von Michael Klein
In unserer Jugend gab es das Bonmot der „normativen Kraft des Faktischen“. Die Idee dahinter: Man stelle Bürger vor vollendete Tatsachen, wettere den Sturm der Entrüstung – oder sitze ihn aus, wie später Helmut Kohl – und dann hat man, was man wollte.
Gewohnheit holt auch die intensivste Erregung irgendwann ein. Niemand kann sich fortwährend über ein und denselben Gegenstand ärgern. Und ehe man sich versieht, ist aus dem Ärgernis eine Normalität geworden oder aus dem zeitlich befristeten Solidaritätszuschlag eine dauerhafte Steuer.
Nun kann man diese Vorgehensweise auch auf eine Meta-Ebene heben: Je häufiger man Bürger vor vollendete Tatsachen stellt, desto flauer werden die Stürme der Entrüstung, desto schneller ebben sie ab, desto schneller werden die Ärgernisse von der Gewohnheit zur Normalität erklärt.
Spätestens wenn dann eine Generation von Bürgern herangewachsen ist, die es normal findet, von Parteien vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, die nichts dabei findet, entmündigt zu werden, kein Problem damit hat, Freiheit für Regulation aufzugeben, dann ist der dressierte Bürger, der nickt und gute Miene zu allem macht, was ihm seine Parteien vorsetzen oder zumuten, Wirklichkeit geworden. Bis dann die nächste Generation kommt, die die larmoyante Generation vor ihnen zum K… findet und einen Lebensstil darauf gründet gegen alles zu sein, was vom Staat kommt (Manche von uns gehören zu einer solchen Generation und sind es noch … Wer erinnert sich?).
Einer, der schon im Jahre 2005 vom dressierten Bürger geschrieben hat, ist Reinhard K. Sprenger. Auch wenn wir die Konsequenzen, die Sprenger in seinem Buch aus einer gut zu lesenden und recht umfassenden Bestandsaufnahme der Dressurmaßnahmen, mit denen deutsche Parteien und ihre Helfershelfer versuchen, sich den Bürger nach ihrem Idealbild zu dressieren, in weiten Teilen für zu zahm halten und der Ansicht sind, Sprenger hätte den Mut, den er für weniger Staat und mehr Verantwortung der Bürger fordert, ruhig selbst beweisen können, ist sein Buch ein interessantes Zeitzeugnis. So schlimm war es zu Beginn der 2000er als Sprenger’s Buch erschienen ist. Heute sind wir 18 Jahre weiter, oder wie Helmut Kohl gesagt hätte. „Gestern standen wir am Abgrund. Heute sind wir einen Schritt weiter“.
„In diesem Buch will ich zeigen, wie sich die Deutschen unter dem lenkenden Einfluss des Staates in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Mein Hauptergebnis: Der Souverän hat abgedankt. Die Deutschen sind so unbeweglich, weil sie sich daran gewöhnt haben, bewegt zu werden. Der Verlust des Selbstvertrauens ist die Spätfolge staatlicher Dressur. ‚Ich? Dressiert? Niemals!‘ – so mögen Sie reagieren. Meine Beobachtung ist: Wir haben uns schon so an staatliche Entmündigung gewöhnt, dass sie uns kaum noch auffällt. Sie ist zur ‚Selbstverständlichkeit‘ geworden, unsere Sensoren sind mittlerweile abgestumpft. So wie die meisten Menschen zugeben, dass Werbung wirkt. Nur nicht auf sie.
Der Staat glaubt, das Problem seien Sie und ich; in Wahrheit ist er es. Die notwendigen Entscheidungen werden nicht getroffen, weil sie auf Selbstentmachtung des Staates hinausliefen. Das heißt aber auch: Es gibt keine Lösung ohne Entmachtung des Staates. Und auch diese Konsequenz wird einigen von ihnen nicht gefallen. Schnell kommen wir da in Zonen reflexhafter Abwehr, in verminte Wortfelder. Ist es denn nicht Aufgabe des Staates, das Verhalten der Menschen zu steuern? Für das Gemeinwohl zu sorgen? Für Recht und Ordnung? Bestätigen wir uns gleich am Anfang das Selbstverständliche: Ja, es gibt Menschen, die sich nicht selber helfen können. Ja, wir sind als Menschen auf die Gemeinschaft angewiesen. Ja, wir brauchen den Staat als Ordnungsmacht. Was wir nicht brauchen, ist ein Staat, der sich auf der einen Seite immer weiter vom Bürger entfernt, auf der anderen Seite immer tiefer in seine Lebenswelt hineinregiert, nach gut und schlecht sortiert, vorsorglich entmündigt und fürsorglich entschädigt. Wenn Deutschland wieder ein zuversichtliches, erfolgreiches, ein kraftvolles Land werden will, dann nur, wenn seine Bürger Zuversicht aus eigener Kraft und Leistung gewinnen. Wir dürfen uns selbst was zutrauen!“
Wie gesagt, Sprenger hat ein Zeitzeugnis verfasst, das wir für zu zahm halten, schon weil sich Sprenger um die spannenden Fragen herumdrückt.
Hier ein paar Herausforderungen:
Braucht man wirklichen einen Staat als Ordnungsmacht? Nein. Ordnungsmacht und Staat sind nicht synonym und waren es Jahrtausende lang auch nicht.
Sind wir als Menschen auf die Gemeinschaft angewiesen? Nein. Kooperation braucht keine Gemeinschaft, lediglich andere Menschen, die ein Interesse an einem Tausch haben.
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