Der Schuldparagraph des Versailler Diktats

Wie die Sieger die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg festschrieben

von Professor Dr. Ernst Anrich

Besagt und meint der Schuldparagraph 231 im Versailler Diktat die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg und zwar im Sinne einer unmoralischen, geplanten Herbeiführung dieses Krieges? Diese für die ältere deutsche Generation in aller Klarheit mit »Ja« zu beantwortende Frage wird heute von Nachwachsenden oft anders gesehen, weil ihnen das geschichtliche Grundlagenwissen fehlt. Deswegen werden nachfolgend von einem Historiker die wichtigsten Begleitumstände des Zustandekommens dieses Schuldparagraphen angeführt.

Der Text des Artikels 231 des Versailler Diktats lautet:

»Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.«

Sofort 1919 hat das deutsche Volk – Regierung wie Bevölkerung – diesen Paragraphen als die Zuweisung der Alleinschuld am Kriege im Sinne einer seit längerem bewußten Herbeiführung eines solchen Krieges zur Errichtung der deutschen Hegemonie empfunden, damit als historische Unwahrheit und also Lüge, und damit als moralische Diffamierung und Angriff auf die Ehre, dazu noch gesteigert durch die Zumutung (»und Deutschland erkennt an«), dies selbst bekennen zu sollen – und zu müssen. Zu müssen, da durch den Waffenstillstand und den Rückzug aus allen besetzten Gebieten im Vertrauen auf die 14 Punkte Wilsons sowohl der Waffenkraft wie der Aushungerungskraft der dies verlangenden Feinde kein Widerstandsmittel mehr gegenüberstand.

Mit der Entfernung von Jahrzehnten und mit der Unterdrückung der geschichtlichen Unterrichtung in solchen Fragen seit dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs kann man hier und dort im deutschen Volk heute auf die Meinung stoßen, daß diese Auslegung des Artikels ihn überinterpretiert habe, da das Wort Alleinschuld in ihm nicht vorkomme, er keine moralische Verurteilung enthalte, da auch diesbezüglich kein ausdrückliches Wort in ihm zu finden sei, sondern daß er die deutsche Kriegsschuld rein sachlich begrenze auf die Tatsache, daß die deutschen Kriegserklärungen an Rußland (l. 8. 14) und Frankreich (3. 8. 14) von Deutschland ausgegangen seien, ebenso die Verletzung der belgischen Neutralität (4. 8. 14), daß er also nur die faktische Kriegsauslösung meine, und unter Verantwortlichkeit (responsability) im Grunde nur die juristisch-finanzielle Haftung (Iiability) gemeint sei für die Folgen einer faktischen Verursachung, die in der Präambel des Vertrages mit der Nennung dieser Kriegserklärungen aufgeführt ist.

Dabei wird von den Herstellern des Diktats bewußt, von den heutigen Bezweiflern aus nicht mehr vorhandenem Wissen übersehen, daß diese Kriegserklärungen erfolgten, weil die trotz dringendster Warnungen Deutschlands am 29. 7., dann endgültig am 30. 7. 1914 erlassene russische allgemeine Mobilmachung die riesige Heeresmasse Rußlands in Gang setzte, dazu, nach den französisch-russischen Verträgen, die französische Mobilmachung und dadurch weiteren deutschen (und englischen) gerade greifenden deutsch-englischen Friedensbemühungen die Möglichkeit durchschnitten hatte. Denn Deutschland konnte es sich nicht erlauben, sich dem Vollzug des Aufmarsches dieser Massen an beiden Fronten auszusetzen. Es mußte dem Aufmarsch der Riesenzahl nicht nur durch eigene Mobilmachung am 31. 7., sondern durch sofortiges militärisches Handeln zuvorkommen. Befangen in alter diplomatischer Kavalierstradition hatte die damalige deutsche Regierung dies völkerrechtlich nicht für möglich gehalten ohne vorherige amtliche Kriegserklärung und strategisch nicht ohne den zuvorkommenden Einmarsch in Belgien.

Die Präambel des Diktats von Versailles – und weitgehend das historische Wissen von heute – unterschlägt ferner oder hat vergessen, daß die Ursache dieser gesamten Julikrise, und darin und damit dieser allgemeinen russischen Mobilmachung, die Ermordung des Österreichischen Thronfolgers am 28. 6. 1914 auf Österreichischem Staatsgebiet in Serajewo durch die groß-serbische Bewegung mit Beteiligung serbischer staatlicher Amtsstellen und dem Wissen erfolgt war, Rußland als Schutzmacht hinter sich zu haben gegen Serbien bedrohende Reaktionen von Österreich. Sie war erfolgt mit dem Ziel, Österreich, den einzigen deutschen Bundesgenossen, zu zerstören.

