Vom Mangelwesen zum Übermenschen

Der Mensch als Mangelwesen

Wir sagten, dass der Mensch ein Teil der Natur ist, doch ahnt jeder, dass es etwas gibt, das den Menschen vom Rest des Tierreichs abhebt. Der deutsche Philosoph und Anthropologe Arnold Gehlen widmete sich in seinem Buch Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt eingehend dieser Frage und es wäre unmöglich seine Ausführungen hier in Gänze wiederzugeben. Stattdessen wollen wir uns einen Teilaspekt seiner These herausgreifen, die für das hier diskutierte Thema von besonderem Interesse ist. Es handelt sich dabei um die Auffassung des Menschen als Mangelwesen.

Der „Mangel“ des Menschen ist nach Gehlen seine Unterlegenheit im Vergleich zu den meisten Tieren. Fast jedes Raubtier kann ihn schwer verletzen oder töten. Er besitzt kein Fell, das ihm vor dem Wetter schützt, keine Augen, die im Dunkeln sehen und die ersten Jahre seines Lebens ist er fast vollständig auf andere Menschen angewiesen. Selbst seine nächsten Verwandten, die Menschenaffen, sind ihm, wenn es um diese Dinge geht, haushoch überlegen. Auch verfügt der Mensch über keine besonderen Fähigkeiten, die ihm das Überleben vereinfachen könnten. Er kann weder fliegen, noch besonders lange im Wasser auskommen oder sich wie ein Chamäleon tarnen. Weiter kommt der Mensch nur mit den rudimentärsten Instinkten auf die Welt, doch vom Überleben weiß er nichts. Tiere sind dagegen schon bei Geburt an fast fertig. Sie kennen ihre Feinde, was sie fressen können und auch was nicht. Ihre Instinkte decken praktisch die gesamte Bandbreite ihrer „Aufgabe“ in dieser Welt ab. Der Mensch kennt seine Aufgabe nicht und genau aus diesem Grund nennt Gehlen den Menschen auch das unbestimmte Wesen“.

So unspezialisiert, d.h. schwach, er in einer einzigen Disziplin sein mag, so vielseitig ist er und genau dies ist ein Vorteil. Ein Tier kann sich zwar fast immer auf seine Instinkte verlassen, doch kann es nie über diese hinauswachsen. Es wird immer nur das sein, als was es geboren wurde. Die geistige wie körperliche Offenheit des Menschen erlaubt es ihm dagegen, fast alles zu erlernen und sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Diese Flexibilität erlaubt es jedoch nicht nur, sich an neue Umstände vor Ort anzupassen, sondern auch völlig neue Orte zu besiedeln. Wo Tiere meist auf eine, mal mehr, mal weniger, spezifische geografische und klimatische Region begrenzt sind, an deren Gegebenheiten sie bestens angepasst sind, konnte der Mensch den ganzen Planeten, von den Wüsten Afrikas bis zu den Eiskappen des Norden besiedeln. Um in jeder dieser unterschiedlichen Regionen zu überleben, entwickelte der Mensch eine Reihe besonderer Fähigkeiten und vor allem Kulturen, denn diese sind nach Gehlen der eigentliche angestammte Lebensraum des Menschen.

Diese Beziehung geht jedoch nicht nur in eine Richtung, d.h. der Mensch formt zwar seine Kultur, aber die Kultur formt auch den Menschen, und zwar nicht nur das Individuum im Geistigen, sondern auch das ganze Volk auf biologischer Ebene. Der Grund hierfür ist, dass der Lebensraum Kultur so wie die Natur einen Selektionsdruck auf die in ihr lebende Population ausübt, der bestimmte Eigenschaften bestraft, andere belohnt und damit die Evolution der Population steuert.

