von NPR
Im Namen des Obersten Rates der Alliierten und Assoziierten Hauptmächte habe ich die Ehre, Ihnen hiermit den Text des Vertrages[1] in seiner endgültigen Form mitzuteilen, …Bestätigung der Anerkennung Polens als unabhängiger Staat und der zu seinen Gunsten erfolgten Übertragung der Gebiete, welche dem ehemaligen Deutschen Reich angehörten und Polen durch den genannten Vertrag zugeteilt werden, ersucht werden wird.
Der Korridor in der internationalen Diskussion
Der polnische Korridor ist heute Gegenstand der internationalen Diskussion. Er berührt in erster Linie das deutsche Volk, selbstverständlich. Für diese ist er eine der lebenswichtigen Fragen seiner Zukunft. Aber er rührt zugleich an die Zukunft des polnischen Volkes. Er ist für das deutsche Volk zum Prüfstein des Verständigungs- und Friedenswillens seiner Nachbarn geworden.
Diese Erkenntnisse beginnen, Gemeingut der öffentlichen Meinung in Europa zu werden. Das wird auch polnischerseits nicht mehr geleugnet. Erst kürzlich, in der Neujahrsnummer des „Kurier Warszawski“, hat der General Sikorsky festgestellt, daß das Problem Pommerellens seit langen aufgehört habe, nur ein polnisches Problem zu sein; es sei auch keine Frage mehr, die nur die beiden benachbarten und bisher miteinander noch nicht einigen Völker interessiere. Das sei bereits ein europäisches Problem.
Andere gewichtige europäische Stimmen haben das gleiche ausgesprochen. So notierte z. B. der frühere britische Botschafter in Berlin, Viscount d`Abernon, in seinen Memoiren unter dem 23.1.1926:
„Nachdem von Locarno sich die Gefahr auf der deutsch-französischen Grenze vermindert hat, bleibt der polnische Korridor das Pulverfaß Europas.“
Es ist bekannt, daß auch der führende Feldherr der alliierten Mächte im Kriege, Marschall Foch, kurz vor seinem Tode[2] noch einem Besucher gegenüber auf einer Karte von Europa unter Hinweis auf das Korridorgebiet erklärt hat:
„Dort liegt die Wurzel des nächsten Krieges.“
Lassen wir schließlich noch einen führenden ostereuropäischen Staatsmann zu Worte kommen, den Präsidenten der Tschechoslowakei, Masaryk.
Er tat im Herbst 1930 die aus diesem Munde besonders bedeutsame Äußerung:
„Es bestehen zur Zeit zwei große Gefahrenzonen, die den europäischen Frieden gefährden: der polnische Korridor und Ungarn. Was den polnischen Korridor betrifft, so kann man mit Bestimmtheit sagen, daß Deutschland sich niemals mit dem heutigen Stande der Dinge abfinden wird, durch den das ostpreußische Land von dem Deutschen Reiche abgetrennt ist.“
Wenn nun auch die „Conciliation Internationale“ ihre Blätter der Behandlung dieser Frage öffnet, so erkennt sie damit an, daß es sich um ein Problem handelt, dessen Erörterung der gegenseitigen Annäherung der Völker zu dienen geeignet ist. Sie trägt damit dem Umstande Rechnung, daß die Frage des polnischen Korridors bereits den europäischen Rahmen zu sprengen und Eingang in die Weltpolitik zu finden beginnt.
Senator Borah, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Senats der Vereinigten Staaten von Nordamerika, hat der Meinung der überwiegenden Mehrheit seines Landes Ausdruck gegeben mit seiner bekannten Erklärung, deren Wortlaut nicht ohne Interesse ist: „On a dit que j`étais partisan de l`annulation du traité de Versailles. Cela est indexact. Je suis d’avis que ce traité doit étre revisé et non pas annulé; revisé, mais de facon à mettre fin à l imbroglio territorial que soulèvent le couloir polonais de Dantzig et aussi la situation de la Hongrie.“ („Le Temps“ vom 25.10.1931.)[3]
Etwas gleichzeitig hat ein weiterer führender Vertreter der Vereinigten Staaten, der frühere amerikanische Botschafter in Berlin, Dr. Schurman, sich in einer Rede vor der Historischen Gesellschaft von West Chester gegen den Versailler Vertrag und den Korridor gewandt.
Angesichts dieses Umfanges, den die Erörterung der Frage des polnischen Korridors in der Weltöffentlichkeit angenommen hat, können die Versuche, das Problem zu bagatellisieren, kaum noch auf ein Echo rechnen und braucht der Behauptung gegenüber, daß es sich um einen einseitigen deutschen Versuch handele, eine Frage, die als solche gar nicht bestehe, da sie seit 12 Jahren durch internationale Feststellungen geregelt sei, zur Erörterung stellen, und um eine „Polemik“ für die allein Deutschland die Verantwortung zufalle, nur auf jene Äußerungen aus berufenem internationalem Munde verwiesen zu werden, die anerkennen, daß das Problem besteht. Man löst, wie der jetzige englische Ministerpräsident einmal programmatisch erklärt hat, Streitfragen nicht, indem man sie nicht erörtert.
Ausgangspunkt der internationalen Diskussion müßen eine Reihe von Tatsachen sein, die nicht außer Acht gelassen werden können.
Die erste Tatsache ist die, daß im Osten Europas ein polnischer Staat wiedererstanden ist, der eine Bevölkerung von etwa 30 Millionen umfaßt. Über diese Tatsache hinwegzugehen, wäre sinnlos. Der Bestand des polnischen Staatswesens steht nicht zur Diskussion. Weder die offizielle deutsche Politik noch irgendein ernstzunehmender Politiker in Deutschland denkt daran, in anzugreifen.
