, als sich neue internationale Frontenbildungen ergeben hatten. Ganz abgesehen davon ist der Versuch, die Besatzungsanweisungen über Beamtenentlassungen zur Interpretation heranzuziehen, auch in sich unlogisch. Denn daß die Beamtenverhältnisse sämtlich mit der Kapitulation „von selbst“ erloschen seien, kann nicht dadurch bewiesen werden, daß die Besatzungsmächte hinterher Entlassungen angeordnet haben. Was können diese Anordnungen zur Entstehung eines Zustandes beitragen, der vorher schon bestanden hat?

Auf Grund solcher Argumentationen schließt das Bundesverfassungsgericht, im Gegensatz zur gesamten übrigen Rechtssprechung einschließlich der des Bundesgerichtshofes, daß 1945 alle Beamtenverhältnisse beendet waren, daß somit alle nachher bestehenden Beamtenverhältnisse neu geschaffen sind – ebenso via facti und ohne Rechtsakt, wie sie vorher via facti beendet wurden – und daß der Artikel 131 des Grundgesetzes nichts als ein nobler Fürsorgeakt sei, mit dem die Bundesrepublik den 1945 nicht weiter beschäftigten Beamten eine Art Gnadenpension gewähre. Heißt das nicht so viel wie: Über Gnade kann man nicht streiten, und deshalb haben die 131er mit dem zufrieden zu sein, was ihnen zugebilligt worden ist…?

Es ist uns nicht bekannt, um welchen Betrag es sich bei den 131ern handelt, welche Mittel also der Bund aufbringen müßte, wenn das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Beschwerdeführer entschieden hätte. Allein zu der Rechtsfrage, die zu beantworten war, kann die Höhe dieser Summen nichts beitragen. Dies geht den Gesetzgeber an; seiner Entscheidung müssen sich die 131er fügen, wenn sein Gesetz nicht verfassungswidrig ist.

Wichtiger aber als die materiellen Folgen können die moralischen Folgen eines solchen Urteils sein. Zwar kann man sich auf den Standpunkt stellen, daß die Beamten, auf die es ankommt, im Dienst sind und infolgedessen durch die Entscheidung wie durch die Argumente des Gerichtes unmittelbar nicht betroffen werden.

Man kann aber auch der Meinung sein, daß die Leichtigkeit, mit der hier die Rechtsstellung sämtlicher Beamten eines großen Landes einfach als durch Ereignisse oder durch Eingriffe von außen beendet erklärt wird, den moralischen Konsolidierungsprozeß empfindlich stören muß, in den unser schließlich aus Beamten bestehender Staatsapparat in den letzten Jahren eingetreten ist.

Und daß sich die Jüngeren unter uns, die vielleicht demnächst wieder die Kasernen bevölkern sollen, fragen werden, wem eigentlich ihre Loyalität gehören soll, wenn sie in eine Nation hineingeboren sind, deren Staat bald vorhanden ist und bald nicht, und dessen Identität die Gerichte leugnen, wenn er wieder zum Vorschein kommt. W. Fredericia


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