von Michael Winkler
„Mister Magorium’s Wunderladen“ – der Film ist bereits öfter im Fernsehen gelaufen. Titelgeber ist ein kleiner, äußerlich eher unscheinbarer Spielzeugladen, dessen Sortiment weit mehr ans 19. denn ans 20. Jahrhundert erinnert. Allerdings haben die Spielzeuge ungewöhnliche bis geradezu magische Eigenschaften, die in der Lage sind, die Phantasie auf Reisen zu schicken. Das soll jetzt keine Nacherzählung dieses Films werden, sondern eine Einleitung, eine Rückerinnerung an eine Zeit der Wunder und der Neuigkeiten, an die Zeit der Kindheit.
Eine Marionette war damals keine Puppe an Drähten, sondern etwas Lebendiges, etwas, das auf der Bühne agiert, ja gehandelt hat. Das Kasperle, der kleine dicke Ritter, Urmel aus dem Eis, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer – alle lebendig.
Schauspieler im Fernsehen oder auf der Kinoleinwand haben JETZT agiert, nicht ein Drehbuch oder Regieanweisungen befolgt, sondern sich wirklich entschieden, das alles so oder so zu machen.
Wir waren alle mucksmäuschenstill, wenn Winnetou sich angeschlichen hat. Seit ich nicht mehr in der Lage bin, der Puppe eines Bauchredners eine eigenständig handelnde Persönlichkeit zuzuordnen, sind Bauchredner nicht nur entzaubert, sondern langweilig und nervtötend.
Christkind, Osterhase, Sankt Nikolaus – das waren Realitäten unserer Kindheit. Wünsche an den Himmel richten, die unter dem Christbaum erfüllt wurden, das war die Zeit des Wunderbaren. Und ja, damals hat es noch ganz andere Dinge gegeben, die an Wunder gegrenzt hatten. Die erste Neonlampe in der Küche meiner Eltern, das neue, gänzlich ungewohnte Licht, gehörte zu diesen Wundern. Fernsehen, wo es bisher nur Radio gegeben hat, das erste Mal Pommes frites, die es bei meiner Großmutter nie gegeben hat, die ersten Kartoffelchips… Das war damals neu! Auch die Gefriertruhe, die dafür gesorgt hat, daß Speiseeis verfügbar wurde, ohne erst loszugehen und es einzukaufen.
Daß diese Zeit, diese märchenhafte Zeit zu Ende gehen würde, wurde mir in einer Schulpause bewußt. Mein langjähriger Banknachbar und ich waren im Ringpark unterwegs, das letzte Schuljahr, kurz vor dem Abitur. Ich hatte nie zuvor einen Gedanken daran verschwendet, daß ich drauf und dran war, in das „danach“ einzutreten. Die Schule, die zu jenem Zeitpunkt zwei Drittel meines Lebens begleitet hatte, würde in einigen Monaten für immer zu Ende gehen. Das behütete, von den Eltern bestimmte Leben, es schwand dahin. Das Abiturzeugnis, der Familienausflug zur Feier dieser Zäsur, das war ein Abschied, das Ende des Lebens, das ich als selbstverständlich angesehen hatte.
Das Leben ist eine Anhäufung der ersten und auch der letzten Male.
Doch schon die zweite Packung Kartoffelchips ist kein Erlebnis mehr, im Sinne des wunderbar Neuem, sondern eine Wiederholung dessen, was wir schon kennen. Das erste Mal chinesisch essen ist großartig, doch danach kommen nur noch Varianten, keine wirklichen Neuheiten. Die Entdeckungen im Leben werden immer weniger, je mehr man bereits entdeckt hat. Und ja, der wunderbare Mensch, den man kennenlernt, hat ebenfalls Fehler, die man später bemerkt. Das erste eigene Auto, die billige, gebrauchte Schrottkarre, hat die Welt schrumpfen lassen. Die späteren, nagelneuen Autos, voller Raffinessen, haben den Zugewinn bestenfalls ein wenig ausgebaut, das Wunder weder wiederholt noch erneuert.
Die Welt war einmal belebt, Gott hat zugehört, alles, alles war auf rätselhafte Weise lebendig. Der Vogel, der gezwitschert hat, hat gehört, was ich denke, die Tiere konnten alle sprechen, wie in Rudyard Kiplings Dschungelbuch, nur wir Menschen konnten das nicht hören. Gott war der Vertragspartner, mit dem man Dinge ausgehandelt hat. Das Schicksal reagierte auf alles, wer gut gewesen ist, dem ist Gutes widerfahren. Die Welt war magisch. Es hat ein kosmisches Gewebe gegeben, das alles mit allem verbunden hat.
Und dann wurde die Welt entzaubert, mehr und mehr.
Ursache und Wirkung, statt des lieben Gottes handelten die Menschen. Nur wenige vernünftig, praktisch alle egoistisch, und viele davon bösartig. Die Welt reagierte auf beste Absichten mit Ablehnung. Der Stau auf der Autobahn war nicht die Strafe dafür, daß ich gestern meine Mutter geärgert habe, sondern die Folge einiger Vollidioten, die unbedingt den Unfall in der Gegenrichtung begaffen mußten. Die drei Transistoren aus dem Elektronik-Baukasten haben einen Rundfunkempfänger ergeben, nicht einen Turing-Sprung, den Kontakt zu einer unbekannten Intelligenz.
