Deutschland und Polen im Spiegel amerikanischer Geheimdokumente

von Dr. Alfred Schickel

Durch den provozierenden Papst-Besuch im deutschen Schlesien ist das deutsch-polnische Verhältnis, an dem sich der Zweite Weltkrieg entzündete, erneut in den Vordergrund der Diskussion gerückt.

Unser Mitarbeiter, der sich als zeitgeschichtlicher Wahrheitsforscher in den letzten Jahren einen Namen gemacht hat, stieß bei einem kürzlichen Studienaufenthalt in den USA

»auf neues Quellenmaterial, welches das überlieferte Bild von der Vergangenheit ergänzen oder auch korrigieren kann«,

wie er uns zu dem nachfolgenden Beitrag schrieb. Wir sehen in Schickels Forschungsergebnis weit mehr: die Bestätigung für die von Hamilton Fish in seinem sensationellen Buch »Der zerbrochene Mythos« angeprangerte Kriegstreiberei Roosevelts. Dazu gehört, wie dieser US-Präsident durch einen seiner engsten und wichtigsten Vertrauten, William C. Bullitt, den er zu seinem ersten Botschafter bei Stalin gemacht hatte, die guten deutsch-polnischen Vorkriegsbeziehungen, deren Fortbestehen den Zweiten Weltkrieg unmöglich gemacht hätte, torpedieren ließ.

Ein Mittelstaat wie die Republik Polen sah vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Botschaftern, Senatoren oder Abgeordneten bereits bedeutsame politische Figuren. Das wurde beispielsweise beim »Privatbesuch« des Botschafters William C. Bullitt in Warschau deutlich.

Da berichteten die polnischen Zeitungen ausführlich über Ankunft, Aufenthaltsdauer und Aktivitäten des amerikanischen Besuchers und stellten ihn auch als Privatmann ihren Lesern vor.

Schließlich »war er der vierte prominente Amerikaner, der nach Gouverneur Earle, Senator Guffey und Kongreßmann Lambeth Warschau in letzter Zeit besucht hat«,

wie die Warschauer Zeitung »Express Poranny« am 14. November 1937 schrieb – obwohl er seine Visite lediglich als persönlicher Freund des USA-Botschafters in Polen, Drexel Biddle, machte und keinerlei offizielle Funktion an der Weichsel wahrzunehmen hatte. Seine frühere Stellung als Sekretär des Präsidenten Woodrow Wilson wie auch seine aktuelle Position als amerikanischer Botschafter in Paris reichte in den Augen der Polen hin, um ihn mit solcher Aufmerksamkeit zu bedenken und auch zu vermelden,

»daß Botschafter Bullitt Witwer ist und eine 15 Jahre alte Tochter hat, die für ihre Schönheit und Intelligenz gleichermaßen bekannt ist«.

Daß auch das regierungsamtliche Polen den amerikanischen Gast aus Paris offiziell zur Kenntnis nahm, schien daher fast selbstverständlich und drückte sich in einem Gespräch mit dem polnischen Außenminister Jozef Beck am 16. November 1937 aus, dem dann noch ein Dinner »in honor of Mr. Bullitt« folgte.

So kann es der Zeitgeschichtsforscher bei der Durchsicht der einschlägigen Geheimberichte der US-Botschaft in Warschau vom November 1937 lesen. Er erfährt aus ihnen auch, daß Bullitt als ein Freund Präsident Roosevelts galt und den Ruf »einer der hervorragendsten Fachleute in Außenpolitik« genoß, der auch US-Außenminister Cordell Hull eng verbunden war.

In der Tat gehörte der aus Philadelphia gebürtige, von französischen Einwanderern abstammende William Christian Bullitt, dem im Herbst 1937 gerade die Ehrenbürgerschaft von Nimes verliehen worden war, zu den persönlichen Freunden und Beratern Roosevelts, der ihn gern mit »My dear Bill Buddha« anredete, er verwaltete im diplomatischen Dienst der Vereinigten Staaten bislang ebenso exponierte wie wichtige Botschafterposten. Dazu gehörte auch seine Entsendung als erster Missionschef der USA (nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen) in die sowjetische Hauptstadt im Spätherbst 1933. Seit 1936 leitete er die USA-Botschaft in Paris und sollte diesen Posten bis 1941 beibehalten.

