Gläsern war gestern

von frank jordan

Ist das Amüsement, das einen allmorgendlich beim Eintippen des persönlichen Passworts zum Starten des eigenen Laptops streift, begründet?

Oder die Belustigung beim Einloggen in soziale Netzwerke, E-Mail-Accounts, Abonnemets-Bereiche und Bank-Konten, die schon mal in frenetische Heiterkeit kippt, wenn das Programm einen auffordert, zum Schutz der Privatsphäre ein paar persönliche Fragen zu beantworten oder die Handy-Nummer zu hinterlegen?

Ist das Bild von der kleinen und x-fach gesicherten Vordertür des Hauses, das hinten keine Fassade, geschweige den Türen oder Schlösser hat, bloss Metapher gewordene Paranoia? Oder die Idee, dass hier dieselbe Masche abgezogen wird, die die Politik längst perfektioniert hat: Wo vorne für die IT-mässigen Stammesdeppen eine angegriechelte Demokratie-Show abgezogen wird, während die Entscheidungen ganz woanders längst in die Umsetzungsphase überführt worden sind?

Ja – die Belustigung ist Begründet. Und nein – es ist nicht paranoid. Das „Ob“ heute noch als Leerstelle oder weissen Fleck zu sehen ist Naivität. Spätestens in dem Moment, in dem der Mitarbeiter des technischen Diensts des Providers am Telefon die Worte „Ich übernehme jetzt“ äussert, worauf auf dem eigenen Bildschirm das scheinbare Chaos ausbricht, sollte dies klar sein.

Die Fragen sind: „Wer kann es?“ und „Wer kann es bezahlen?“. Interesse haben sie alle. Natürlich schätzt auch der Schreibende in Bezug auf materielle und ideelle Vermögenswerte die Schlösser an der Vordertür, die verhindern, dass der Nachbar nach Belieben zugreifen kann. Aber der Nachbar ist in jedem Fall das kleinere Übel. Wenn, dann ist er nicht am Individuum, sondern höchstens an dessen Gut interessiert.

Nicht so die den Nutzer vorgeblich schützende Institution und schon gar nicht eine Obrigkeit, die sich mittels freihändiger Interpretation von Gesetzen oder auch schlicht durch Erpressung ins gemachte Datenbett der von ihr abhängigen Versorgungsindustrie legt. Die Logik dahinter: was öffentlich ist, ist kontrollier- und manipulierbar, verhindert das Überraschungsmoment, stellt keine Bedrohung dar.

Zwangsweise Offenlegung der Einkommens- und Vermögenssituation mittels Steuererklärung, Kreditkarten, Smart-Phones, Millionen von Apps, Gesundheits-Karte, Kunden-Karte, GPS, Stom- und Wasserrechnung, Heimnetzwerke.

Wir sind längst gläsern!

Konsum- und Kommunkations-Verhalten liegen offen, physische und mentale Gesundheit sind ebenso bekannt wie die bevorzugten Informationsquellen, die Auskunft geben über Werte, Gedankengut und Szenen.

Dass wir dabei als willige Handlanger fungieren, zeigt sehr schön ein Beispiel aus der Schweiz: Anfang 2014 lancierte der Schweizer Provider UPC Cablecom das Pilotprojekt Wi-Free in Sankt Gallen. 11’000 Kunden stellten mittels ihrer privaten Modems automatisch ein Gast-Netzwerk zur Verfügung, das alle anderen Kunden mitnutzen konnten. Das Update der privaten Modems erfolgte automatisch und durch den Provider. Mitmachen konnte jeder, der ein Wlan-fähiges Modem im Einsatz hatte.

Von Mitmachen ist indes heute, zweieinhalb Jahre später, nicht mehr die Rede. Cablecom-Kunden müssen heute schweizweit ihre alten Modems gegen Wlan-fähige Exemplare austauschen, das Update wird in diesen Tagen automatisch installiert. Wer nicht mitmachen will, muss sich schriftlich beim Provider abmelden. Die Tatsache, dass dies nur sehr wenige tun bestätigt die Aussage von Cablecom, wonach die Dienstleistung dem Wunsch der Kunden entspreche. Ausserdem streift einen der Gedanke, dass eine explizit geäusserte Weigerung der Verfügbarmachung des eigenen Modems einer Selbst-Denunziation gleichkommen könnte.

Man mag davon halten was man will. Indes – Glas ist immer noch Feststoff und in dieser Eigenschaft eine Art Schutz. Eine trennende Schicht. Und es ist keine grosse „antifaschistische“ Kompetenz vonnöten um konsequenterweise auf den obrigkeitlichen Wunsch nach totaler Entglasung zur Berechenbarmachung des Einzelnen zu kommen. Auch sie läuft. Seit Jahrzehnten. Auch sie wird von einer Mehrheit der Menschen als positiv bewertet und durchgesetzt. Sie ist in der praktizierten Form unauffälliger und schleichender, als ihre technische und administrative Schwester. Aber sie ist auch verheerender, denn sie zerrt das Individuum selbst in die Öffentlichkeit. Mehr noch: Sie macht es zum öffentlichen Gut.

