von Andreas Richter
In Brüssel versammeln sich die Staats- und Regierungschefs der EU zu einem weiteren Gipfel. Die immergleichen Rituale und Reden täuschen darüber hinweg, dass die EU in ihrer bisherigen Form erledigt ist. Eine weitere Integration wird es nicht geben.
Natürlich gibt es die EU noch, ihre Organe arbeiten zuverlässig und bürokratisch wie eh und je. Und sie beglückt die Bürger ihrer Mitgliedsstaaten immer noch mit absurden und unnötigen Vorschriften. Jüngstes Beispiel: Die neuen Berliner S-Bahn-Züge, die ab 2021 eingesetzt werden sollen, bekommen aufgrund einer EU-Richtlinie ein neues und besonders nervig piepsendes Türschließsignal. Kein Dü-Di-Dü mehr in Berlin.
Ärgernisse wie dieses dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU seit mindestens drei Jahren nicht mehr funktioniert. Die Staats- und Regierungschefs, die sich am Mittwochabend zu einem neuen Gipfel in Brüssel versammelt haben, finden in wichtigen Fragen keine gemeinsame Linie mehr. Statt zu wirklichen Kompromissen kommt es seit Jahren nur noch zu gesichtswahrenden Scheinlösungen. In immer mehr Staaten gewinnen sogenannte populistische Parteien an Bedeutung, die eine weitere Integration ablehnen.
Der sich derzeit zuspitzende Konflikt zwischen der EU-Kommission und der italienischen Regierung könnte die Krise der EU offen zu Tage treten lassen und die Existenz des Euro in Frage stellen. Während der Euro-Krise ab 2010 gelang es Deutschland noch, die EU auf den deutschen Pfad der Austerität zu bringen und die griechische Regierung 2015 brutal zur Unterwerfung zu zwingen.
Bei Italien wird das nicht funktionieren. Italien ist zu groß, seine Schulden sind auch für die EU und die Banken ein Problem. Und die italienische Regierung ist – anders als die griechische – entschlossen und vorbereitet, im Fall der Fälle den Ausstieg aus dem Euro zu wagen. Welche Folgen ein solcher Schritt für die Union und ihre gemeinsame Währung hätte, ist nicht abzusehen.
Die Währungsunion war von Anfang an eine Fehlkonstruktion. Der Euro hat den Ländern des Südens enorm viel Wachstum und Wohlstand gekostet, während er der deutschen Wirtschaft einen enormen Exportboom beschert hat. Die Ungleichgewichte sind nicht kleiner, sondern größer geworden, so dass ein Ende mit Schrecken statt des Schreckens ohne Ende immer wahrscheinlicher wird.
Das zweite große Thema, an dem das Scheitern der europäischen Integration sichtbar zu Tage tritt, ist die Flüchtlingsfrage. Nachdem die deutsche Bundeskanzlerin die Dublin-Regelung im Jahr 2015 erst für obsolet, dann wieder für gültig erklärte, sorgt das Thema für dauerhaften Streit. Die Meinungen und Interessen in dieser Frage sind in der Union so gegensätzlich, wie sie nur sein können.
Das dritte Thema entstand gewissermaßen als Nebenwirkung des zweiten: der Brexit. Angela Merkels Flüchtlingspolitik spielte für das Votum der Briten eine entscheidende Rolle, sie befeuerte die ohnehin vorhandene migrationsskeptische Stimmung. Die EU bemüht sich, dem Vereinigten Königreich den Weg zum Brexit so steinig wie möglich zu gestalten, schon um mögliche Nachahmer abzuschrecken. Dabei könnte dieser für die Briten, anders als oft zu lesen, durchaus zu einem Erfolg werden.
Auch das vierte Problemthema hat mit Angela Merkels Flüchtlingspolitik zu tun. Sie trug dazu bei, dass die Osteuropäer lernten „Nein“ zu sagen und sich eine Kluft zwischen West- und Osteuropa auftat, die sich nicht mehr schließt.
Für keines der hier nur kurz angerissenen Problemfelder zeichnet sich eine Lösung ab. Auch wenn die EU in ihrem gegenwärtigen Zustand noch Jahrzehnte dahinvegetieren kann, ist ein teilweises oder vollständiges Auseinanderbrechen aus heutiger Sicht deutlich wahrscheinlicher als eine weitere Integration. Denkbar wäre auch eine Neuerfindung der EU in ihrer früheren Form, als ein Staatenbund mit einem gemeinsamen Wirtschaftsraum.
Die Schlüsselrolle bei allen hier skizzierten Problemen der Europäischen Union lag bei Deutschland. Mit ihrem Austeritätsdiktat hat die deutsche Regierung zu den Wohlstandsverlusten im Süden des Kontinents entscheidend beigetragen. Sie hat auch mit dafür gesorgt, dass Ressentiments zwischen den Völkern wiederbelebt wurden, die man lange überwunden geglaubt hatte.
Die BRD übte in den vergangenen Jahren eine wirtschaftliche und teilweise auch politische Hegemonie über EU-Europa aus. Das Ausüben der politischen Hegemonie erfolgte aber eher unwillig und derart ungeschickt, dass sie nicht von Dauer sein konnte. Wenn Merkel von „europäischen Lösungen“ spricht, versteht der Rest der EU sehr wohl, dass sie die Umsetzung deutscher Vorstellungen auf europäischer Ebene verlangt. Und genau das funktioniert nicht mehr.
Merkel dürfte, im völligen Kontrast zu ihrer europafreundlichen Rhetorik, als die Person in die Geschichte eingehen, die den Sprengsatz an die Europäische Union gelegt und die Lunte gezündet hat, mit ihrer Flüchtlingspolitik als eines der größten politischen Eigentore unserer Zeit.
Für die Bürger wird ein Ende der EU in ihrer heutigen Form keine schlechte Nachricht sein. Vielleicht besteht sogar für das Dü-Di-Dü der Berliner S-Bahn noch Hoffnung.