Seine Besuche und Auftritte erregten immer Aufmerksamkeit und hatten letztlich nie bloß »streng privaten Charakter«, wie er sie gern in der Öffentlichkeit herabzuspielen suchte. Das zeigte sich auch bei seinem halbwöchigen Besuch Mitte November 1937 in Warschau. Nicht umsonst traf sich der polnische Außenminister Beck dreimal mit dem »Privatgast« aus Paris und führte auch ein Vieraugengespräch mit ihm, wie der amerikanische Botschaftsbericht vom 17. November 1937 ausweist.

Darunter war im übrigen eine unprotokollarische »Selbsteinladung« des polnischen Außenministers zu einem »Kotelett-Essen« in der amerikanischen Botschaft am 17. November 1937, die nach dem Bericht Drexel Biddles »eine reizende und interessante Gelegenheit mit freimütiger und vertraulicher Unterhaltung« gewesen ist.

Die Quintessenz der von Bullitt geführten Gespräche schlug sich schließlich in vier vertraulichen Memoranden nieder, die US-Botschafter Biddle mit seinem zusammenfassenden Bericht vom 26. November 1937 »streng vertraulich« an Außenminister Hull sandte.

1937: Polen auf Hitlers Seite

Das »Memorandum A« beschäftigte sich mit der Entwicklung in Sowjetrußland und den von Stalin gerade durchgeführten »Säuberungen«. Der ehemalige US-Botschafter in Moskau, William Christian Bullitt, unterhielt sich über dieses Thema mit dem neuernannten japanischen Missionschef in Warschau, Sako, und kam dabei zu der Erkenntnis, daß die stalinistischen Verfolgungen die Sowjetunion momentan weitgehend inaktiv machten. Eine Einschätzung, die Bullitt auch ein Jahr später noch vertreten wird und deretwegen er Moskau vorläufig außerhalb einer Anti-Hitler-Koalition sah.

In »Memorandum B« geht es neben einer allgemeinen »Tour d’horizon« der politischen Lage in Großbritannien, Frankreich und in der Sowjetunion besonders um das deutsch-tschechische Verhältnis und um den Antisemitismus in Mittelosteuropa. Danach hat der polnische Außenminister Beck der Auffassung Bullitts, daß Frankreich bei einem deutschen Angriff auf die Tschechoslowakei »marschieren würde«, entschieden widersprochen, und zwar »hauptsächlich wegen seiner innenpolitischen Lage«.

Seiner Meinung nach hat Frankreich bereits 1936 mit der ausgebliebenen Reaktion auf Hitlers Rheinland-Besetzung Schwäche gezeigt und damit seine Haltung gegenüber ähnlichen Vorkommnissen angedeutet. Entsprechend gedachte dann auch Polen sein Verhältnis zum Deutschen Reich zu gestalten; das hieß: wenn Deutschland für seine Volksangehörigen in der Tschechoslowakei Autonomie forderte, wollte dies Polen auch für seine Minderheit im Gebiet Teschen reklamieren.

Die ein Jahr später, im Oktober 1938, gemeinsame Vorgehensweise von Deutschland und Polen gegen die ÜSR wurde demnach hier bereits anvisiert und damit Washington rechtzeitig genug über die wahrscheinliche Lösung der nachmaligen Sudetenkrise ins Bild gesetzt. Zumindest war nach diesem Gedankenaustausch zwischen Beck und Bullitt klar, daß sich Warschau den jeweiligen Schritten Berlins anschließen werde. Das bedeutete, daß eine etwaige Abtrennung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei und eine Einverleibung in das Deutsche Reich folgerichtig auch eine polnische Annexion des Teschener Landes durch Polen nach sich ziehen würde, wie dies dann auch mit Vollzug des Münchener Abkommens geschehen ist. Die Warschauer Außenpolitik verfolgte also in jenen Monaten eine parallele Linie zur Berliner Tschechenpolitik.

