von Michael Kouklakis
Ich frage mich oft, wie es sein kann, dass Europa so schnell degenerieren konnte. Gehen wir 100 Jahre zurück. Oder besser: 104 Jahre, in den Frühling 1914, so sieht Europa aus wie ein Freilichtmuseum, die Welt – wenigstens dort, wo Europa herrscht – wie ein einziger großer Nationalpark.
Das Gebrabbel der Kanzlerin, man habe sich an Afrika während der Kolonialzeit versündigt, ist fast ohne jede historische Grundlage und dient der Rechtfertigung der Umvolkung – nicht dem Kontext geschichtlicher Verantwortung. Wäre sie von historischer Wiedergutmachung getrieben, würde sie den Export von Agrarprodukten stoppen, der den primären Sektor der Dritten Welt zerstört und sie würde jeden Waffenverkauf an Länder stoppen, die damit sich und ihre Nachbarn umbringen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind das die allermeisten.
Natürlich gab es schreckliche Verbrechen, wie in der ganzen Weltgeschichte. Man denke an den Kongo, wo Belgier sich aufführten wie die Machete heutzutage im Urwald Berlins. Aber im Ganzen waren so ziemlich alle Kolonien beschauliche Ländereien und Verlustgeschäfte, welche der kleine europäische Arbeiter finanzieren musste und je spürbarer die europäische Präsenz in einer Region war, desto besser ging es den Ureinwohnern. Beispiel: Rhodesien, Südafrika, Algerien, Libanon und Ägypten.
Indien und China sind Sonderfälle. Doch auch dort herrschten ohne Kolonialismus wohl heute noch Zustände wie im 17. Jahrhundert.
Hygiene, Organisation der Landwirtschaft, Alphabetisierung, Medizin, frühindustrielle Mechanisierung – das waren die Ergebnisse der Kolonialzeit. Ausbeutung fand andersherum statt; Kolonien waren Elitenprojekte und ihre Kosten wurden den Einwohnern der Mutterländer abgepresst. Ein Grund, warum Deutschland die großen Kolonialmächte abgehängt hat, war, dass Deutschland kaum und nur kurz ein Kolonialreich hatte. Die USA hatten de jure keine Kolonien und überflügelten alle. Portugal und Spanien blieben mit ihren frühen Kolonien bin ins 20. Jahrhundert hinein Entwicklungsländer – die einstigen Supermächte wurden von ihren Kolonialkosten aufgefressen.
In den allermeisten Kolonien der Moderne ging es den Menschen hervorragend. Die Kindersterblichkeit sank, es gab keine Hungersnöte mehr und bescheidener Wohlstand begann sich zu entwickeln. Die Ureinwohner der Amerikas und die Völker im Einflussbereich arabischer Sklavenhändler hatten weniger Glück. Die Mogulkriege in Zentralasien und Indien kosteten über 200 Millionen Menschen das Leben – die meisten Regionen wurden islamisiert oder entvölkert. Indien hatte Glück, als die Briten kamen und dem Spuk ein Ende machten.
Die Probleme in den Mandatsgebieten begannen nach dem 2. Weltkrieg, die Bevölkerungen wuchsen und Europa hatte sich zum zweiten Mal in 30 Jahren die Augen aus- und die Hände abgeschnitten. Anfangs noch Freiheitsbewegungen, stellten sich die Unabhängigkeitsbemühungen der Kolonialreiche als totalitäre Usurpationen heraus, die überall zu Armut, Elend und Chaos führten. Unruhe stiftete die entwickelte Welt dort erst nachdem man die Kolonien aufgegeben hatte – das dann dafür aber umso gründlicher. Das sagt Merkel aber nicht, denn sonst müsste sie erklären, weshalb man weiterhin den Völkermord im Jemen und den Terrorismus der Palästinenser gegen Juden unterstützt, weshalb man in Mali Truppen stehen hat und halb Syrien mit Sozialhilfe gelockt und entvölkert hat.
