von Wsgljad
Der Giftanschlag auf den russischen Ex-Doppelagenten Sergej Skripal hat im Westen Angst vor Morden ausgelöst, die „russische Agenten“ in anderen Ländern begehen könnten. Aber die Geschichte kennt auch jede Menge Morde, für die ausgerechnet die britischen, und nicht die russischen bzw. sowjetischen, Geheimdienste verantwortlich sind.
Dieses Thema warf die offizielle Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, neulich im staatlichen TV-Sender „Rossija-1“ auf. Nach ihren Worten waren die Briten „schon immer große Meister, wenn es um die Darstellung ihrer Verbrechen als Verbrechen anderer ging“.
Zum ersten Mal hatte sich Sacharowa zu diesem Thema noch im April geäußert – und damit für großes Aufsehen gesorgt. Damals verwies sie darauf, dass sich die Briten möglicherweise mit den Morden am russischen Kaiser Paul I. im Jahr 1801 und an Grigori Rasputin 1916 beteiligt hätten. Diesbezüglich gibt es jedenfalls immer noch viele Gerüchte.
Aber während es wohl kaum Beweise für die Aktivitäten der Geheimdienstler in alten Zeiten gibt, ist es ein offenes Geheimnis, dass im 20. Jahrhundert viele bekannte Schriftsteller, Dichter und Journalisten mit Geheimdiensten zusammenwirkten, beispielsweise William Somerset Maugham, Graham Greene, Ian Fleming, John Le Carre, Frederick Forsyth usw. Und früher hatten auch Jonathan Swift und Daniel Defoe dasselbe getan.
Im Unterschied zum kontinentalen Europa, wo Spionage nie als würdige Aktivität für den traditionellen Adel galt, weil man zu dem Zweck seinen „adligen Geist“ unterdrücken, seinen Ehrenkodex „vergessen“ musste usw., sah man auf der Insel nie etwas Schlimmes darin, andere Länder auszuspähen und eventuell Menschen zu töten, um die eigenen politischen Interessen voranzubringen.
Abgesehen vom tödlichen Unfall von Prinzessin Diana, in dessen Zusammenhang es viele Vermutungen gab, ob er nicht von den Geheimdiensten Ihrer Majestät organisiert worden war, wurde wohl der Mord an Patrice Lumumba, dem ersten Ministerpräsidenten Kongos nach dem Erlangen der Unabhängigkeit dieses Landes von Belgien 1960, zum aufsehenerregendsten Ereignis dieser Art.
Zunächst hatte man den Mord an Lumumba den belgischen Militärs und sogar dem König Baudouin vorgeworfen, dessen persönlicher Feind Lumumba angeblich gewesen war, nachdem er während Baudouins Besuch in Kongo das Protokoll verletzt und eine ursprünglich nicht geplante Rede gehalten hatte. Dabei beleidigte er den König und sagte unter anderem: „Wir sind nicht mehr Eure Affen!“ („Nous ne sommes plus vos singes!“).
Brüssel behauptete seinerseits, Lumumba könnten afrikanische Wilde entführt, gefoltert und am Ende getötet haben, doch dafür gab es keine direkten Beweise.
Dann hieß es, Lumumba könnte von den Amerikanern getötet worden sein, denn es habe sich herausgestellt, dass US-Präsident Dwight Eisenhower die Initiative der CIA zur Eliminierung Lumumbas befürwortet hätte. Am Ende wurde beschlossen, den kongolesischen Regierungschef zu entführen und den dortigen Stämmen zu überlassen, die schon wussten, was sie zu tun hatten.
Aber 2010 wurde auf einmal bekannt, dass die Schlüsselrolle in dieser ganzen Geschichte die Baronin Daphne Park – bekannt als „Königin der britischen Nachrichtendienste“ und „James Bond im Rock“ – innehatte, die mehr als 30 Jahre ihres Lebens dem Geheimdienst gewidmet hatte. 1960 war Park Konsulin in Leopoldville (jetzt Kinshasa) und hatte Lumumbas Entführung höchstpersönlich organisiert. Die CIA leistete dabei „technische Unterstützung“, und gefoltert wurde der kongolesische Premier von den Wilden, die entsprechende Befehle von den Belgiern bekamen.
