von Niki Vogt
Jede Gesellschaft lebt seit Menschengedenken mit den „Armen und Bettlern“ und jede Religion gebietet Barmherzigkeit mit ihnen und fordert, das „Scherflein für die Armen“ zu geben. Jesus sagte: „Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan“.
Menschen, die aus irgendwelchen Gründen, durch Schicksalsschläge, Selbstverschulden oder einfach Pech auf der Straße gestrandet sind, sind die Schwächsten der Gesellschaft. Sie zeigen uns, was jedem passieren kann, wenn es zuviel wird, mehr, als ein Mensch ertragen und leisten kann. Gibt es dann keine Familie, die einen auffängt, ist die Straße Endstation.
Im März dieses Jahres war das Opfer eines Obdachlosenmordes ein Mann, der aus der Bahn geraten ist, weil sein Geschäft kaputtging. Gerd Michael Straten wuchs in Köln auf, kam 1972 nach Koblenz und wurde Kunsthändler. Ende der 80er Jahre musste er das Geschäft schließen. Ein Tiefpunkt, der sein Leben verändert.
Gerd Straten steigt aus und lebt von nun an auf der Straße. Er schläft meist auf dem Hauptfriedhof, wo es eine Toilette und ein Waschbecken gibt. Er wird zum Einzelgänger. Man sieht ihm nicht an, dass er auf der Straße lebt. Er erhält staatliche Unterstützung. Davon kauft er sich gesundes Essen aus dem Bioladen, trinkt Kaffee in verschiedenen Bistros. Er achtet auf sein Äußeres und besucht regelmäßig die Landesbibliothek. Jahrelang verbringt Gerd Michael Straten hier ganze Nachmittage und liest stundenlang Zeitungen.
Er war einer von den Flaschensammlern. Er war immer sauber, gepflegt, gut gekleidet, hielt auf sich. Ein gebildeter Mann mit Manieren, interessierte sich für Politik, Zeitgeschehen, Kunst. Er trank nicht und nahm auch keine Drogen. Andere beschreiben ihn als warmherzig und freundlich, aber verschlossen. Er plante einen Neuanfang.
Daraus wurde nichts. Nachts schlief er oft auf dem Koblenzer Hauptfriedhof und dort fand er auch den Tod. Man fand ihn enthauptet auf dem Friedhof. Eine 30-köpfige Sonderkommission wurde eingerichtet. Doch bis heute sind die Hintergründe noch unklar. Ein länger zurückliegendes Ereignis könnte ein Hinweis sein: Gerd Michael Straten soll im Bereich des Hauptbahnhofs lautstark mit einem dunkelhäutigen Mann mit Rastalocken und roten Turnschuhen gestritten haben.
Im Februar 2018 wurde ein 74jähriger Mann Opfer eines Mordes in einem Obdachlosenheim in Halle-Bokel. Durch massive Schläge mit einem Gegenstand an Kopf, Oberkörper und Beinen wurde der alte Mann so schwer verletzt, dass er daran starb. Ein 21 Jahre alter Mitbewohner im Heim wird der Tat zwar verdächtigt, die Haftrichterin sah keine ausreichenden Haftgründe und die Polizei musste den Vorbestraften wieder auf freien Fuß setzen.
November 2017: Bei der S-Bahnüberführung an der Ümminger Straße in Bochum-Laersteinen wurde ein Obdachloser zu Boden geschlagen und mit dort an einer Straßenbaustelle liegenden Pflaster-Verbundsteinen gesteinigt. Danach wurde der Körper des Opfers mit weiteren Steinen und einer Holzpalette und mehreren Säcken Split bedeckt. Es existiert die verschwommene Aufnahme des Täters von einer Überwachungskamera: Ein junger, schlanker Mann mit Mütze und Vollbart. Die Polizei sucht nach Zeugen.
Anfang November 2017 wird eine ermordete Obdachlose in Delmenhorst in einer Garage eines verlassenen Rangierbahnhofes gefunden. Die Leiche weist schwere Misshandlungen auf. Später wird ihr polnischer Lebensgefährte verhaftet, weil er gegenüber anderen „Täterwissen“ offenbart hat.