Deutsch-polnische Übereinstimmung in der Judenfrage

Ähnlichkeiten wies die polnische Politik zur Praxis der deutschen auch auf dem Felde der Judenbehandlung auf. Dabei ging es schlicht um das Bestreben der deutschen wie der polnischen Regierung, möglichst viele Juden zur Emigration zu bewegen. Freilich lebten in Polen damals auch fast sechsmal mehr jüdische Einwohner als im Deutschen Reich, nämlich knapp drei Millionen. Sie machten rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus, während die fünfhunderttausend deutschen Juden nicht einmal ein Prozent der Einwohnerschaft Deutschlands darstellten.

Nach dem »streng vertraulichen« Memorandum B der US-Botschaft in Warschau waren sich Beck und Bullitt darin einig, die prozentual überzähligen Juden nicht in ein einziges Land umzusiedeln, sondern »weitverbreitet« ins Ausland zu bringen.

Im »streng vertraulichen Memorandum C« gibt die amerikanische Botschaft im wesentlichen die Lagebeurteilung des polnischen Marschalls Rydz-Smigly wieder, die dieser beim Vierer-Gespräch mit Außenminister Beck, Botschafter Bullitt und Botschafter Biddle abgegeben hatte. Sie gipfelte in der Feststellung, daß weder die Franzosen noch die Sowjets im Augenblick in der Lage seien, eine militärische Intervention durchzuführen, womit sich Rydz-Smigly in völliger Übereinstimmung mit seinem Außenminister befand. Botschafter Biddle vermerkte dies auch in seiner Niederschrift.

Im vierten Memorandum (»Memorandum D«) hielten Bullitt und Biddle das polnische Großmachtstreben fest und beschrieben Warschaus – beziehungsweise Außenminister Becks – Vorstellungen von der möglichen Rolle Polens in Europa.

Als »Drittes Europa« im Osten des Kontinents wollte es sich nicht nur als Großmacht etablieren und die Region von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer beherrschen, sondern sich auch auf selbstbewußte Distanz zur Sowjetunion und zum Deutschen Reich halten; eine Politik, die Washingtons Interesse und Beifall finden mußte, da sie sowohl der bolschewistischen Diktatur als auch dem NS-Regime die Stirn bot – und darauf legte die Rooseveltsche Europa-Politik großes Gewicht.

Die im November 1938 und zu Anfang 1939 zwischen Bullitt und polnischen Diplomaten geführten Gespräche in Paris und in Washington verdeutlichten dann noch die Absicht Roosevelts, Polen jede mögliche Hilfestellung gegen eine etwaige deutsche Bedrohung zuzusichern, um damit ein weiteres Ausgreifen des NS-Reiches auf Osteuropa zu verhindern.

Beiderseitige Entspannungsbemühungen

Zur Zeit des Bullitt-Besuches erschienen freilich die deutsch-polnischen Beziehungen weder feindselig noch gespannt; vielmehr hatten Berlin und Warschau wenige Tage vor Eintreffen des amerikanischen Spitzendiplomaten an der Weichsel ein Minderheiten-Abkommen geschlossen, das die bisherigen Belastungen des beiderseitigen Verhältnisses abzubauen geeignet war. Im Zusammenhang mit dieser Vereinbarung empfingen synchron am gleichen Tage, dem 5. November 1937, Reichskanzler Hitler in Berlin Vertreter des »Bundes der Polen in Deutschland« und der polnische Staatspräsident Moscicki eine Abordnung der deutschen Minderheit in Polen zur Demonstration der beiderseitigen Verständigung.

Und was die Haltung Warschaus zu den deutsch-tschechischen Spannungen betraf, so hegte man an der Weichsel kaum freundlichere Gefühle gegenüber Prag, nachdem Anfang 1937 ein Buch des tschechoslowakischen Gesandten in Bukarest, Jan Seba, erschienen war (»Rußland und die Kleine Entente«), in welchem sich der Autor für eine gemeinsame Grenze zwischen der ČSR und der Sowjetunion einsetzte – und zwar – wie man in Warschau feststellte, auf Kosten Polens.

Nach Meinung polnischer Kreise, die Marschall Rydz-Smigly nahestanden, stellte dieses Buch, dem der amtierende tschechische Außenminister Krofta ein Vorwort gewidmet hatte, einen weiteren Schritt Prags zu seiner Rolle als »Vorhut der Sowjetunion im Kriegsfalle« dar. Bekanntlich wird Berlin ein Jahr später denselben Verdacht gegen die Tschechoslowakei hegen und von einem bewußten Zusammengehen Prags mit Moskau sprechen. Das geht neben anderen Quellen auch aus den amerikanischen Botschaftsberichten aus Berlin während der sogenannten Sudetenkrise im Sommer 1938 hervor.