Die Entwicklung des Schuldparagraphen
Nach dieser kurzen Rückrufung des historischen Gedächtnisses nunmehr zu der gestellten Frage, was der Artikel 231 besagen wollte und sollte. Ein kurzer Durchgang durch sein Zustandekommen auf der Versailler Friedenskonferenz ergibt:
8. 1. 1918. Verkündigung der 14 Friedenszielpunkte des amerikanischen Präsidenten Wilson. Darin Punkt 7:

»Belgien muß, wie die ganze Welt übereinstimmen wird, geräumt und wieder hergestellt werden… Keine andere Einzelhandlung wird so wie diese dazu dienen, das Vertrauen unter den Nationen zu den Gesetzen wieder herzustellen, die sie selbst für die Regelung der Beziehungen untereinander aufgestellt und festgesetzt haben. Ohne diesen heilenden Akt ist die ganze Struktur und Geltung des Völkerrechts für immer erschüttert. «

Punkt 8:

»Alles französische Gebiet sollte befreit und die besetzten Teile sollten wieder hergestellt werden … « In der Schlußzusammenfassung: »Wir sind bereit, für solche Ordnungen und Satzungen zu kämpfen und den Kampf fortzusetzen, bis sie verwirklicht sind; aber nur deshalb, weil wir den Sieg des Rechts und einen gerechten und stabilen Frieden wünschen, der nur durch Beseitigung der Hauptursachen für Kriege gesichert werden kann, wie es durch dieses Programm geschieht. Wir sind auf Deutschlands Größe nicht eifersüchtig und sie wird durch nichts in diesem Programm geschmälert… Wir möchten es nicht verletzen und seinen legitimen Einfluß und seine Macht in keiner Weise beeinträchtigen. Wir wollen es nicht mit den Waffen oder mit feindseligen Handelsmaßnahmen bekämpfen, wenn es willens ist, sich mit uns und den anderen friedliebenden Nationen der Welt in Ordnungen der Gerechtigkeit und des Rechtes und in ehrlicher Weise zusammenzutun. Wir wünschen nur, daß es unter den Völkern der Welt – der neuen Welt, in der wir nun leben – einen gleichen und nicht einen beherrschenden Platz einnimmt.«

3. 10. 1918 – Deutschland bittet aufgrund dieser 14 Punkte (und ihrer Erläuterung vom 27. September) den US-Präsidenten, die Herstellung des Friedens in die Hand zu nehmen.

5. November 1918 – Wilson durch seinen Außenminister R. Lansing an Deutschland:

»… Der Präsident hat in den in seiner Ansprache an den Kongreß vom 8. Januar 1918 niedergelegten Friedensbedingungen erklärt, daß die besetzten Gebiete nicht nur geräumt, sondern auch wiederhergestellt werden müßten. Die alliierten Regierungen sind der Ansicht, daß über den Sinn dieser Bedingungen kein Zweifel bestehen darf. Sie verstehen darunter, daß Deutschland für allen durch seine Angriffe zu Wasser und zu Lande und in der Luft der Zivilbevölkerung der Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz leisten soll.«

29. 11. 1918 – Französischer Entwurf für den Arbeitsplan der Friedenskonferenz mit dem besonderen Abschnitt »Abmachungen moralischen Charakters« mit dem Ziel, darin die »Anerkennung Deutschlands der Verantwortlichkeit und des Vorbedachts seiner Herrscher als Rechtfertigung der Maßnahmen der Bestrafung und der gegen es zu ergreifenden Vorsichtsmaßregeln« zu fordern.

18. 1. 1919 – Festliche Eröffnungssitzung der Friedenskonferenz in Versailles durch Frankreich, dessen schärfster Mann und Ministerpräsident, Clemenceau, Präsident der Konferenz geworden ist. Er setzt als ersten Punkt auf die Tagesordnung: »Die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges« und läßt zum Schluß eine französische Ausarbeitung dazu verteilen. Darauf am

25. 1. 1919 – Errichtung einer »Kommission für die Feststellung der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges und der aufzuerlegenden Strafen«. Vorsitzender ist Lansing, der Vertreter Wilsons.

Erster Entwurf
12. 3. 1919 – Lansing legt dieser Kommission folgenden Entwurf in dieser Frage als Beilage zu den geplanten Friedensverträgen vor:

»… Nach diesem Kriterium beurteilt, war der 1914 begonnene Krieg ungerecht und unzulässig. Es war ein Angriffskrieg. Die Häupter der Zentralmächte (Deutschland und Österreich), von dem Wunsch entflammt, in Besitz von Land und souveräner Rechte anderer Mächte zu gelangen, haben sich in einen Eroberungskrieg eingelassen, einen Krieg, der durch seine Ausdehnung, seine unnötige Vernichtung menschlichen Lebens und Eigentums, seine unerbittlichen Grausamkeiten und seine unerträglichen Leiden alle Kriege der modernen Zeiten übertrifft. Die Beweise für dieses moralische Verbrechen gegen die Menschheit sind überzeugend und schlüssig… Die Urheber dieses schändlichen Krieges sollten nicht in die Geschichte eingehen, ohne gebrandmarkt zu werden. Sie sollten also vor die Schranken der Öffentlichen Weltmeinung zitiert werden, um das Urteil zu erleiden, das die Menschheit gegen die Urheber des größten gegen die Welt begangenen Verbrechens ausspricht.«

