Gebt Acht liebe Kinder und hört fein zu! Ein uraltes Märchen erzähle ich euch.
Es ist das Märchen vom Fachkräftemangel.
Es war einmal ein Land und das nannte sich Absurdistan. Ungefähr ein halbes Jahrhundert, bevor das Märchen spielt, konnte man dort noch ganz passabel leben. Zu der Zeit reichte ein Hauptverdiener nicht nur dazu aus, eine vierköpfige Familie recht ordentlich durchzubringen – nein, es waren darüber hinaus sogar noch Rücklagen für Urlaub, neues Auto, für das Alter und für ein kleines Eigenheim möglich.
Klingt unglaublich, ist aber so!
Doch die Zeiten veränderten sich. Die Bewohner von Absurdistan verdienten immer weniger, mussten immer mehr und immer länger arbeiten und an Rücklagen war längst schon nicht mehr zu denken, auch reichte ein Job zum Leben sowieso nicht mehr. Im Gegenzug wurden die Reichen immer reicher.
Wer nichts besaß, der konnte noch so schlau sein – allein, er brachte es niemals auf einen grünen Zweig. Den Kindern der Reichen dagegen, nicht selten blöd wie Brot und dämlich wie hundert Meter Feldweg, ebnete ihre Herkunft den Weg nach ganz oben, so dass binnen weniger Jahre die Blödheit regierte.
Besagte Blödheit ging i. d. R. mit Gier einher, aber das bemerkten die betroffenen Personen selbst natürlich nicht. Für die war es wichtig, zu zeigen, was man hatte, was man sich leisten konnte und das musste selbstverständlich viel mehr und viel teurer als das vom Nachbarn sein.
Nun stellte sich die Situation aber leider so dar, dass Absurdistan über keine nennenswerten Rohstoffe verfügte. Seine Ressource war das Know How der Beschäftigten und in früheren Zeiten galt das Siegel “Made In Absurdistan” auch wirklich einmal als das Qualitätsmerkmal schlechthin.
Das ließ sich darauf zurückführen, dass man den Menschen neben vernünftigem Einkommen auch noch eine langfristige Perspektive, nicht selten gepaart mit Weiterqualifizierung, bot. In Folge engagierten sie sich für “ihr” Unternehmen und der Arbeitgeber profitierte davon.
Doch das ist die Vergangenheit.
Als nämlich diejenigen, die ihr Vermögen von Papi geerbt hatten und die sich für etwas Besseres hielten – sie bezeichneten sich selbst übrigens als “Elite” – ans Ruder kamen, da änderte sich auch die Sache mit dem Know How der Arbeitnehmer.
Weil nicht sein konnte was nicht sein durfte: Ein Arbeitnehmer durfte unmöglich auf seinem Fachgebiet schlauer als sein Chef sein! Ergo betrachteten die Nachwuchsbosse ihre Arbeitnehmer auch nicht mehr als Investition in die Zukunft und als Aktivposten ihres Unternehmens, sondern stattdessen nur noch als reine Kostenfaktoren.
Kostenfaktoren galt es selbstverständlich zu minimieren, denn man musste sich mehr als der Nachbar erlauben können. Auf diese Weise verfielen nicht nur die Löhne. Nein, auch die Perspektive für die Arbeitnehmer ging im Zuge von ausgehebeltem Kündigungsschutz und von befristeten Stellen verloren.
Um ihre Weiterqualifizierung sollten sich die Arbeitnehmer gefälligst selbst bemühen – und das auch selbst bezahlen. Für die neuen Bosse wurde der selbst erzeugte Kostenfaktor namens Arbeitnehmer damit beliebig austauschbar und beliebig schlecht bezahlbar.
Vor diesem Hintergrund herrschte das Mausefallenfabrikationsunternehmen Kohle & Reibach in Kleinkleckersdorf irgendwo in der Pampa über einen zunächst noch gut florierenden Betrieb.
Allein, die Lebensverhältnisse verschlechterten sich permanent. Das Ungeziefer vermehrte sich daher auch ganz enorm. Die Fabrikantenfamilie Kohle & Reibach erfreute das sehr, sicherte es ihnen doch Umsatz ohne Ende. Die Firma kam den ganzen Aufträgen für Ratten- und Mausefallen nicht mehr hinterher. Es blieb ihr also gar nichts anderes übrig als das Unternehmen kräftig zu erweitern. Was aber keinerlei Problem darstellte, denn die Familie Kohle & Reibach konnte aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation massiven Druck auf die kommunale Politik ausüben, bspw. indem sie mit einer Arbeitsplatzverlegung oder sogar gleich mit der kompletten Geschäftsaufgabe drohte – denn Geld genug hatte Firma Kohle & Reibach ja bereits gescheffelt, so dass es der weiteren Mausefallenfabrikation im Grunde genommen gar nicht bedurfte.
