»Eine Geschichte von Lug und Betrug«

von PAZ

Otto Teufel, geboren 1935 in Ingelheim am Rhein, ist gelernter Diplom-Ingenieur. Er arbeitete bis 1996 bei Siemens und wurde dann in den Ruhestand gedrängt. Danach verschlechterte eine rück­wirkende Änderung des Rentenrechts seine Ruhestandsbezüge. Seitdem hat er sich zu einem profunden Kenner und Kritiker des deutschen Rentensystems entwickelt.

Das Interview führte Volker Wittmann.

PAZ: Anfang des Jahres trat ein neues Rentenpaket in Kraft. Sie sind offenbar einer der wenigen, welche die gesetzliche Rentenversicherung durchschauen. Was halten Sie davon?

Otto Teufel: Nach Presseberichten sollen die Beitragszahler die vorgesehenen zusätzlichen Belastungen bezahlen. Genaueres erfährt man leider erst im Nachhinein. Jedenfalls wirken sich die Neuerungen negativ auf die Höhe aller Renten aus.

PAZ: Sie gelten als scharfer Kritiker des Rentensystems in Deutschland. Was gibt es daran zu bemängeln?

Teufel: Das zentrale Problem ist der Griff des Gesetzgebers in die Rentenkasse. Er entnimmt Geld der Beitragszahler, um damit versicherungsfremde Leistungen zu bestreiten. Im Jahr 2005 veröffentlichte die Regierung leider zum letzten Mal, dass sie 65 Milliarden Euro aus der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung abgezweigt hat.

PAZ: Was sind das für Leistungen?

Teufel: Das sind Zuwendungen, die nicht oder nicht in vollem Umfang durch Beiträge der Versicherten gedeckt sind. Dazu gehören zum Beispiel Kriegsfolgelasten oder Entschädigungen für NS- beziehungsweise SED-Unrecht und vieles mehr. Die Wiedervereinigung wurde ja im Wesentlichen aus der Rentenkasse mit bezahlt.

PAZ: Waren das keine sinnvolle Ausgaben?

Teufel: Ich stelle deren Wichtigkeit gar nicht in Frage. Sie erfüllen gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Aber sie müssten deshalb auch mit gesamtgesellschaftlichen Geldern bestritten werden. Stattdessen bürdet der Staat sie allein den gesetzlichen Sozialkassen auf und damit den Angestellten, Arbeitern und Rentnern. Politiker, Selbstständige und Beamte beteiligen sich nicht.

PAZ: Woher rührt diese Ungleichheit?

Teufel: Der Grund dafür ist, dass neben der gesetzlichen Rentenversicherung weitere Systeme der Altersversorgung bestehen. Es gibt berufsständische Versorgungswerke wie zum Beispiel für Ärzte und Rechtsanwälte. Dazu kommt noch eine Gruppe vermögender Leute, die selbst für sich vorsorgen können. Beamte erhalten ihre Pensionen aus öffentlichen Mitteln, genauso Bundestagsabgeordnete. Keiner von denen aber zahlt Beiträge in ein Solidarsystem ein wie Arbeiter und Angestellte. Aber allein aus deren Kassen werden die versicherungsfremden Leistungen erbracht. In einem wirklichen Solidarsystem müssten alle Bürger ohne Ausnahme eingebunden sein. Aber bei der Altersversorgung herrscht in Deutschland eine Zweiklassengesellschaft.

PAZ: Wie sollte es nach Ihrer Meinung geregelt werden?

Teufel: In allen demokratischen Rechtsstaaten Europas gibt es einheitliche Rentenversicherungen. Dänemark, Finnland, die Niederlande, Schweden und die Schweiz haben eine Volksversicherung für alle Bürger. Belgien, Frankreich, Luxemburg, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Österreich, Portugal und Spanien versichern alle Erwerbstätigen. Nur Deutschland hat eine gesonderte Versicherung für abhängig Beschäftigte.

PAZ: Warum macht Deutschland eine Ausnahme?

Teufel: Über Rentenfragen entscheiden bei uns fast ausschließlich solche Personen, die von dem Missstand in keiner Weise betroffen sind. Sie haben nicht das geringste Interesse, daran etwas zu ändern, weil sie von den bestehenden Verhältnissen profitieren. Nicht umsonst haben Bundestag und Länderparlamente es immer wieder abgelehnt, ihre eigene Altersversorgung der gesetzlichen Rentenversicherung anzuvertrauen.

PAZ: Wie kam es zu der Schieflage?

Teufel: Der Sündenfall begann im Jahr 1957, als der damalige Kanzler Konrad Adenauer das Rentensystem ummodelte, um anstehende Wahlen zu gewinnen. Er schaffte das bis dahin gültige Kapitaldeckungsverfahren ab, wie es in etwa für Versicherungen in der freien Wirtschaft bindend ist. An dessen Stelle setzte er das Umlageverfahren, bei dem aus den eingehenden Beiträgen unmittelbar die Renten der Leistungsberechtigten bestritten werden. Gleichzeitig übertrug die Bundesregierung der gesetzlichen Rentenversicherung gesamtgesellschaftliche Aufgaben.

PAZ: Aber der Staat gibt doch seinerseits alle Jahre auch Milliarden an Zuschüssen an die Rentenkasse.

Teufel: Diese sogenannten Zuschüsse waren von Anfang an stets geringer als die Ausgaben für versicherungsfremde Leistungen. In Wirklichkeit wurden Jahr für Jahr Beitragsüberschüsse in Milliardenhöhe abgeschöpft und dem Bundeshaushalt zugeschlagen. Bis zum Jahr 2015 bezifferte sich die Gesamtsumme der abgezweigten Mittel auf rund 900 Milliarden Euro. Das ist fast dreimal so viel wie ein ganzer Jahreshaushalt der Bundesrepublik.