25. 3. 1919 – Großes, zu nüchterner Mäßigung aufforderndes Memorandum des englischen Premiers Lloyd George. Doch auch darin:

»Zuallererst muß (diese Regelung) den Alliierten Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie die Verantwortlichkeit Deutschlands für die Entstehung des Krieges und für die Art, in der er ausgefochten wurde, in Rechnung zieht. «

29. 3. 1919 – Jene Kommission für die Feststellung der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges und die aufzuerlegenden Strafen nimmt den Abschlußbericht an. Sein Schlußergebnis:

»Der Krieg ist von den Zentralmächten ebenso wie von ihren Verbündeten, der Türkei und Bulgarien, mit Vorbedacht geplant worden, und er ist das Ergebnis von Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht begangen wurden, ihn unabwendbar zu machen. In Übereinstimmung mit Österreich-Ungarn hat Deutschland vorsätzlich daran gearbeitet, die zahlreichen vermittelnden Vorschläge der Entente-Mächte auf die Seite zu schieben und ihre wiederholten Bemühungen, den Krieg zu verhüten, zunichte zu machen. «

1. 4. 1919 – Der Kommission zur Beratung der Wiedergutmachung legen die Angelsachsen ein gemeinsames Memorandum vor. Sein erster Artikel:

»Die alliierten und assoziierten Regierungen bestätigen die Verantwortlichkeit der Feindstaaten für sämtliche Verluste und allen Schaden, den die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen als Folge des Krieges erlitten haben, der ihnen durch den Angriff der Feindstaaten aufgezwungen wurde.«

Dies ist der Übergang von der von Lloyd George wenige Tage vorher noch verfochtenen, der amerikanischen Note vom 5. November 1918 entsprechenden lediglich juristisch-finanziellen Haftung (liability) zu der moralischen »Verantwortlichkeit« (responsibility). Es schafft daraus die Begründung des Übergangs von Haftung für Schäden der Zivilbevölkerung infolge des Einmarsches in Belgien zu der für die gesamten Schäden der Staaten (»der Regierungen«), weil nicht nur aufgrund dieses Einmarsches und der Kriegserklärungen im Verlauf einer Krise, sondern infolge langfristiger, gewollter, schuldhafter Herbeiführung des Umsturzversuchs durch Krieg. Es ist bereits die Urform des Artikels 231.

7. 4. 1919 – Der oberste Rat der Alliierten nimmt ohne Diskussion als Grundlage der Reparationsforderungen demzufolge den Text an:

»Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und die feindlichen Staaten erkennen an, daß die feindlichen Staaten verantwortlich sind für alle Schäden und alle Verluste, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff der feindlichen Staaten aufgezwungen worden ist, erlitten haben.«

Damit hat die Formel dazu noch jenen vergewaltigenden Zusatz der eigenen Anerkennung der Verantwortlichkeit, das heißt der Schuld, erhalten.

8. 4. 1919 – Lloyd George, wegen seiner Mäßigung schon von Frankreich aufs stärkste und – wie schon gesehen – mit Erfolg in die Zange genommen, wird zusätzlich telegraphisch von 370 englischen Parlamentsmitgliedern drohend daran erinnert, bei seiner früheren Meinung im Wahlkampf Ende 1918 (»Hängt den Kaiser«) zu bleiben, seine »Versprechungen an das Land zu erfüllen« und »Deutschland zur Anerkennung seiner Schuld zu zwingen«.

Übergabe und deutsche Antwort
7. 5. 1919 – Clemenceau bei der Überreichung der Friedensbedingungen an die deutsche Delegation unter Brockdorff-Rantzau:

»Es ist hier weder der Ort noch die Stunde für überflüssige Worte. Sie haben vor sich die Versammlung der Bevollmächtigten der kleinen und großen Mächte, die sich vereinigt haben, um den fürchterlichsten Krieg auszufechten, der ihnen aufgezwungen worden ist. Die Stunde der Abrechnung ist da. Sie haben uns um Frieden gebeten. Wir sind geneigt, ihn Ihnen zu gewähren. Wir übergeben Ihnen das Buch des Friedens… Es wird keine mündliche Verhandlung geben, die Bemerkungen werden schriftlich vorgebracht werden müssen. Die deutschen Bevollmächtigten haben eine vierzehntägige Frist, um in französischer und englischer Sprache ihre schriftlichen Bemerkungen über die Gesamtheit des Vertrages zu überreichen. «