Die Zeit guter Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen setzte sich auch im folgenden Jahr fort. Da hielt sich Anfang Januar 1938 der polnische Außenminister für einige Tage in Berlin auf und wurde sowohl von Hitler als auch vom Reichsaußenminister und »weiteren führenden deutschen Staatsmännern« zu Gesprächen empfangen.

Und als im März 1938, im Zuge der Angliederung Österreichs an Deutschland (»Anschluß«), die ausländischen Missionen in Wien geschlossen wurden, hat Polen nicht das Beispiel Bulgariens oder der Schweiz übernommen und seine bisherige Gesandtschaft in ein Generalkonsulat umgewandelt, sondern seine diplomatische Mission ohne Ersatz aufgelöst, was den deutschen Wünschen am meisten entsprach.

In der sich immer deutlicher abzeichnenden Sudetenkrise bewahrte Warschau weiterhin wohlwollende Neutralität gegenüber Berlin und zeigte sich zuweilen ausgesprochen germanophil, obwohl sich der einstige Ministerpräsident und frühere Heeresminister, General Ladislaus Sikorski, laut amerikanischem Botschaftsbericht vom 4. November 1937 in einem vielbeachteten Aufsatz für den Kurs »Weder mit Deutschland noch mit Rußland« ausgesprochen hatte und sich in Armeekreisen ein antideutsches Gefühl zu regen begann.

Warschau verständigt sich mit Berlin

So verdächtigte die polnische Regierung die Tschechoslowakei nach wie vor latenter Sympathien für den Kommunismus und richtete am 30. März 1938 eine Protestnote an Prag gegen die antipolnische Tätigkeit von Angehörigen der Komintern und der Kommunistischen Partei im Grenzgebiet zu Polen und zeigte sich von der tschechischen Antwortnote nicht ganz befriedigt.

Desgleichen bemängelte die polnische Öffentlichkeit die Minderheitenpolitik der Prager Regierung und forderte für die polnische Minorität in der ČSR Autonomie und »Entschädigung für die Verluste, welche die polnische Bevölkerung seit 1918 erlitten hat« – ähnlich den Erwartungen, die man in Berlin gegenüber der tschechischen Staatsführung in jenen Monaten hegte.

Auch auf militärischem Gebiet lebten Prag und Warschau in Spannungen – wie dies von Berlin und der ČSR bekannt ist. Polen und Tschechen warfen sich gegenseitig aggressiv orientierte Truppenkonzentrationen an der Grenze vor, wobei Prag seine Truppenbewegungen im Grenzgebiet mit »innerpolitischen Notwendigkeiten« begründete. Diese bestanden in der Absicht, die für den 22. Mai 1938 vorgesehenen Kommunalwahlen in den deutsch besiedelten Gegenden durch Demonstration von Staatsmacht im Sinne der tschechischen Regierung zu beeinflussen.

Als im Mai 1938 die Frage diskutiert wurde, ob Frankreich seinem Bündnispartner Tschechoslowakei bei einem etwaigen Konflikt mit Deutschland militärisch beistehen müsse, stellte Warschau unverblümt klar, daß es sich in einem solchen Falle nicht verpflichtet fühle, auf der Seite Frankreichs für die ČSR zu Felde zu ziehen.

Damit nicht genug: während das Deutsche Reich wegen der sich zuspitzenden Sudetenkrise in Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien zu geraten drohte und die Sowjetunion ihre Bereitschaft zu einer Hilfe für die ČSR signalisierte, verständigte sich die Warschauer Regierung mit Berlin über eine einheitliche Geschichtsdarstellung in den Schulbüchern und vereinbarte am 1. Juli 1938 mit der Reichsregierung, daß

»jene Zeitabschnitte, in denen die beiden Länder in einem Gegensatz zueinander standen, sachlich und leidenschaftslos«

darzustellen seien, und daß

»insbesondere alle Ausdrücke und Wendungen vermieden werden sollen, die für das andere Land beleidigend oder herabsetzend wirken können«.