Diese Information veröffentlichte niemand geringerer als Sir David Edward Lea, Baron of Crondall, Mitglied des House of Lords und eine weitere Legende des britischen Nachrichtendienstes. Bis dahin war er nie dafür bekannt, Desinformationen zu verbreiten. Und Lea behauptete, die Baronin Park, die nie verheiratet gewesen war und keine Kinder hatte, hätte ihm über den Mord an Patrice Lumumba wenige Monate vor ihrem Tod erzählt.
Aus irgendwelchen Gründen beschloss ausgerechnet die britische Botschaft in Moskau, diese Information zu dementieren, obwohl sie mit der Lumumba-Geschichte erst gar nichts zu tun hatte. Ein Sprecher der Botschaft erklärte, dass diese Behauptung
„den früheren Kommentaren Lady Parks zu diesem Thema nicht entsprechen“. „Wie das Foreign Office, die Führung des Geheimdienstes und die 2010 verstorbene Lady Park selbst zuvor erklärt hatten, begeht die britische Regierung keine Morde und beauftragt niemanden damit“,
hieß es in der entsprechenden Mitteilung. Das war ja echt rührend, doch kaum überzeugend.
Ihren Höhepunkt erreichten solche Einsätze des MI6 in den 1970er Jahren. 1976 wurde in Nigeria das damalige Oberhaupt, General Murtala Muhammed, getötet. Ein Jahr später wurde in Uganda der Erzbischof Janani Luwum ermordet, der sich mit dem Diktator Idi Amin und dem britischen Botschafter zerstritten hatte. Im selben Jahr wurde – wieder in Kongo – ein weiterer prosowjetischer Politiker, nämlich Marien Ngouabi getötet. Die Ermittlung dieses Mordes wurde immer noch nicht abgeschlossen, und damit sind wieder etliche Verschwörungstheorien verbunden. Denn nur einen Tag später wurde Kardinal Emile Biayenda gekidnappt und ermordet, mit dem sich Ngouabi vor seinem Tod getroffen hatte. Und Marien Ngouabi Jr. kam später unter unklaren Umständen ums Leben. In der Sowjetunion erklärte man damals offen, Ngouabis Ermordung sei das Ergebnis einer Verschwörung äußerer Kräfte gewesen.
Auch im Jemen waren die Briten immer sehr aktiv. 1977 wurde dort der immer noch populärste Politiker in der Geschichte dieses Landes, der Präsident Nordjemens, Oberst Ibrahim al-Hamdi, getötet. Und ein Jahr später folgte der Mord am Präsidenten Südjemens, Salim Rubai Ali, der gegen die britischen Kolonisten gekämpft hatte.
Diese Verbrechen wurden lange den dortigen Stämmen vorgeworfen, die von Saudi-Arabien beeinflusst wurden, das sich unter keinen Umständen die Vereinigung des Jemens gefallen lassen konnte. Aber in Wahrheit hatten immer die Briten hinter den meisten Umstürzen und Morden im Jemen gestanden, für die dieses Land ein sehr wichtiger Teil ihres Reiches war und mit dessen Verlust sie sich nicht abfinden konnten.
Indem London Moskau die Tötung von ausländischen Politikern vorwirft, bezieht es sich im Grunde auf eine sehr kurze Zeit in den 1950er Jahren, als die sowjetischen Geheimdienste tatsächlich mehrere Vertreter des ukrainischen nationalistischen Untergrunds (Stepan Bandera, Lew Rebet) in Deutschland und einigen anderen Ländern beseitigten. Aber seit den 1960er Jahren verzichtete man in Moskau auf diese Methode.
Aber es ist nahezu sinnlos, die Briten auf diesen wichtigen Umstand aufmerksam zu machen. Zumal sie die Aktivitäten ihrer Agenten in anderen Ländern traditionell als Heldentaten und nicht als Verbrechen bewerten. Daran wird auch die jetzige Epoche der politischen Korrektheit nichts ändern. Schließlich ist der Roman- und Leinwandspion mit der „Lizenz zum Töten“ eine Gestalt aus der britischen, und nicht aus der russischen Welt.