Die Antwort Brockdorff-Rantzaus:

»Wir sind tief durchdrungen von der erhabenen Aufgabe, die uns mit Ihnen zusammengeführt hat: der Welt rasch einen dauernden Frieden zu geben. Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grund unserer Ohnmacht. Wir wissen, daß die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist. Wir kennen die Wucht des Hasses, die uns hier entgegentritt, und wir haben die leidenschaftliche Forderung gehört, daß die Sieger uns zugleich als Überwundene zahlen lassen und als Schuldige bestrafen wollen. Es wird von uns verlangt, daß wir uns als die Alleinschuldigen am Kriege bekennen; ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge. Wir sind fern davon, jede Verantwortung dafür, daß es zu diesem Weltkrieg kam, und daß er so geführt wurde, von Deutschland abzuwälzen… Aber wir bestreiten nachdrücklich, daß Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet ist… Das Maß der Schuld aller Beteiligten kann nur eine unparteiische Untersuchung feststellen, eine neutrale Kommission, vor der alle Hauptpersonen der Tragödie zu Wort kommen, der alle Archive geöffnet werden. Wir haben eine solche Untersuchung gefordert, und wir wiederholen die Forderung. Bei dieser Konferenz, wo wir allein, ohne Bundesgenossen der großen Zahl unserer Gegner gegenüberstehen, sind wir nicht schutzlos. Sie selbst haben uns einen Bundesgenossen zugeführt: das Recht, das uns durch den Vertrag über die Friedensgrundsätze gewährleistet ist. Die alliierten und assoziierten Regierungen haben in der Zeit zwischen 5. Oktober und dem 5. November 1918 auf den Machtfrieden verzichtet und den Frieden der Gerechtigkeit auf ihr Panier geschrieben. Am 5. Oktober 1918 hat die deutsche Regierung die Grundsätze des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika als Friedensbasis vorgeschlagen, am 5. November hat ihr der Staatssekretär Lansing erklärt, daß die alliierten und assoziierten Mächte mit dieser Basis unter zwei bestimmten Abweichungen einverstanden seien. Die Grundsätze des Präsidenten Wilson sind also für beide Kriegsparteien, für Sie wie für uns, und auch für unsere früheren Bundesgenossen, bindend geworden … «

13. 5. 1919 – Note Brockdorff-Rantzaus:

»In dem den deutschen Delegierten vorgelegten Entwurf eines Friedensvertrages wird der VIII. Teil betreffend die Wiedergutmachung mit dem Artikel 231 eingeleitet, welcher lautet: (folgt der Text des Art. 231). Deutschland hat die Verpflichtung zur Wiedergutmachung übernommen aufgrund der Note des Staatssekretärs Lansing vom 5. November 1918, unabhängig von der Frage der Schuld am Kriege… Auch die Auffassung der alliierten und assoziierten Regierungen darüber, wer als Urheber des Krieges zu beschuldigen ist, wird von den deutschen Delegierten nicht geteilt. Sie vermögen der früheren deutschen Regierung nicht die alleinige oder hauptsächliche Schuld an diesem Kriege zuzusprechen. In dem vorgelegten Entwurf eines Friedensvertrages findet sich nichts, was jene Auffassung tatsächlich begründet, keinerlei Beweise werden für sie beigebracht. Die deutschen Delegierten bitten daher um Mitteilung des Berichtes der von den alliierten und assoziierten Regierungen eingesetzten Kommission zur Prüfung der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges.«

20. 5. 1919 – Aus der Antwortnote Clemenceaus:

»… (Es) wird in der Note des Staatssekretärs Lansing vom 5. November 1918, auf welche Sie sich unter Erteilung Ihrer Billigung berufen, erklärt, die Verpflichtung zur Wiedergutmachung ergebe sich ›aus dem Angriff Deutschlands zu Lande, zu Wasser und in der Luft‹. Dadurch, daß die deutsche Regierung damals gegen diese Feststellung keinen Protest einlegte, hat sie sie als begründet anerkannt. Deutschland hat also im November 1918 implicite, aber unzweideutig, sowohl den Angriff als auch seine Verantwortlichkeit zugegeben. Heute ist es zu spät für den Versuch, sie zu leugnen.… Sie verlangen als letztes Mitteilung des Berichtes der Kommission zur Prüfung der Verantwortlichkeiten; in Erwiderung hierauf haben wir die Ehre, zu erklären, daß die alliierten und assoziierten Mächte die Berichte der von der Friedenskonferenz eingesetzten Kommissionen als Urkunden interner Natur betrachten, welche Ihnen nicht übermittelt werden können.«

Die deutsche Antwortnote
24. 5. 1919 – Aus der Antwortnote von Brockdorff-Rantzau:

»Der Inhalt des Schreibens Eurer Exzellenz vom 20. d. M. über die Frage der Verantwortlichkeit Deutschlands für die Folgen des Krieges hat der deutschen Friedensdelegation gezeigt, daß die alliierten und assoziierten Regierungen den Sinn völlig mißverstanden haben, in dem die deutsche Regierung und das deutsche Volk sich mit der Note des Staatssekretärs Lansing vom 5. November 1918 stillschweigend einverstanden erklärten. Um dieses Mißverständnis aufzuklären, sieht sich die deutsche Delegation genötigt, den alliierten und assoziierten Regierungen die Ereignisse ins Gedächtnis zurückzurufen, die jener Note vorausgehen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hatte zu verschiedenen Malen feierlich erklärt, daß der Weltkrieg nicht mit einem Machtfrieden, sondern mit einem Rechtsfrieden enden solle, und daß Amerika nur für dieses Kriegsziel in den Krieg eingetreten wäre. In diesem Sinne wurde die Formel geprägt: ›Keine Annexionen, keine Kontributionen, keine Strafzahlungen‹. Auf der anderen Seite verlangte aber der Präsident unbedingt die Wiederherstellung des verletzten Rechtszustandes. Die positive Seite dieser Forderung fand ihren Ausdruck in den vierzehn Punkten, die der Präsident in seiner Botschaft vom 8. Januar 1918 niedergelegt hat. Sie verlangt von dem deutschen Volke hauptsächlich zweierlei: Erstens, den Verzicht auf wichtige Teile des Reichsgebiets im Westen und Osten unter dem Gesichtspunkt der nationalen Selbstbestimmung; zweitens, das Versprechen der Wiederherstellung der besetzten Gebiete Belgiens und Nordfrankreichs. Auf beide Forderungen konnten sich die deutsche Regierung und das deutsche Volk einlassen, weil der Grundsatz der Selbstbestimmung der neuen demokratischen Verfassung Deutschlands entsprach und die herzustellenden Gebiete von deutscher Seite durch eine völkerrechtswidrige Handlung, nämlich durch die Verletzung der Neutralität (Belgiens), mit dem Schrecken des Krieges überzogen worden waren… . Wenn nun das durch den Staatssekretär Lansing vom 5. November 1918 an die deutsche Regierung übermittelte Schreiben der Entente den Begriff der Wiederherstellung der besetzten Gebiete einer näheren Auslegung unterzog, so erschien es für die deutsche Auffassung selbstverständlich, daß die Ersatzpflicht, die in der Auslegung festgestellt wurde, sich nicht auf andere Gebiete beziehen konnte als die, deren Schädigung als rechtswidrig zuzugeben war und deren Herstellung die leitenden Staatsmänner der Gegner als Kriegsziel betont hatten, so hat Präsident Wilson die Wiedergutmachung des Unrechts an Belgien in seiner Botschaft vom 8. Januar 1918 ausdrücklich als den heilenden Akt bezeichnet, ohne den die ganze Struktur und Geltung des Völkerrechts für immer erschüttert sein würde. Ebenso hat der englische Premierminister, Herr Lloyd George, in seiner Rede im Unterhaus am 22. Oktober 1917 gesagt: ›Die vornehmsten Forderungen der Britischen Regierung und ihrer Verbündeten waren stets die völlige politische, territoriale und wirtschaftliche Wiederherstellung der Unabhängigkeit Belgiens und seine Entschädigung, soweit eine solche möglich ist, für die Zerstörung seiner Städte und Provinzen. Das ist keine Forderung einer Kriegsentschädigung wie die, die 1871 Frankreich von Deutschland auferlegt wurde. Es ist kein Versuch, die Kosten der Kriegsführung von dem einen Kriegsführenden auf den anderen abzuwälzen.‹ Was hier für Belgien gesagt wird, mußte Deutschland auch für Nordfrankreich anerkennen, da die deutschen Heere nur auf dem Wege über die verletzte belgische Neutralität die französischen Gebiete erreicht hatten. Dieser Angriff war es, für den die deutsche Regierung Deutschlands Verantwortlichkeit zugab, nicht aber eine angebliche Schuld am Ausbruch des Krieges oder die äußerliche Tatsache, daß die formelle Kriegserklärung von seiner Seite ausgegangen war… Wenn nunmehr die alliierten und assoziierten Regierungen die Auffassung vertreten sollten, daß für jede völkerrechtswidrige Handlung, die im Kriege begangen worden ist, Schadenersatz geschuldet wird, so will die Deutsche Delegation die grundsätzliche Richtigkeit dieses Standpunktes nicht bestreiten; sie macht aber darauf aufmerksam, daß dann auch Deutschland eine erhebliche Schadenrechnung aufzustellen hat und daß die Ersatzverpflichtungen seiner Gegner insbesondere gegenüber der durch die völkerrechtswidrige Hungerblockade unermeßlich geschädigten deutschen Zivilbevölkerung sich nicht auf die Zeit beschränken, wo der Krieg noch beiderseits geführt wurde, sondern ganz besonders auch für die Zeit zutreffen, wo es nur noch eine Kriegsführung der alliierten und assoziierten Mächte gegen das freiwillig wehrlos gewordene Deutschland gab. Jedenfalls entfernt sich die Auffassung der alliierten und assoziierten Regierungen von der Vereinbarung, die Deutschland vor Abschluß des Waffenstillstands getroffen hatte… . Das deutsche Volk, das niemals die Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Krieges auf sich genommen hat, kann mit Recht verlangen, daß ihm seine Gegner mitteilen, aus welchen Gründen und mit welchen Beweismitteln sie eine Schuld an allen Schäden und Leiden dieses Krieges als Unterlage der Friedensbedingungen machen. Es kann sich daher nicht mit der Bemerkung abspeisen lassen, das von den alliierten und assoziierten Regierungen durch eine besondere Kommission in der Frage der Verantwortlichkeit gesammelte Material sei ›eine innere Angelegenheit dieser Regierungen‹.«