So sind heute beispielsweise Aggression, ein Hang zur Gewalt und einige andere klassisch männliche Eigenschaften in fast allen Bereichen und besonders in der Arbeitswelt völlig fehl am Platz und werden nicht geduldet, jedoch nicht, weil irgendjemand dies so entschieden hätte, sondern weil die Struktur unserer Gesellschaft es so verlangt. Dies ist mit ein Grund dafür, dass Frauen und Mädchen in gewisser Weise das männliche Geschlecht in den westlichen Ländern zu überholen beginnen. Dies ist besonders in der jetzigen Generation zu sehen, in der es eine wachsende Gruppe junger Männer gibt, die meinen die Gesellschaft hätte ihnen nichts zu bieten und wolle sie auch nicht haben, was sich unter anderem in schlechten schulischen Leistungen und dem Fehlen jeglicher Zukunftsperspektive zeigt. In Europa ist dieses Phänomen noch relativ unbekannt, in den USA spricht man jedoch schon von einer Krise der Männlichkeit (crisis of masculinity). In Japan findet man eine ähnliche Entwicklung, wo man für diesen Typ Mann schon einen eigenen Begriff geprägt hat: Hikikomori („sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“). Ein anderer, auch im Westen verbreiteter, Begriff ist NEET (Not in Education, Employment or Training dt: nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung). Feminismus und die Verweiblichung des Schulsystems mögen daran nicht ganz unschuldig sein, aber nichtsdestotrotz sind Friedfertigkeit und soziale Kompetenzen, Dinge über die Frauen im Allgemeinen eher verfügen als Männer, von großem Vorteil. Unsere Gesellschaft selektiert damit Menschen auf diese eher weiblichen Eigenschaften, wodurch zukünftige Generationen verstärkt über diese verfügen werden.

Haben wir den möglichen Effekt, den diese Selektion haben kann, identifiziert, ist damit jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob dieser nun gut oder schlecht ist und wie mit ihm umzugehen ist. Zunächst gilt es noch einmal klar zu sagen, dass eine Selektion in diesem Sinne eine Anpassung und Optimierung auf die Gegebenheiten der Gesellschaft darstellt. Gegen eine Optimierung ist grundsätzlich nichts zu sagen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, daß die Fitness eines Kandidaten, welche seine Chancen bestimmt Nachkommen in die nächste Generation weiterzugeben (Selektion), nicht alle wünschenswerten Aspekte des Kandidaten berücksichtigt. Fitness im evolutionären Sinne bedeutet die Fähigkeit Nachkommen zu zeugen und läuft in unsere Gesellschaft meist darauf hinaus, über die finanziellen Mittel zu verfügen, um Kinder zu versorgen. Finanzieller Erfolg ist wiederum ein Resultat des Werts, den eine Person für die Gesellschaft darstellt, wobei in der heutigen Zeit abstrakte Intelligenz an der Spitze steht, da die Wirtschaft nach ihr verlangt. Dies wird durch die Rolle der Wirtschaft in einem kapitalistischen System weiter verstärkt, und zwar so weit, dass der Wert des Menschen allein an seinem Nutzen für dieses gemessen wird. Andere Aspekte des Menschen kommen dagegen weit weniger zum Tragen und bestimmte, eigentlich positive Eigenschaften, können sogar zu einem Nachteil werden. In Gesellschaften mit einem Sozialsystem wird dies teilweise aufgeweicht und heute sehen wir eher das Gegenteil, dass nämlich die am unteren Ende der Gesellschaft mehr Kinder zeugen, als die an der Spitze. Warum dies so ist, sei an dieser Stelle nicht von Bedeutung, wir wollen hierzu nur festhalten, dass auch dadurch die Fitness eines Menschen beeinflusst wird. Dies geht so weit, dass Menschen, die in früheren Zeiten aufgrund körperlicher oder geistiger Schwächen nicht lebensfähig gewesen wären, heute ihre Gene dank staatlicher Hilfen weitergeben können. Bei diesen Schwächen muss es sich noch nicht einmal um offensichtliche Behinderungen handeln, sondern kann sich auch aus einer relativen Minderwertigkeit im Vergleich zu anderen ergeben, die in Zeiten hohen Konkurrenzdrucks innerhalb der Population zu einer Nichtselektion bestimme Eigenschaften geführt hätte.