Schulbuchempfehlungen schon 1938

Mit diesen »Schulbuchempfehlungen« wollten Berlin und Warschau ein Signal für ähnliche Abmachungen mit anderen Staaten setzen und sie auch auf die Lehrbücher der übrigen Unterrichtsdisziplinen ausdehnen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehandelten Schulbuchempfehlungen hatten also bereits ein Vorgängerunternehmen im Jahre 1938.

Fast im Gleichklang mit der Berliner Tschechenpolitik beschuldigte die Warschauer Regierung die Prager Staatsführung immer wieder zu weitgehender Toleranz gegenüber kommunistischen Umtrieben und übermittelte ihr beispielsweise am 23. Juli 1938 eine weitere Protestnote »gegen antipolnische Tätigkeit kommunistischer Elemente in der Tschechoslowakei«.

Und als im Herbst die Sudetenkrise ihrem kritischen Höhepunkt zustrebte, kommentierte das offizielle Polen am 13. September 1938 die Hitler-Rede vom Vortag mit folgenden Feststellungen:

» l. Die Rede des Kanzlers, die die internationale Lage klar darstellte, unterstreicht den Willen Deutschlands zur Erhaltung des Friedens und zu seiner Stabilisierung mit einer Ausnahme, nämlich der Tschecho-Slowakei, wo alles von der Regelung der sudetendeutschen Frage abhängig gemacht wurde.

2. Die Rede unterstreicht die Bedeutung des Abkommens Deutschlands mit Polen aus dem Jahre 1934 für die Sache des Friedens. Durch dieses Abkommen ist Polen in das System der Stabilisierung der deutschen Grenzen als ein grundsätzliches Element für den Frieden einbeschlossen worden. Diese Auffassung wurde in Polen mit voller Anerkennung aufgenommen.

3. Die kategorische Herausstellung des Interesses Deutschlands an dem sudetendeutschen Problem war in der gegenwärtigen Lage keine Überraschung.

4. Die Rede des Kanzlers schließt eine von den inneren Änderungen in der Tschecho-Slowakei abhängige friedliche Regelung der sudetendeutschen Frage nicht aus.

5. Die Hervorhebung des Grundsatzes der Selbstbestimmung für die Sudetendeutschen erfolgte vom Kanzler im Geiste der Verständigung. «

»Fast nahtlose Übereinstimmung«

Wer die aggressive Rede Hitlers auf dem NS-Parteitag in Nürnberg nachliest, kann diese polnische Kommentierung und Interpretierung nur wohlwollend und »von freundschaftlichem Verständnis getragen« finden. Immerhin hatte Hitler wenig Geduld gezeigt und sich nicht dumpfer Drohungen an die Adresse Prags enthalten:

»Ich habe erklärt, daß das Reich eine weitere Unterdrückung und Verfolgung dieser dreieinhalb Millionen Deutschen nicht mehr hinnehmen wird, und ich bitte die ausländischen Staatsmänner, überzeugt zu sein, daß es sich nicht um eine Phrase handelt Wenn die Demokratien aber der Überzeugung sein sollten, daß sie in diesem Falle, wenn notwendig, mit allen Mitteln die Unterdrückung der Deutschen beschirmen müßten, dann wird dies schwere Folgen haben!«

Die fast nahtlose Übereinstimmung der polnischen Tschechenpolitik mit derjenigen Deutschlands zeigte sich auch in einer Mitteilung der Warschauer Regierung an die beiden Westmächte vom 17. September 1938, in der sie erklärte,

»daß Polen ein Staat sei, der am tschechoslowakischen Problem interessiert ist, und daß jedes Zugeständnis, das den Sudetendeutschen gemacht wird, auch für die polnische Volksgruppe im Teschener Gebiet Geltung haben müsse«.

Drei Tage später, am 20. September 1938, erläuterte der polnische Botschafter in Berlin, Josef Lipski, dem deutschen Reichskanzler auf dem Obersalzberg diese Haltung seiner Regierung und demonstrierte auf diese Weise die Konkordanz zwischen Berlin und Warschau in der tschechoslowakischen Frage.

Am 21. September 1938, dem Tag der tschechischen Abtretungserklärung des Sudetenlandes, forderte die polnische Regierung in einer Note an Prag, daß sie

»für das Territorium der polnischen Volksgruppe eine analoge Regelung« erwarte, »wie sie für das Territorium mit deutscher Bevölkerung vorgesehen sei«, nämlich die Abtretung.