Eine „polnische Frage“ als solche existiert zurzeit nicht. Früher bestand sie. Sie ist mit dem Untergang Polens entstanden und mit der Wiederaufrichtung des polnischen Staates wieder verschwunden. Man muß sich hüten, mit dieser „polnischen Frage“ die Frage des polnischen Korridors zu identifizieren, wie es fälschlicherweise gelegentlich noch geschieht.
Als zweite Tatsache ist festzustellen, daß zwischen Polen und Deutschland keine natürlichen Gegensätze vorhanden sind, so wenig wie zwischen Deutschland und Frankreich. Wenn man das heutige Polen ganz losgelöst von dem Hintergrunde aktueller politischer Gegensätze betrachtet, so sind Polen und Deutschland, namentlich wirtschaftlich, aufeinander angewiesen und würden sich in einer sehr glücklichen Weise ergänzen. Dies näher zu begründen, würde hier zu weit führen.
Jeder unbefangene Beobachter der Dinge, der sich fragt, wie es trotzdem möglich sein konnte, daß im Nordosten Europas ein Unruheherd entstanden ist, dem gegenüber alle anderen europäischen Gefahrenpunkte in den Hintergrund treten, erkennt, – und das ist die dritte Tatsache, von der die internationale Diskussion über den Korridor ihren Ausgang genommen hat – daß der Grund dafür in der Grenzziehung im Osten, d. h. der Gestaltung der Grenzen Polens gegenüber Deutschland, zu suchen ist. Das Unrecht von Oberschlesien und die gewaltsame Abtrennung von Westpreußen sind künstliche Hindernisse, die einer von der Natur und aus der Nachbarschaft gegebenen Zusammenarbeit zwischen dem deutschen und polnischen Volke im Wege stehen.
Wir sehen davon ab, das schwierige und vielfältige Kapitel Oberschlesien hier aufzurollen. Es genügt, darauf hinzuweisen, wie innig das oberschlesische mit dem Korridorproblem zusammenhängt. Es braucht nur an die Namen Edingen und Kattowiz gedacht werden und an die „Kohlemagistrate“, die beide Wirtschaftsgebiete zu verbinden bestimmt ist, um erkennen zu lassen, daß, nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch rein politisch gesehen, durch die Zuteilung des größten Teiles des Oberschlesischen Industriegebietes an Polen Ostoberschlesien zu einem Teil des Korridorproblems gemacht worden ist. Korridor und Oberschlesien, eines hängt vom anderen ab, aber der Vorrang gebührt dem Korridor. Er ist das Kernstück des ganzen europäischen Ostproblems.
Der Tatbestand
Was ist der „polnische Korridor“? Der Begriff ist klar. Er ist als solcher längst in den internationalen Sprachgebrauch übergegangen, weil er treffend und, wie man gesagt hat, sehr „bequem“ ist. Der Ausdruck „Korridor“ deutet auf ein künstliches Gebilde, das nur als Durchgang dienen soll, nicht um seiner selbst willen da ist. Auch der polnische Ministerialerlaß, der den Gebrauch dieses Ausdrucks in Polen verbietet, wird diese internationale Kennzeichnung nicht aus der Welt schaffen.
Welches Gebiet umfaßt der polnische Korridor? Er umfasst geographisch sinngemäß das an Polen abgetretene Gebiet der früheren Provinz Westpreußen, das sogenannte Pomerellen, und den südlich anschließenden, früher zur Provinz Posen gehörenden, Netzegau mit dem Mittelpunkt Bromberg.
Vor dem Versailler Vertrag bestanden hier die preußischen Provinzen Posen und Westpreußen. Westpreußen ist gevierteilt worden. Rund 3/5 davon, etwa 16 000 qkm mit 950 000 Einwohnern, verlor Deutschland an Polen, 1900 qkm mit 320 000 Einwohnern an den neugebildeten Freisstaat Danzig. Nur zwei schmale Randbezirke östlich und westlich des Korridors blieben reichsdeutsch. Gegeneinander sind diese Teile durch Zoll- und Paßschranken fast hermetisch abgeschlossen.
Die Zerreißung der geopolitischen Einheit
Durch die neuen Grenzen ist ein geopolitisch bedingter, einheitlicher, organischer Körper zerrissen worden.
Wie schon ein Blick auf eine geologisch-morphologische Landkarte lehrt, gehört der Küstenrand der Ostsee zwischen Oder- und der Memelmündung dem norddeutschen Flachland an. Es scheint mit dem polnischen und russischen Ebenen eine untrennbare Einheit zu bilden, weist aber eine bedeutsame Abgrenzung nach dem Süden und Südosten durch die Endmoränenzüge auf, die seine eiszeitliche Bedeckung umranden. Das große Urstromtal der Weichsel westlich von Thorn scheidet das baltische Küstenland von den südlich angrenzenden kontinentalen Ebenen. Im südlichen Ostpreußen bilden die Masurischen Seen eine ähnliche Grenzlinie. Dieser morphologischen Abgrenzung entspricht die geologische Gestaltung des Landes.
[1] gemeint ist der Vertrag von Versailles
[2] Ferdinand Foch (* 2. Oktober 1851 in † 20. März 1929 in Paris) war ein französischer Marschall im Ersten Weltkrieg.
[3] Es hieß, ich befürworte die Aufhebung des Vertrages von Versailles. Das ist nicht exakt. Ich bin der Meinung, dass dieser Vertrag überarbeitet und nicht aufgehoben werden muss; Überarbeitet, aber in einer Weise, die den territorialen Betrug des polnischen Korridor von Danzig und auch die Situation Ungarns beenden.