Beim Vermerk auf die Rolle des Kapitalismus wurde schon angedeutet, dass die Fitness einer Person sehr einseitig ausfallen kann, womit sich die Frage stellt, welche Eigenschaften an einem Menschen wünschenswert sind. Wer jetzt schon eine Liste im Kopf parat hat, sollte kurz innehalten, denn die Frage ist schwieriger als die auf den ersten Blick scheint. Um die Problematik zu verdeutlichen, greifen wir an dieser Stelle auf einen Gegensatz zurück, denn Jack Donovan in The Way of Men darlegte. Donovan unterschied in seinem Buch zwischen Guten Männer und Männern, die gut darin sind Männer zu sein. Erstere sind all jene, welche nach der bürgerlichen Moral als gut oder anständig gelten. Sie sind freundlich, rücksichtsvoll und so weiter. Letztere sind dagegen die Vertreter einer archaischen Männlichkeit, die es nicht interessiert über wie viele Leichen sie, manchmal buchstäblich, gehen müssen, um an ihr Ziel zu kommen. Betrachtet man sich nun den Zustand des männlichen Geschlechts im gesamten Westen, wird sehr schnell klar, dass unter gewissen Umständen mehr archaisches und weniger bürgerliches Denken und vor allem Handeln angebracht wäre. Anders gesagt, die Umstände bestimmen, welcher der beiden Handlungsmodi zu bevorzugen ist. Bürgerlich gute Charaktereigenschaften sind im Alltag einer hinreichend abgesicherten Zivilisation konstruktiv, während Männer gröberen Charakters gefragt sind, wenn diese in Gefahr ist. Umgekehrt können Männer, die Gefallen an Konflikt und Streit finden, im Alltag zu einem Problem werden, Teile der Insassen unserer Gefängnisse und besonders Hooligans dienen hier als Beispiel.

Der Idealfall wäre natürlich beide Tendenzen in einer Person zu vereinen, was, trotz der scheinbaren Gegensätzlichkeit, sogar eher die Norm, als die Ausnahme, darstellt. Welche der beiden Seiten dominant werden, hängt am Ende von unterschiedlichen Faktoren wie der Erziehung und den äußeren Umständen ab.

Obwohl die Kombination beider Seiten zu einer Abschwächung extremer Charakterzüge führt, heißt dies nicht, dass die oben erwähnten Probleme nicht mehr bestehen. Anstatt mit disjunkten Bevölkerungsgruppen, hat man es nun mit in derselben Person verordneten unterschiedlichen Bedürfnissen und Veranlagungen zu tun. Auch in diesem Fall müssen die sich hieraus ergebenden Tendenzen in der Form bedient werden, dass sie auf eine für die Gesellschaft unschädliche oder gar hilfreiche Weise ausgelebt werden. Die Folgen, wenn man versucht trieblich bedingtes Verhalten mit allen Mitteln zu unterdrücken, streiften wir schon, als wir davon sprachen, dass man in unsere Erziehungseinrichtungen heute versucht Jungen ihre Aggressivität abzuerziehen. Was man dagegen tun sollte und in besseren Zeiten auch tat, ist es die Energie und die Lust am Wettstreit in konstruktive Bahnen zu lenken. Das naheliegendste Beispiel wäre Sport, aber auch wettreitorientierte intellektuelle Aktivitäten erfüllen einen ähnlichen Effekt. Analog dazu müssen Möglichkeiten dieser Art für diejenigen geschaffen werden, deren Charakterzüge zu einem der beiden Extreme neigen.

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Quelle und Kommentare hier:
https://der-dritte-weg.info/2018/10/vom-mangelwesen-zum-uebermenschen-teil-1-4/