Unter der Prämisse „Offenheit gleich Befreiung“ wurde und wird dem Menschen von Kindesbeinen an beigebracht, dass das Teilen jeglichen Bereichs seiner Persönlichkeit und jeder seiner Empfindungen nicht nur gut, sondern wichtig sei. Werthaltungen, die sich dem widersetzen und das Trennende hochhalten, werden zu rückwärtsgewandter Verklemmtheit umgedeutet oder in ihrer Anwendung auf andere beschränkt:

Würde ist ausschliesslich für fordernde Minderheiten reserviert.

Stolz auf für sich oder andere Geleistetes verstömt ankapitalistelte Arroganz.

Abgrenzung kommt nur noch im Therapeutischen als Abwehr gegen ausbeutende Arbeitgeber oder böse Eltern zur Anwendung.

Und Scham ist auf jene Ewiggestrigen anzuwenden, die es nicht wagen, zu fordern.

Der Öffnungsbefehl kommt als Einladung daher: Sei deine eigene Show – wir moderieren.

Es funktioniert: Der Mensch glaubt die Mär von der Freiheit mittels Niederreissen der Grenzen zu seinem Intimstbereich und merkt nicht, dass er dabei zum öffentlichen Gut verkommt. Merkt nicht, dass er mit der Selbst-Veröffentlichung zum besetzten Raum wird und dass die nur scheinbare Freiheit in Wirklichkeit Enge ist.

Denn: Er ist keine Einbahnstrasse. Wenn die trennende Wand erst einmal eigeebnet ist, steht dem mentalen Rückfluss nichts im Weg. Wer Familienleben, Sexualität, Emotionen, Vorlieben, Tätigkeit, persönliche Schwächen, Finanzen und den gesundheitlichen Status preisgibt, setzt sie der Beurteilung durch Aussenstehende aus. Egal ob bekannt oder anonym, persönlich oder institutionell. Ohne Zugangsbeschränkung wird es ihn prägen, konditionieren und Einfluss auf sein Fühlen und Verhalten nehmen.

Man stelle sich eine naturbelassene Grünfläche vor, die der Öffentlichkeit zur freien Nutzung zur Verfügung gestellt wird. Es wird nicht lange dauern, und der Ort ist zertrampelt und zugemüllt. Auch der Vorsichtigste hinterlässt Spuren. Aber vor allem gilt: Wer am lautesten, am rücksichtslosesten und am wirksamsten drohend auftritt, wird den Grossteil des Parks für sich besetzen.

Dem entglasten Menschen ergeht es genauso. Seine vermeintliche Öffnung und Befreiung mündet im Dasein als hyperkonditionierter Nager am Gängelband der aktuell vorherrschenden und gewollten Mehrheitsmeinung. Will er „gut“ sein, dazugehören, nicht anecken, adoptiert er das zur freien Verwendung angebotene ideelle Prêt-à-penser in Unisex und Einheitsgrösse in den Schaufenstern des politisch Korrekten. Wer braucht schon Wahrheit wenn es dir richtige Gesinnung gibt.

Wer dies nicht will, wer sich weigert seinen intellektuellen Fussabdruck auf PC-Normgrösse beschneiden zu lassen um auf dem teigig pastösen Boden geistiger Monokultur keine auffallenden Spuren zu hinterlassen, wer antritt zur Verteidigung seines mentalen Territoriums, wer auf die diktierte Harmonie verzichtet und nichts gibt auf den durch Androhung sozialer Isolation durchgesetzter Konsens, der riskiert Eskalation. Wer sich nicht sagen lassen will, was wie zu sehen sei, was zu denken, wie zu feiern, worüber zu lachen und wo öffentlich zu trauern, gehört nicht länger dazu. Wer nicht mitmacht beim Event „Masse“, der wird selber zum Negativ-Event. Seine Existenz, seine Meinung und seine Werte werden gleichgestellt mit ausschliesslich dunkel besetzten Begrifflichkeiten.

So what? Wer will schon bei künstlichem Gesinnungslicht und konstanter geistiger Temperatur im Labor des befohlenen Richtigen sein Leben und Denken fristen? Seien wir Dunkelziffern unter freiem Himmel!

In Dunkelland scheint die Sonne. Lasst uns Grauzonen zelbrieren, Schattenexistenzen feiern! Leben wir schwarz! Seien wir Feind! Jeder eine Bastion der Freiheit. Und vor allem: Mit Humor. Denn was Einstein von den Bienen sagte, dass ihr Aussterben innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren auch das Aussterben des Menschen zur Folge hätte, könnte auch für die obrigkeitliche Inhaftnahme des Humors gelten.

Eine Gesellschaft, die sich diktieren lässt, worüber zu lachen sie berechtigt ist, hat keine Zukunft. Vier Jahre könnten allerdings etwas knapp sein.


Quelle und Kommentare hier:
https://frankjordanblog.wordpress.com/2016/08/15/glaesern-war-gestern/