Gleichzeitig kündigte Warschau die polnisch-tschechoslowakische Konvention vom Jahre 1925 über die Lage der polnischen Bevölkerung in der ÜSR und meldete gegenüber Frankreich und Großbritannien Protest dagegen an, daß sie in ihrer Abtretungsempfehlung vom 18./19. September 1938 die polnische Minderheit in der Tschechoslowakei übergangen hätten,

Am 22. September 1938 stellte die polnische Regierung ein »Freikorps für die Befreiung der Polen in der Tschechoslowakei« auf und verbat sich in einer scharfen Stellungnahme vom 23. September 1938 jegliche Einmischung Moskaus zugunsten der ČSR-Führung, wie sie der stellvertretende sowjetische Volkskommissar für Äußeres, Wjatscheslaw Petrowitsch Potemkin, dem polnischen Geschäftsträger gegenüber angedeutet hatte (»Die zum Schutze des Staates notwendigen Maßnahmen gehen lediglich die polnische Regierung etwas an, die niemandem zu Erklärungen hierüber verpflichtet ist.«)

Nutznießer der Sudetenkrise

Ähnlich wie die deutsche Reichsregierung mit einer nachmaligen Autonomie der Slowakei rechnete, vertrat das offiziöse Polen in jenen Tagen – zum Beispiel in Verlautbarungen vom 23. September 1938 – den Gedanken einer selbständigen Slowakei, welche einen Zusammenschluß mit einer autonomen Karpatho-Ukraine eingehen und sich Ungarn anschließen sollte, damit Polen eine gemeinsame Grenze mit dem Magyaren-Staat erhalte.

Und da die beiden Westmächte in der Tat zunächst nur die sudetendeutschen Gebiete in ihre Abtretungsempfehlung aufgenommen hatten, bzw. Benesch in seiner Geheimofferte (»Necas-Papier«) lediglich von sudetendeutschen Landstrichen gesprochen hatte, sah sich Warschau genötigt, seine territorialen Ansprüche an die Tschechoslowakei separat zu vertreten.

So forderte die polnische Regierung am 27. September 1938 in einer Note an Prag eine umgehende Grenzrevision und erhärtete dieses Verlangen – nach einer hinhaltenden Antwort Beneschs – am 30. September 1938 zu einem Ultimatum, dem die ÜSR dann am 1. Oktober 1938 entsprach, da mittlerweile das Münchener Abkommen unterzeichnet und die Abtretung des Sudetenlandes praktisch in die Wege geleitet worden war.

Die Vereinbarung zwischen Warschau und Prag lehnt sich im übrigen auffallend an die Bestimmungen des Münchener Abkommens an (z. B. Räumung des Gebietes durch die Tschechen und Besetzung durch polnische Truppen innerhalb von zehn Tagen, Verständigung über die Prozedur einer späteren Abstimmung, unverzügliche Entlassung aller Polen aus der tschechischen Armee und Freilassung der politischen Gefangenen polnischer Nationalität), wie ein Vergleich der beiden Texte deutlich macht. Analog zum Grenzziehungs-Ausschuß des Münchener Abkommens (Artikel 6), in welchem auch ein Vertreter der Prager Regierung Sitz und Stimme hatte, vereinbarte Warschau mit der ČSR eine »gemischte Grenzkommission« zur endgültigen Festlegung der polnisch-tschechischen Grenze und gab ihr zur Erledigung dieser Aufgabe bis zum 15. bzw. 30. November 1938 Zeit.

Der »Internationale Ausschuß« des Münchener Abkommens beendete seine Grenzfestlegung am 20. November 1938. Die Grenzregelung zwischen Warschau und Prag sah vor, daß nach der Abtretung der Kreisbezirke von Teschen und Freistadt (= Olsagebiet) Anfang Oktober 1938 noch die Region nördlich von Cadca (Czacza) und die nördliche Hohe Tatra zu Polen kamen.

Ähnlich wie der deutsche Reichskanzler in seiner Berliner Sportpalast-Rede am 26. September 1938 ausführte,

»daß es – wenn dieses Problem gelöst ist – für Deutschland in Europa kein territoriales Problem mehr gibt«, erklärte die polnische Regierung nach Festlegung dieser endgültigen Grenzlinie, »keine weiteren territorialen Ansprüche gegen die Tschechoslowakei zu haben«.