Thoras habe ich 1987 kennengelernt, jene fiktive Figur, die manche Leser als Odalin kennen. Er hat Karnos abgelöst, den ersten Kaiser Urbalions. Ich hatte den Kopf voller Geschichten, konnte jederzeit „in die Umlaufbahn“, mich aus dem Alltag hinausdenken. Mit einem Zeppelin über die dampfenden Dschungel der Venus fliegen… Mit Thoras an der Seite Hogwarts besuchen… Mit einem Raumschiff des Episoliums Babylon 5 anfliegen…
Schließlich haben die Geschichten aufgehört. Die Umlaufbahn wurde unerreichbar, die Gedanken haben aufgehört zu sprudeln. Die Realität deckt mich zu, die schnöde, entzauberte, bösartige Realität. Ich schaue in meinen E-Mail-Ordner, und dort taucht nichts Wunderbares auf, sondern nur die 32. Lobeshymne auf Donald Trump, die 6. Erklärung für den Todesfahrer von Münster, die 193. Abhandlung über die Bösartigkeit des Islams. Es sind Mühlsteine, allesamt Mühlsteine, die mich daran hindern, in die Umlaufbahn aufzusteigen. Im Hier und Jetzt zu leben, ist armselig, weil begrenzt.
Ich habe die meisten meiner Texte in einem anderen Bewußtseinszustand geschrieben, dem Zustand der Umlaufbahn, der Gedankenfreiheit. Es war eine leichte Übung, die Gedanken sind nur so geflossen. In letzter Zeit stelle ich fest, daß da nichts mehr fließt, daß ich kämpfen muß, mich eher mit der Machete durch das Dickicht schlage, anstatt darüber hinwegzufliegen. Der Überblick geht verloren, ebenso die Orientierung. Nur noch Bäume, es gibt keinen Wald mehr.
Ich denke, Sie ahnen schon, daß dies der letzte Pranger sein wird. Ich kämpfe ideenlos um jeden Absatz, mache immer wieder Pausen. Das ist kein Schreiben mehr, das ist ein Dahinstammeln. Das Wunderbare ist aus der Welt entschwunden, so wie im Film von Mister Magorium’s Wunderladen. Dort ist der Laden verfallen, Mister Magorium tatsächlich gestorben, es gab jedoch ein glückliches Ende, mit einer neuen Betreiberin.
Für meine Seite wird es keinen neuen Betreiber geben. Ich werde die Seite noch bestehen lassen, das Archiv bleibt erhalten. Und ja, ich werde auch weiterhin Zugang ermöglichen, zu den bisherigen Bedingungen. Wer den Status ewig besitzt, für den wird sich nichts ändern. Wer den Status bis 31.12.2018 hat, der wird mit Ablauf dieses Jahres abgeschaltet.
Die Tageskommentare werde ich noch bis Ende des Monats fortführen, dann werden auch sie eingestellt.
Ohne das Wunderbare erschöpft sich die Kraft.
Ich werde das Banner einrollen und das Schlachtfeld verlassen, erschöpft, doch aufrecht, ungeschlagen.
Ich habe länger gekämpft, als die Soldaten in beiden Weltkriegen zusammen. Dieser Kampf hat ein Ende gefunden, da er sinnlos geworden ist. Warum weitere Wunden schlagen oder erleiden, wenn letztlich die Zeit dieses Werk übernimmt? Ich muß nicht mehr an der Front stehen, es reicht, nach einem ostasiatischen Sprichwort, am Fluß zu sitzen, bis die Leichen meiner Feinde vorbeitreiben. Wachstum erfordert Ruhe, in der Phase zwischen Aussaat und Ernte, ebenso wie in der Zeit zwischen Ernte und erneuter Aussaat.
Werde ich noch einmal das Banner des Kampfes aufnehmen? Ich glaube nicht. Das Banner habe ich weitergegeben, meine Energie in die geistige Vorbereitung der AfD gesteckt. Dort wird dieser Kampf weitergeführt. Meine Ideen habe ich gegeben, nun ist die Zeit loszulassen. Ich will nicht deren Zukunft bestimmen, das ist die Aufgabe jüngerer Leute mit neuen Ideen. Ich sehe so oft, wie sich Leute an Posten und Macht klammern, aus Furcht, das Ansehen zu verlieren, in die Vergessenheit zu versinken. Es sind gerade diese Leute, die mit diesem Verhalten das zerstören, was sie ursprünglich der Nachwelt hinterlassen wollten. Ich schließe den Weg ab, solange ich noch auf dem Gipfel stehe.
Ich werde meine Bücher weiterhin anbieten, auch wenn ich nicht versprechen kann, sie schnell auszuliefern. Ich ziehe mich zurück, um neue Ideen zu sammeln, um meinen künftigen Weg zu finden. Wenn ich bereit bin, werde ich mich erneut hingeben, um das Neue in die Welt zu bringen, was durch mich in die Welt treten möchte. Noch weiß ich nicht, was das sein wird. Ich habe den Kanal zu Höherem blockiert, indem ich dem Drang zu irdischem Kampf nachgegeben habe. Um Raum für Neues zu schaffen, muß das bestehende Gefäß erst einmal geleert werden.
Ich möchte den Lesern für die Treue danken, die sie mir in all diesen Jahren gehalten haben. Ich möchte für die Unterstützung danken, die ich in vielfältiger Form erhalten habe. Ich danke meiner Hofastrologin, und ganz besonders meinen Anwälten, die das Leben dieser Seite um mindestens sechs Jahre verlängert haben.
Ich wünsche Ihnen allen Glück, Gesundheit und ein langes Leben.
Mögen Ihnen, mögen unserem Land und unserem Volk bald bessere Zeiten beschieden sein!
Ihr Michael Winkler
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Alles Gute für Dich, Heil & Segen auf all‘ deinen Wegen!
Danke für die vielen Jahre mit deinem Pranger, lieber Michael.