Etwas Druck hier und eine Parteispende da ebneten den Weg. Das Werk wurde kräftig erweitert. Die Mausefallenfabrikanten konnten jede Menge an neuen Maschinen kaufen, selbstverständlich subventioniert und daher unter dem Strich vom Steuerzahler selbst finanziert. Aufgrund der neuen Maschinen waren etliche bisherige Arbeitnehmer überflüssig geworden – die hatten also mit ihren eigenen Steuergeldern ihre eigene Entlassung finanzieren müssen. Nun standen die neuen Maschinen da und es hätte eigentlich losgehen können …
Eigentlich – wären da nicht die nicht vorhandenen Spezialisten zur Bedienung von eben diesen neuen Maschinen gewesen. Es fehlte am qualifizierten Personal! Undenkbar, wenn doch die Arbeitnehmer beliebig ausgetauscht werden konnten!
Die Eigner von Kohle & Reibach beriefen einen Familienrat ein. Dessen Entscheidung lautete dahingehend, umgehend neues Fachpersonal einzustellen – denn nur bei einem Weiterlaufen der Produktion klingelte die Kasse. Und die sollte laut klingeln – ganz laut und ganz lange!
Deswegen kam man schnell überein, den neu einzustellenden Leuten auch nur ein ganz, ganz mickriges Gehalt zu zahlen, die Jobs grundsätzlich zu befristen und überhaupt auf ein ungehemmtes hire and fire zu setzen. Das sich das Mausefallenfabrikationsunternehmen in Kleinkleckersdorf irgendwo in der Pampa befand und dass sich dort niemand freiwillig hinbegab blendete man geflissentlich aus.
Es kam wie es kommen musste: Man fand keine Blöden, die, wie es den Bossen am liebsten gewesen wäre, das Geld auch noch mitbrachten!
Undankbares Volk: Sollten die doch froh sein, wenn man ihnen Arbeit anbot! Zeitweise setzte Firma Kohle & Reibach daher auf das Jobcenter: Diejenigen, die man zuvor entlassen hatte, wurden jetzt, abkommandiert in extrem schlecht entlohnte Zwangsarbeit, vorübergehend wieder eingestellt. Teils sogar indirekt über Zeitarbeitsunternehmen.
Doch keiner von denen engagierte sich mehr – was für eine Frechheit!
Das hire and fire wurde hemmungslos praktiziert. Plötzlich war dann aber keiner mehr da, der die Arbeit machte. Die Produktion stand still und die Kasse klingelte nicht mehr. Neue Leute gab’s aber angesichts der ausbeuterischen Bedingungen auch nicht, welche Katastrophe!
Jetzt kam der Fabrikantenfamilie Kohle & Reibach zu Bewusstsein: Wir haben einen Fachkräftemangel! Damit diese Behauptung glaubhaft rübergebracht werden konnte, rührte man kräftig die Werbetrommel.
Zunächst wurden Universitäten unterstützt, insbesondere solche, die irgendwie mit der Mausefallenherstellung zu tun hatten. Das kostete gar nicht mal soviel, denn es handelte sich ja um ein steuerlich absetzbares, gesellschaftliches Engagement. Vor allem aber um ein Engagement, mit dem der Name Kohle & Reibach ins Gespräch kam.
Als dann irgendwann jedem der Name Kohle & Reibach ein Begriff war, da folgte die nächste Stufe des Konstruierens vom Fachkräftemangel: Das Unternehmen hielt Vorträge über die üble Situation mit dem Fachkräftemangel und finanzierte entsprechende Studien. Solchem geballten Sachverstand konnte sich auch die Politik nicht mehr verschließen.
Da wurde Vereine und Verbände ins Leben gerufen, immer mit wohlklingenden Namen wie bspw. der “Verband absurdistanischer Mausefallenhersteller” und wenn eben diese Vereine und Verbände diverse meinungsmachende Maßnahmen auf der Grundlage von zweifelhaftem Zahlenmaterial veröffentlichten, dann hatte das gefälligst niemand zu hinterfragen.
Vor allem aber musste absolutes Stillschweigen darüber gewahrt werden, dass man die zuvor entlassenen Fachkräfte – die es ja immer noch gab, die bloß jetzt eben arbeitslos geworden waren – per Gesetz gehörig abqualifiziert hatte und eben deswegen nicht einstellen wollte.