29. 5. 1919 – Erneute Darlegung dieser Rechtsauffassung durch die deutsche Delegation.

»… Eine Verpflichtung zur Herstellung dieser Gebiete, aber auch nur dieser Gebiete, war für Deutschland deshalb annehmbar, weil es die Schrecknisse des Krieges durch eine völkerrechtswidrige Handlung, nämlich durch die Verletzung der belgischen Neutralität, in fremdes Land hineingetragen hatte. Es ist somit lediglich der Angriff auf Belgien, für den die Deutsche Regierung beim Abschluß des Waffenstillstandes die Verantwortlichkeit Deutschlands auf sich genommen hat… Die vertragsmäßig festgelegte Verpflichtung Deutschlands geht demnach dahin, daß der Zivilbevölkerung der Alliierten in den von deutschen Truppen besetzt gewesenen Gebieten Belgiens und Frankreichs aller Schaden zu ersetzen ist, den sie infolge des deutschen Angriffs (durch Belgien) erlitten hat. Dabei beschränkt sich die Verpflichtung nicht auf die zerstörten Sachwerte; sie umfaßt vielmehr jeden Schaden, den jene Zivilbevölkerung an Personen oder Eigentum erlitten hat… Der Entwurf der Friedensbedingungen… geht aber weit über das hinaus, was in den feierlichen Kundgebungen und Abmachungen des Jahres 1918 enthalten ist. Der Artikel 231 des Entwurfs verlangt von Deutschland das grundsätzliche Anerkenntnis, daß es mit seinen Verbündeten ausnahmslos für alle Verluste und Schäden verantwortlich ist, die die alliierten und assoziierten Regierungen (Hervorhebung hier vorgenommen) und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges erlitten haben… Der (die einzelnen Forderungen aufführende) Anhang handelt indes zum geringsten Teil von den Schäden, die der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten zugefügt worden sind. Aufgeführt werden: 1. Schäden von Zivilangehörigen der alliierten und assoziierten Mächte, die in anderen als den besetzten Gebieten verursacht sind; 2. Schäden der allierten und assoziierten Staaten; 3. Schäden von Militärpersonen dieser Staaten; Schäden, die nicht durch den Angriff Deutschlands, sondern durch seine Verbündeten, den alliierten und assoziierten Mächten, ihren Militärpersonen und ihrer Zivilbevölkerung zugefügt worden sind … «

Alliierte Antwort und Mantelnote
16. 6. 1919 – Antwort der Alliierten:

»… Nichts in dem deutschen Memorandum erschüttert ihre (der Alliierten) Überzeugung, daß die unmittelbare Ursache für den Krieg der Entschluß gewesen ist, den die für die deutsche Politik in Berlin verantwortlichen Personen und ihre Bundesgenossen in Wien und Budapest vorsätzlich trafen, die Lösung einer europäischen Frage den Nationen Europas durch die Drohung eines Krieges aufzuzwingen und für den Fall, daß die übrigen Mitglieder des europäischen Konzerts sich weigerten, sie durch eine sofortige Kriegserklärung zu zwingen… Nach Kenntnisnahme der von der deutschen Delegation zu ihrer Selbstverteidigung vorgebrachten Gründe haben die alliierten und assoziierten Mächte die Überzeugung, daß die Reihe der Ereignisse, die den Ausbruch des Krieges verursacht hat, vorsätzlich von jenen ersonnen und ausgeführt worden ist, die die höchste Macht in Wien, Budapest und Berlin besaßen. Die Geschichte der kritischen Tage des Juli 1914 ist jedoch in den Augen der alliierten und assoziierten Mächte nicht die einzige Grundlage, aus der die Schuld Deutschlands an der Entstehung des Krieges herzuleiten ist. Der Ausbruch des Krieges ist nicht auf einen plötzlichen Entschluß, der in einer schweren Krise gefaßt ist, zurückzuführen. Es war das logische Ergebnis einer Politik, die seit Jahrzehnten von Deutschland unter dem Einfluß des preußischen Systems verfolgt wurde… Das Ergebnis war, daß in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und während des 20. Jahrhunderts die ganze Politik Deutschlands darauf gerichtet war, sich eine Stellung zu sichern, kraft deren sie herrschen und diktieren könne… In den Augen der alliierten und assoziierten Mächte ist also die Verantwortung Deutschlands weit größer und furchtbarer als die, worauf das Memorandum der deutschen Delegation sie zu beschränken sich bemüht. Deutschland ist unter dem Einfluß Preußens die Vorkämpferin der Macht und der Gewalt, der Täuschung, der Intrige und der Grausamkeit in der Behandlung der internationalen Angelegenheiten gewesen. Während mehrerer Jahrzehnte hat Deutschland unausgesetzt eine Politik getrieben, die darauf hinzielte, Eifersucht, Haß und Zwietracht zwischen den Nationen zu säen, nur damit es seine selbstsüchtige Leidenschaft nach Macht befriedigen konnte. Deutschland hat sich dem ganzen Strom des demokratischen Fortschritts und der internationalen Freundschaft in der ganzen Welt entgegengestemmt. Deutschland ist die Hauptstütze der Autokratie in Europa gewesen. Und zum Schlusse, in der Erkenntnis, daß es seine Ziele nicht anders erreichen konnte, entwarf es und begann es den Krieg, der die Niedermetzelung und Verstümmelung von Millionen von Menschen und die Verwüstung Europas von einem Ende bis zum anderen verursachte.«

Diese Antwort war begleitet von einer Mantelnote vom selben Tag, redigiert von dem Mitglied der englischen Delegation Kerr. Darin:

»(Es) halten die alliierten und assoziierten Mächte für erforderlich, ihre Antwort mit einer scharf umrissenen Darlegung ihres Urteils über den Krieg zu beginnen, ein Urteil, welches tatsächlich und letzten Endes dasjenige der Gesamtheit der zivilisierten Welt ist. Nach der Anschauung der alliierten und assoziierten Mächte ist der Krieg, der am 1. August 1914 zum Ausbruch gekommen ist, das größte Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der Völker gewesen, welches eine sich für zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Bewußtsein begangen hat. Während langer Jahre haben die Regierenden Deutschlands… getrachtet, sich dazu fähig zu machen, ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren, so wie sie ein unterjochtes Deutschland beherrschten und tyrannisierten… Indessen beschränkt sich die Verantwortlichkeit Deutschlands nicht auf die Tatsache, den Krieg gewollt und entfesselt zu haben. Deutschland ist in gleicher Weise für die rohe und unmenschliche Art, auf die er geführt worden ist, verantwortlich… Das Verhalten Deutschlands ist in der Geschichte der Menschheit fast beispiellos. Die schreckliche Verantwortlichkeit, die auf ihm lastet, läßt sich in der Tatsache zusammenfassend zum Ausdruck bringen, daß wenigstens 7 Millionen Tote in Europa begraben liegen, während mehr als 20 Millionen Lebender durch ihre Wunden und ihre Leiden von der Tatsache Zeugnis ablegen, daß Deutschland durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei hat befriedigen wollen… Zum Schluß müssen die alliierten und assoziierten Mächte es offen aussprechen, daß dieser Brief und die angeschlossene Denkschrift ihr letztes Wort in der Angelegenheit darstellen.«

Darauf blieb nach ernster Prüfung der Möglichkeit der Ablehnung unter dem Druck der bereits am Rhein stehenden riesigen feindlichen Armeen und insbesondere unter dem Druck der Fortsetzung der Hungerblockade mit der Folge des Todes von noch Zehntausenden von Kindern, entgegen dem Willen aller Parteien von links bis rechts, Deutschland nichts übrig, als dieses Diktat unter Protest zu unterschreiben.

Spätere Stimmen
13. Februar 1921 – Reichsaußenminister Dr. Simons (zugleich Präsident des Reichsgerichts in Leipzig):

»Anmelden werde ich immer wieder, daß wir dieses Strafurteil noch nicht als endgültige Entscheidung der Weltgeschichte anerkennen.«

Darauf

3. März 1921 – Lloyd George:

»Für die Alliierten ist die deutsche Verantwortung für den Krieg grundlegend; sie ist das Fundament, auf dem der Bau von Versailles errichtet wurde. Wenn dies abgelehnt oder aufgegeben wird, ist der Vertrag zerstört… Wir wünschen einfürallemal ganz klar auszusprechen, daß die deutsche Verantwortlichkeit für den Krieg als cause jug6 behandelt wird. «

29. August 1924 – Erklärung des Reichskanzlers Marx (Zentrum):

Deutschland erkennt die Feststellung, Deutschland habe den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt, nicht an und wird das gelegentlich den Gegnern zur Kenntnis bringen.