Ein Grenzzwischenfall am 26. und 27. November 1938, bei welchem nach Warschauer Darstellung zwei polnische Funktionäre verwundet worden waren, veranlasste die polnische Regierung dann am 28. November zur vorzeitigen Besetzung der Polen zugesprochenen Landstriche an der Hohen Tatra.

Diese sich verzögernde Regelung des polnischen Minderheitenproblems in der Tschechoslowakei – wie auch die noch ausstehende Beilegung der ungarischen Ansprüche – fand dann in Zusatzerklärungen Chamberlains, Daladiers, Hitlers und Mussolinis in München Berücksichtigung. Darin wurde festgestellt:

»Die Regierungschefs der vier Mächte erklärten, daß das Problem der polnischen und ungarischen Minderheiten in der Tschechoslowakei, sofern es nicht innerhalb von drei Monaten durch eine Vereinbarung unter den betreffenden Regierungen geregelt wird, Gegenstand einer weiteren Zusammenkunft der hier anwesenden Regierungschefs der vier Mächte bilden wird.«

Und:

»Seiner Majestät Regierung im Vereinigten Königreich und die Französische Regierung haben sich dem vorstehenden Abkommen angeschlossen auf der Grundlage, daß sie zu dem Angebot stehen, welches in Paragraph 6 der englisch-französischen Vorschläge vom 19. September enthalten ist, betreffend eine internationale Garantie der neuen Grenze des tschechoslowakischen Staates gegen einen unprovozierten Angriff.

Sobald die Frage der polnischen und ungarischen Minderheiten in der Tschechoslowakei geregelt ist, werden Deutschland und Italien ihrerseits der Tschechoslowakei eine Garantie geben.«

So hatte Polen nicht nur sein »München« betrieben und erreicht, sondern auch Anschluß an das Viermächte-Abkommen vom 29. September gefunden; und das weitgehend im Einklang mit der Berliner Tschechenpolitik und oft streckenweise mit gleichem Vorgehen.

Erste Querschüsse aus Washington

Die USA-Regierung sah diese Analogie zwischen Warschau und Berlin mit zunehmendem Unbehagen und reagierte auf doppelte Weise.

Sie gab in Ergänzung zu den Ausführungen Roosevelts auf einer Pressekonferenz am 30. September 1938 und den Äußerungen Staatssekretär Hulls vom gleichen Tage auf diplomatischem Wege den beiden Westmächten zu verstehen, daß sie »München« als eine »Kapitulation der demokratischen Staaten« und als ein »Zeichen ihrer Schwäche gegenüber dem Deutschen Reiche« betrachte – und sie stärkte Polen durch die gleichen geheimdiplomatischen Kanäle nunmehr den Rücken gegen etwaige nachfolgende deutsche Forderungen an die Adresse Warschaus.

So traf sich am 19. November 1938 William Christian Bullitt mit dem polnischen Botschafter in Washington, Graf Jerzy Potocki, zu einem ausführlichen Gespräch über die aktuelle Lage in Europa und konnte bei dieser Gelegenheit gleichsam den Gedankenaustausch von Warschau vor Jahresfrist fortsetzen, zumal Potocki durch seinen Verwandten Joseph Potocki, den Leiter der angelsächsischen Abteilung im polnischen Außenministerium, umfassend über den Bullitt-Besuch im November 1937 in Warschau informiert worden war.

Nach seinem Geheimbericht an den polnischen Außenminister vom 21. November 1938 sprach Bullitt

»über Deutschland und den Kanzler Hitler mit größter Vehemenz und starkem Haß«

und davon,

»daß nur Gewalt, schließlich ein Krieg der wahnsinnigen Expansion Deutschlands in Zukunft ein Ende machen kann«.

Auf Potockis Frage, wie sich Bullitt einen künftigen Krieg gegen Deutschland vorstelle, gab dieser zur Antwort,

»daß vor allem die Vereinigten Staaten, Frankreich und England gewaltig aufrüsten müßten, um der deutschen Macht die Stirn bieten zu können«.