PAZ: Es gab doch immer wieder Rentenreformen wie in diesem Jahr. Haben die Neuregelungen die Lage der Rentner verbessert?

Teufel: Im Gegenteil. Jede Rentenreform hat einschneidende Verschlechterungen gebracht. Langsam aber sicher wurde die Höhe der Renten abgesenkt. Das hat dazu geführt, dass die durchschnittliche Altersrente für Männer nur noch rund 40 Prozent einer durchschnittlichen Beamtenpension beträgt.

PAZ: Könnten die gesetzlich Versicherten ihre Bezüge nicht über die Riesterrente aufbessern?

Teufel: Die Riesterrente wird als staatlich subventionierte Altersvorsorge dargestellt. Doch es handelt sich in Wirklichkeit eher um eine Subventionierung der Versicherungswirtschaft. Das meiste Geld kommt nämlich bei den Versicherungen an, nicht bei den Versicherten. Die müssen 87 Jahre alt werden, damit es sich für sie lohnt. Von dieser Rente gehen 20 Prozent für Provisionen, Gebühren und so weiter ab. Damit wird dieses Finanzprodukt viel zu teuer. Leider haben sich seit Einführung der Riesterrente 2002 etwa 14 Millionen Bürger zu einem Abschluss verleiten lassen. Diese Sparer sind wahre Goldesel für die Versicherungswirtschaft.

PAZ: Wie ist so etwas möglich?

Teufel: Walter Riester von der SPD war mal zweiter Vorsitzender der IG Metall und von 1998 bis 2002 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Aber er war auch Referent eines Finanzdienstleisters und wurde Aufsichtsrat in einem Versicherungskonzern, der Union Investment, dem größten Anbieter von Riesterrenten. Für Werbeauftritte und Vorträge hat er sechsstellige Beträge bekommen. Auch dieses Geld müssen die Riestersparer natürlich erwirtschaften.

PAZ: Es ist oft von einem demografischen Wandel die Rede, wonach immer weniger Junge für immer mehr Alte aufkommen müssten. Was bedeutet das für die Rentenkasse?

Teufel: Solche Schlagworte dienen der gezielten Irreführung. Dafür sorgen hochbezahlte Mietmäuler wie Meinhard Miegel mit seinem Institut für Wirtschaft und Gesellschaft, finanziert durch Spenden von Unternehmern und der Versicherungswirtschaft in Sachen privater Altersvorsorge. Man muss sich doch fragen, warum eigentlich wirkt sich der demografische Wandel nur auf die gesetzliche Rentenversicherung aus und nicht auf die Pensionen der Beamten oder die Ruhestandsbezüge der Politiker? Wir leiden nicht unter einem demografischen Problem, wir leiden unter einer wirtschaftspolitischen Elite, die sich bereichert. Wir haben kein Rentnerproblem, wir haben ein Verteilungsproblem.

PAZ: Woher kommen dann die oft gehörten Aussagen, die Alten lägen den Jungen auf der Tasche?

Teufel: In ständigen Kampagnen der Medien erzählt man den Leuten, Solidarität sei nicht mehr finanzierbar. Damit sollen die Jungen davon abgelenkt werden, dass jede Rentenreform vor allem sie betrifft. Jede Entwertung der Renten entwertet auch ihre Entgeltpunkte. Wichtiger wäre, die Jungen darüber aufzuklären, dass das, was man ihnen heute zusagt, das Papier nicht wert ist, auf dem es steht. Leider merken die Leute nicht, wie sie betrogen werden.

PAZ: Wieso merken sie es nicht?

Teufel: Die Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung ist eine Geschichte von Lug und Betrug durch die Politik, die inzwischen mehr als 60 Jahre andauert. Regierung und Gesetzgeber sorgen nicht für die nötige Transparenz. Es wurde bewusst von Anfang an keine Buchführung über Art und Umfang der einzelnen Leistungen gemacht. Es gibt sie übrigens bis heute nicht. Wenn man Buchführung macht, kann man ja nicht so leicht betrügen. Jeder kleine Handwerker muss genauestens Buch führen und seine Ein- und Ausgaben belegen. Da kann sich der Bürger nur wundern.

PAZ: Sie sind Gründungsmitglied der Aktion Demokratische Gemeinschaft, die versucht hat, die Rechte der Rentner einzuklagen. Wie ist es Ihnen ergangen?

Teufel: Dazu brauchten wir einen Rechtsanwalt. Sie finden aber keinen, der sich mit Rentenrecht auskennt. Es lohnt sich für die nicht, sich in die schwierige Materie einzuarbeiten. Und es wird ja auch bewusst verhindert, dass man eine Sammelklage machen kann. Ich habe dann praktisch für den Rechtsanwalt die ganzen Klagen selbst entworfen. Trotzdem war es richtig teuer. Mitte 1999 haben wir die erste Klage beim Sozialgericht erhoben.

PAZ: Wie ist sie ausgegangen?

Teufel: Die Klage wurde abgewiesen, auch in der nächsten Instanz. Es hat dann länger als zehn Jahre gedauert, bis wir beim Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde einreichen konnten. Wir hatten zwei Beschwerden eingereicht, aber das Bundesverfassungsgericht hat beide Beschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Danach haben wir zwei Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Aber auch diese Herrschaften haben sich nicht mit diesen Beschwerden befasst. Ohne nachvollziehbare Erklärung haben sie diese für unzulässig erklärt. Weitergehende rechtliche Möglichkeiten gibt es nicht.


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