Darauf förmlicher Protest Englands und Frankreichs gegen eine solche Notifizierung.

29. 6. 1937 – Kerr, der Verfasser der Mantelnote vom 16. 6. 1919 und Mitredaktor überhaupt des Kriegsschuldparagraphen, nunmehr Lord Lothian, in einem Öffentlichen Vortrag:

»Der Versailler Vertrag gründete sich auf die Theorie von Deutschlands Alleinschuld am Weltkrieg. Ich glaube, niemand, der die Vorgeschichte des Krieges ernsthaft studiert hat, kann diese Ansicht heute aufrechterhalten… Am Ende des Krieges jedoch hatten wir uns eingeredet, daß Deutschland allein an dem Unglück schuld sei. Diese Überzeugung war das Ergebnis von Meinungen, die wir uns aufgrund eines sehr unzureichenden Materials, ergänzt durch die Propaganda der Kriegszeit, gebildet hatten. Das Wesen der Kriegspropaganda aber bestand darin, die Einigkeit und Moral der eigenen Landsleute aufrechtzuerhalten durch den Nachweis, daß wir völlig recht, der Feind aber völlig unrecht habe. Auf diesem Grundsatz war der Versailler Vertrag aufgebaut.«

Frage des anhörenden Journalisten der »Times«, Wickham Steed:

Der Vortragende habe das Problem gestreift, das irrtümlich als deutsche »Kriegsschuld« bezeichnet worden wäre. Als die Deutschen im Jahre 1919 gegen den Entwurf des Versailler Vertrags protestierten, sei eine sehr geschickte und eindringliche Antwort abgefaßt worden, die den Fall sehr überzeugend dargestellt hätte. Mr. Philip Kerr, der jetzige Lord Lothian, sei der Verfasser gewesen. War sein Urteil damals so falsch, und wenn ja, ist es heute richtig?

Die Antwort Lothians:

Der Grund dafür, daß er seine Ansicht über die Kriegsschuld seit der in der Antwort der Alliierten von 1919 niedergelegten Anschauung geändert habe, liege darin, daß diese Antwort sich auf die Sachkenntnis stützte, über welche die britische Öffentlichkeit während des Krieges und nach vier Jahren ständiger Propaganda verfügte. Er habe seitdem eine große Anzahl Bücher in englischer Sprache über die Ursprünge des Weltkrieges gelesen, … sie alle betonten die Tatsache, daß die Kenntnisse, die 1919 zur Verfügung standen, weder genau noch vollständig gewesen seien. Er schäme sich nicht im geringsten, seine Ansicht geändert zu haben. –

Es ist jeder Zweifel ausgeschlossen: Der Artikel 231 meinte bewußt, und anwachsend, eine etwas gemäßigtere Auffassung ausschließend, die deutsche Alleinschuld am Kriege. Er meinte sie teils aus besessener Indoktriniertheit, teils aus absichtlichem Zielwillen der Beteiligten so sehr, daß das Wort »Allein« den Verfassern so selbstverständlich war, daß es für sie gar nicht ausgesprochen werden mußte. Es wurde verkürzt in »Urheber«. Wobei damit gerade durch diese Verkürzung gemeint war der Urheber des Krieges.

Und dies nicht nur in einem mehr technischen Sinn dadurch, daß die Kriegserklarungen juristisch-formal von Deutschland ausgegangen und dadurch für Deutschland eine gewisse juristische Haftung entstanden war, sondern in einem Deutschland im tiefsten moralisch und ehrenhaft belastenden und belasten wollenden Sinn als der Herbeiführer des Krieges bewußt, gewollt und von langer Hand.

Die klare Zusammenfassung des unter »Urheber« Gemeinten als »Alleinschuld« durch Brockdorff-Rantzau in seiner ersten Entgegnung war nicht eine Überinterpretation, die dem Diktat übersteigernd etwas untergeschoben hat aus Bekämpfungsgründen, sondern es war die genaue Bezeichnung dessen, was gemeint war. Diese seine klare Benennung ist, wie gesehen, auch ohne jeden Widerspruch der Betroffenen geblieben, im Gegenteil, durch die folgenden Erklärungen der Alliierten als richtig unterstrichen worden. Zuletzt nochmals durch den Mitverfasser dieser Erklärungen, Lord Lothian, durch dessen Widerruf.

Quelle: Deutschland in Geschichte und Gegenwart 34(2) (1986), S. 8-14


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