Das Verfahren des Jammern und Wehklagens über fehlende Fachkräfte funktionierte besser als erwartet. Sehr viele künftige Mausefallenbauer machten jetzt eine entsprechende Ausbildung und strömten zuhauf auf den Markt, so dass sich jedewede Lohnzahlung ganz gehörig drücken ließ.
Die Fabrikantenfamilie Kohle & Reibach rieb sich die Hände und erfreute sich am immer schneller in die Höhe schießenden Kontostand. So etwas blieb selbstverständlich nicht unbemerkt und binnen kürzester Zeit zog die gesamte Wirtschaft lautstark wegen fehlender Fachkräfte lamentierend nach.
Dabei gab es besagte Fachkräfte zuhauf – man hätte die Straßen mit ihnen pflastern können – doch die wollten eben auch zur Abwechslung nur mal etwas Geld zum Leben verdienen. Geld, welches ihnen von den neuen Bossen in ihrer Gier vorenthalten werden sollte.
Deswegen verließen viele dieser einheimischen Fachkräfte Absurdistan, um im Ausland ihr Glück zu versuchen. Im Grunde genommen waren sie sogar rausgemobbt worden, aber das wollte in Absurdistan niemand hören. Jedenfalls niemand von denen, die sich selbst als “Elite” bezeichneten.
Immerhin hatte sich jetzt so nach und nach die gesamte Wirtschaft dem hirnrissigen Konstrukt des vermeintlichen Fachkräftemangels angeschlossen. Die Wirtschaft unterhielt Lobbyisten und die Lobbyisten erzählten den Politikern, was die Wirtschaft von ihnen erwartete. Die Methode, welche der Mausefallenfabrikant Kohle & Reibach auf kommunaler Ebene angewandt hatte – nämlich Druck einerseits und Parteispenden andererseits – funktionierte auch bei der Regierung. Vor allem deswegen, weil die wirklich kompetenzfrei und folglich hinter persönlichen Vorteilen her war.
Die kam der Wirtschaft daher sogar noch entgegen, indem sie versuchte, ungeachtet der bereits in Absurdistan vorhanden Ressourcen spottbillige Fachkräfte aus dem Ausland zu importieren. Leider funktionierte das nicht wirklich. Denn besagte Fachkräfte wussten recht genau, was ihre Arbeitskraft wert war und winkten bloß von einem Lachflash geschüttelt ab, wenn sie von den Arbeitsbedingungen und den Löhnen in Absurdistan hörten.
Schließlich importierten Absurdistans Politiker – Politclowns sollte es wohl besser heißen – im ganz großen Stil ungelernte Kräfte aus dem Ausland. Sie ließen die auf Kosten der nach und nach arbeitslos werdenden Absurdistaner zu Fachkräften ausbilden – während die eigenen Leute auf der Straße saßen – und nach der Ausbildung sowie vielleicht ein paar Jährchen an Arbeit im Job gingen besagte Importe wieder nach Hause.
Auf diese Weise wurde Absurdistan langsam aber sicher komplett ausgeblutet. Das Know How wanderte ab. Der Binnenmarkt brach mangels Kaufkraft zusammen. Die Unternehmen – allesamt selbstverständlich “Global Player” – gingen in’s Ausland.
Die Fachkräfte, die Absurdistan noch besaß, waren seitens des Staates und auf Empfehlung der Lobbyisten enteignet worden. Selbst wenn sie gewollt hätten, dann wäre es ihnen mangels finanzieller Möglichkeiten unmöglich gewesen, selbst etwas Neues auf die Beine zu stellen. Absurdistan versank in der Bedeutungslosigkeit, wurde zum Entwicklungsland.
Die Wirtschaft in Absurdistan hingegen singt heute noch das Klagelied vom Fachkräftemangel. Und die Moral von der Geschicht:
Lasst euch kein X für ein U vormachen!
Hinterfragt alles – und ganz besonders offizielle Verlautbarungen! Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lügen sie noch heute.
Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Verhältnissen in Deutschland sind rein zufällig und unbeabsichtigt – aber vielleicht auch unvermeidlich.
Allerdings trifft das Märchen ohnehin nicht auf Deutschland zu, denn wir haben wirklich zwei Bereiche mit echtem Fachkräftemangel. Der eine Bereich ist die Pflege, weil der Job denkbar unattraktiv ist und keine Perspektive bietet.
Der andere ist unsere ReGIERung …