von Zlatko Percinic
Wenn es nicht gerade Supermärkte in Grenznähe zur Schweiz oder in dicht besiedelten Stadtgebieten sind, zeichnet sich oft ein ähnliches Bild ab: Gegen Ende eines Monats sind die Regale zwar voll, aber Kunden fehlen. Woran liegt das? Ein Erklärungsversuch.
Offiziell leben wir in Deutschland in einem reichen Land. „Deutschland ist der Motor Europas“, sagte vor wenigen Jahren Pierre Moscovici, ehemaliger französischer Finanzminister und EU-Währungskommissar. Und deshalb dürfe das Land nicht „für seinen wirtschaftlichen Erfolg bestraft werden“.
Für Dieter Kempf, den Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), geht es Deutschland gut, „sehr gut sogar“. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion attestierte ebenfalls vor der Bundestagswahl 2017, dass es Bundesrepublik Deutschland gutgehe.
Und schaut man sich die Wirtschaftsstatistiken an, dann stimmt das sogar. Das Wirtschaft wuchs in den letzten 25 Jahren – mit Ausnahme von 2003 und 2009 – kontinuierlich, und gemäß diesem Artikel in der Welt leben wir in einer Art goldenem Zeitalter. Wie passt das alles aber zu den vielen gegen Ende des Monats halbverwaisten Supermärkten? Oder zur Verdrängung von Menschen aus Universitätsstädten und Ballungszentren, weil sie sich die Mieten einfach nicht mehr leisten können? Eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung ergab:
Rund 40 Prozent der Haushalte in Großstädten bringen demnach mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für ihre Kaltmiete auf. Das sind rund 5,6 Millionen Haushalte. Gut eine Million Haushalte sind sogar mit mehr als der Hälfte ihres Einkommens dabei.
Dass wir eine Situation haben, in der das alte Credo, dass nicht mehr als 30 Prozent des Einkommens für die Miete verwendet werden sollte, für einen ziemlich großen Teil der Bevölkerung nicht mehr realistisch ist, hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass sich die Zahl der Sozialwohnungen seit 1990 auf beinahe ein Drittel des damaligen Niveaus reduziert hat. Waren es vor 28 Jahren noch fast drei Millionen Sozialwohnungen, so waren es 2016 nur noch 1,24 Millionen, und bis in zwei Jahren soll die Zahl auf 1,07 Millionen sinken.
Und dieser Wohnraum ist gerade für Geringverdiener überlebensnotwendig, die mit einem Jahreseinkommen von 12.000 Euro normalerweise Anspruch auf den sogenannten Wohnberechtigungsschein haben. Wenn Geringverdiener also keinen Zugang mehr zu vom Staat subventioniertem Wohnraum erhalten, müssen sie wohl oder übel auf teurere Wohnungen auf dem normalen Wohnungsmarkt ausweichen, was den Druck auf ihre finanzielle Situation noch weiter verstärkt.
Überhaupt spielt die finanzielle Situation eine ganz zentrale Rolle. Gerade auch, was die Überlebensfähigkeit Deutschlands als Staat betrifft. Schließlich ist es die Mittelschicht, die die Bundesrepublik trägt und ihr erst den Status als „Motor Europas“ ermöglicht hat.
Im Jahr 2014 gehörten 47,8 Prozent der Bevölkerung der Mittelschicht an, 1997 waren es noch 54,8 Prozent. Und zur Mittelschicht gehört, wer als Alleinstehender netto zwischen 1.410 und 2.640 Euro verdient, beziehungsweise zwischen 2.950 und 5.540 Euro netto bei einem Paarhaushalt mit zwei Kindern.
Diese Mittelschicht trägt den Staat mit ihren Steuer- und Sozialabgaben, die ohnehin zu den zweithöchsten Abgaben aller OSZE-Länder gehören. Sie finanziert das Rentensystem und Krankenversicherungen, und auf ihren Schultern lastet die Verantwortung für ein funktionierendes System von Recht und Ordnung.
Sie hat auch nicht die Möglichkeit, wie die sogenannte Oberklasse Steuern zu „optimieren“, sprich mit legalen – und manchmal illegalen – Mitteln zu tricksen, bis sie am Ende weniger in absoluten Zahlen an Steuern und Sozialleistungen bezahlen, als die Mittelschicht. Dafür aber am Ende zu jenem illustren Bereich gehört, deren Vermögen tatsächlich ansteigt.
Nun ist es aber so, dass die Mittelschicht zahlenmäßig abnimmt und die Reallöhne tatsächlich seit Anfang der 1990er-Jahre kaum gestiegen sind. Wie Karl Brenke, Wissenschaftlicher Referent im Vorstand des DIW, schreibt, gingen die Netto-Reallöhne von 2004 bis 2008 sogar zurück, „eine in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Entwicklung“. Sogar Franz Müntefering (SPD), einst Stellvertreter von Bundeskanzlerin Angela Merkel, musste während einer Plenarsitzung im Bundestag einräumen, dass die Reallöhne seit Jahren nicht gestiegen waren.
Wenn also ein Teil der Bevölkerung aus der Mittelschicht verschwindet, weil einfach die Löhne mit den steigenden Preisen nicht Schritt halten oder sie als einstige Beamte durch die Privatisierungswellen nur noch einen Teil ihres vormaligen Einkommens erzielen, dann verschwindet damit auch der Traum der Mittelschicht von zwei Urlauben pro Jahr und einem schicken Auto vor dem eigenen Haus.
Von jenen Menschen, die gar keine Chance mehr haben, in die Mittelschicht mit all ihrer Verlockungen und Versprechen „aufzusteigen“, wie zum Beispiel Verkäuferinnen oder Friseuren, wenn sie nicht gerade Hugo Walz heißen, gar nicht erst zu sprechen.
Das alles führt dann schließlich dazu, dass für viele Menschen, für zu viele Menschen, das Ende des Geldes noch vor Ende des Monats erreicht ist, was sich beispielsweise eben in den jeweils gegen Ende eines Monats verwaisten Supermärkten äußert.