Weiter führte Bullitt nach dem Bericht Botschafter Potockis aus,

»daß die demokratischen Staaten absolut noch zwei Jahre bis zur vollständigen Aufrüstung brauchten. In dieser Zwischenzeit würde Deutschland vermutlich mit seiner Expansion in Östlicher Richtung vorwärtsschreiten.

Es würde der Wunsch der demokratischen Staaten sein, daß es dort im Osten zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Reich und Rußland komme«.

Nach Ausbruch dieses Krieges, vermutete Bullitt,

»könne es sein, daß sich Deutschland zu weit von seiner Basis entferne und zu einem langen und schwächenden Krieg verurteilt werde. Dann erst würden die demokratischen Staaten Deutschland attackieren und es zu einer Kapitulation zwingen«.

Bullitt verspricht Kriegsteilnahme

Im übrigen sei die

»Stimmung in den Vereinigten Staaten gegenüber dem Nazismus und Hitlerismus so gespannt, daß schon heute unter den Amerikanern eine ähnliche Psychose herrscht wie vor der Kriegserklärung der USA an Deutschland im Jahre 1917«.

Auf Potockis Zwischenfrage, ob die USA an einem solchen Krieg gegen Deutschland teilnehmen würden, habe Bullitt geantwortet:

»Zweifellos ja, aber erst dann, wenn England und Frankreich zuerst losschlagen! «

Zur Lage und Rolle Polens führte der US-Spitzendiplomat aus,

»daß Polen noch ein Staat ist, der mit Waffen in den Kampf schreiten würde, wenn Deutschland seine Grenzen überschritte«,

was zweifellos über ein Kompliment hinaus eine Ermunterung sein sollte. Die Bemerkungen Bullitts über Warschaus Streben, eine gemeinsame Grenze mit Ungarn zu erhalten:

»Ich verstehe die Frage einer gemeinsamen Grenze mit Ungarn gut. Die Ungarn sind gleichfalls ein tüchtiges Volk. Eine gemeinsame Verteidigungslinie mit Jugoslawien würde es gegenüber der deutschen Expansion erheblich leichter haben«,

gingen in dieselbe Richtung und erreichten schließlich mit den Ausführungen über deutsche Absichten in der Ukraine ihren offenkundigen Aufmunterungs-Charakter, wenn Bullitt meinte,

»daß Deutschland einen vollständig ukrainischen Stab habe, der in Zukunft die Regierung der Ukraine übernehmen und dort einen unabhängigen ukrainischen Staat unter deutschem Einfluß gründen solle«.

Unverblümt sagte Bullitt – nach dem Bericht Potockis – dazu wörtlich:

»Eine solche Ukraine würde natürlich für Sie sehr gefährlich sein, da dies unmittelbar auf die Ukrainer im Östlichen Klein-Polen einwirken würde. «

Da bekannt war – und von Botschafter Potocki auch im Geheimbericht eingangs vermerkt wurde -, daß Bullitt zu den persönlichen und einflußreichsten Freunden Roosevelts zählte, kam diesen Mitteilungen entsprechend große Bedeutung zu; sie konnten als Gedanken des Präsidenten gelten. Dies um so mehr, als derselbe Bullitt im Februar 1939 dem polnischen Botschafter in Paris, Graf Juliusz Lukasiewicz, in gleicher Weise zuredete und Polen Mut gegen Deutschland machte.

Roosevelts Scharfmacher

Diese Einreden der USA-Regierung gegen die bisherige Politik der europäischen Großmächte und ihr massives Einwirken auf die Warschauer Staatsführung könnten den Hintergrund für die sich fast schlagartig ändernde polnische Haltung gegenüber Deutschland abgeben. Denn schon knapp zehn Tage nach Eintreffen des Geheimberichts Botschafter Potockis aus Washington verlautete am 1. Dezember 1938 aus Warschau, daß man in Polen

»im Falle des Weiterbestandes eines autonomen Karpatho-Rußlands Rückwirkungen auf seine ukrainische Bevölkerungsgruppe«

befürchte – genau wie es am 19. November 1938 William Bullitt Botschafter Potocki in Washington nahegebracht hatte.

Die Danziger Rede

des Reichsaußenministers v. Ribbentrop
am 24. Oktober 1939

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Quelle und Kommentare hier:
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