Doch zurück ins Jahr 1914. Stellt Euch Städte vor, in denen die ärmlichsten Arbeitersiedlungen hübscher aussahen, als jeder Neubau heute. Pracht und Erhabenheit, Verwahrlosung wurde erkannt, benannt und bekämpft, statt gehegt und verhätschelt. Das Einkommen stieg kontinuierlich, allen ging es jedes Jahr ein bisschen besser, da der Fortschritt eine Dynamik entwickelt hatte, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Zwar machen Elektronik und Medizin auch heute gewaltige Sprünge, doch eine breite gesellschaftliche Entwicklung von Technik und Wissenschaft gibt es nicht mehr. Der Schwung ist erlahmt und die Ressourcen werden staatlicherseits nach Linientreue und mit Ergebnisvorgabe verteilt. Heraus kommt damit keine bahnbrechende Theorie wie man sie zwischen 1850 und 1930 hundertfach entdeckte, sondern Debatten über Integration von Barbaren, Sexismus und Gendergeschwätz. Dieser Pseudofortschritt macht alle ärmer, am Ende selbst seine parasitären Nutznießer. Egalitarismus macht (fast) alle gleich arm und gleich dumm.
Stellt Euch vor, es gibt Fabriken mit 30-, 40-, 100-tausend Arbeitern. Menschen, die nach dem Tagwerk von Gewerkschaften (!) an Weiterbildung teilnehmen, um sich und ihren Kindern den sozialen Aufstieg zu ermöglichen und dies auch schaffen. Enormer Wohlstand wird akkumuliert und so ziemlich alles worauf wir heute unseren Alltag gründen, wurde damals erfunden. Von der Solarzelle bis zur Funktionsweise von elektronischen Computern.
Es gab neben einem breiten Bildungsbürgertum als Basis eine freie Wissenschaft und eine freie Presse. Mutige Frauen erstritten Wahlrecht und Gleichberechtigung, und man konnte sich überall auf der Welt niederlassen und neu anfangen, wenn man bereit war Leistung zu erbringen. Die privaten Wohlfahrtsorganisationen wetteiferten um Spenden und demonstrierten, wie effektiv sie bei der Unterstützung Bedürftiger waren. Bis auf Deutschland, welches damals schon mit einem Bein im Nationalsozialismus stand, wäre niemand auf die Idee gekommen, die christliche Pflicht zur Nächstenliebe an den Staat zu delegieren, der damit ein steuerfressendes Monster organisierter Amoralität wird.
Es gab gedeckte Währungen, Geldentwertung war unbekannt – man konnte höchstens Pech haben und der Silberpreis fiel, weil irgendwo eine neue superergiebige Miene erschlossen wurde.
Es gab Wälder. Wälder! Keine Forste. Die Industriegiganten gingen daran die Flüsse zu reinigen und von Kohle auf Gas und Öl umzurüsten.
Jeder versuchte adrett auszusehen und sich Manieren zu befleissigen, um nicht als Wilder zu gelten. Es gab kaum Alltagskriminalität und die Mittelschicht konnte sich Personal leisten, welches oft zu Mitgliedern der erweiterten Familie wurde und seinen gesellschaftlichen Status verbesserte.
Nationen und Großunternehmen wetteiferten um Prestige, es gab wieder Olympiaden und das hellenistische Bildungsideal führte dazu, dass ab der Mittelschicht aufwärts jeder Latein und/oder Griechisch sprach.
Steuern und Abgaben waren so gut wie unbekannt, die Staaten finanzierten sich durch Einfuhrabgaben und Konsumsteuern. Im deutschen Reich finanzierte man den Aufbau der Hochseeflotte mit der Schaumweinsteuer – es gibt sie bis heute. Also die Steuer, die Flotten nicht mehr.
Die Bürger engagierten sich für ihre Kommunen, als freiwillige Feuerwehr etwa. Frauen übernahmen Krankenpflege ehrenamtlich und hatten im Schnitt fünf Kinder.
Kunst und Kultur erblühten, die Literatur experimentierte und man las, las, las.
Dann wurde Europa plötzlich verrückt und zog in den 1. Weltkrieg. Die ,,Lichter gingen aus“, wie es ein Brite formulierte. Europa zerfleischte sich – alles was seit Beginn der Industrialisierung an Kapital erschaffen wurde, wurde auf den Schlachtfeldern vernichtet.
Der Leuchtturm der Welt strahlte danach aber noch. Schwächer zwar, aber er strahlte. Dann kam Hitler und es war vorbei mit der Pracht und Herrlichkeit.
Seither geht es nurmehr bergab. Und kaum jemand hat noch den Ehrgeiz, wirklich etwas zu verbessern – am wenigsten sich selbst.