Im März dieses Jahres, in München: Der Prozess zum Mord an einer Obdachlosen rollt ein Szenario auf, das ebenfalls eine erschreckende Brutalität offenbart. Die Frau wurde von ihrem Lebensgefährten und anderen Männern gewürgt, misshandelt und mit einem Hammer erschlagen, weil sie die Männer bei einem ihrer exzessiven Saufgelage störte durch „Nerverei“. Die fünf polnischen Staatsangehörigen stopften die Leiche der Frau in einen Schacht auf dem verlassenen Firmengelände, wo sie gegrillt und sich betrunken hatten.
Im Juli 2018 nahm die Mordkommission den Täter und mehrere jüngere Täter im Alter zwischen 17 und 27 Jahren fest, die einen Obdachlosen in Hamburg-Wandsbek mit einem Messer niedergestochen und schwer verletzt hatten. Das Opfer musste mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden, überlebte aber. Einige Tage vorher war schon ein anderer Obdachloser in Hamburg-Lurup schwer verletzt worden. Er war mit einem jungen Mann in Streit geraten. Dieser schlug den Obdachlosen nieder und trat ihm mehrfach gegen Kopf und Oberkörper. Das Opfer erlitt lebensbedrohliche Kopfverletzungen. Die Fahndung blieb ohne Erfolg.
In einem Park in Berlin Steglitz wurde der Obdachlose Klaus Jüterbock auf dem Gelände des Kulturhauses Schwartzsche Villa an der Grundewaldstraße erstochen aufgefunden, wenige Meter von einer belebten Straße entfernt. Der blutverschmierte Körper lag in einem Schlafsack auf dem Boden. Auch hier fehlt jede Spur des Täters. Da der Mann im Schlafsack erstochen wurde, ist davon auszugehen, dass er beim Angriff bereits schlief oder sich, im Schlafsack eingehüllt, nicht wehren oder fliehen konnte. Eine blaue IKEA-Tasche mit den Personaldokumenten des Opfers ist verschwunden.
Ebenfalls im Juli dieses Jahres wurde ein Brandanschlag auf zwei Obdachlose am Berliner S-Bahnhof Schöneweide verübt. Die beiden Opfer erlitten schwere Verletzungen und schweben in Lebensgefahr. Die Mordkommission der Berliner Polizei ermittelt. Polizeisprecher Martin Halweg beschrieb den vermutlichen Tathergang. „Nach unserem jetzigen Kenntnisstand ging ein Mann gegen 23 Uhr zu den beiden Obdachlosen auf dem Vorplatz des S-Bahnhofes, überschüttete sowohl die beiden Männer als auch ihre Habseligkeiten mit einer Flüssigkeit und zündete die Flüssigkeit anschließend an. Danach flüchtete er unerkannt vom Tatort.“
Dortmund, im Juli 2018: In der Dortmunder Nordstadt wurde ein Obdachloser ermordet. Die Leiche des Mannes wurde auf dem Gelände einer verlassenen Tankstelle gefunden. Der 55jährige Pole hatte dort regelmäßig seine Schlafstelle aufgesucht. Er wurde mit einem „spitzen Gegenstand“ erstochen. Tatverdächtig sind zwei weitere, obdachlose Polen und ein Serbe. Da der Tatverdacht sich jedoch nicht erhärtete, wurden alle drei Verdächtigen aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Neuen Ermittlungen zufolge soll ein Mann namens „Michal“ nun im Zusammenhang mit dem Mord von der Polizei gesucht werden.
August 2018: Die Polizei verhaftet einen 36jährigen Rumänen, der unter dringendem Tatverdacht steht, auf dem alten Nördlichen Friedhof in München einen 55jährigen Obdachlosen mit Schlägen auf den Kopf getötet zu haben. Täter und Opfer stammen aus dem Obdachlosenmilieu und sind beide rumänischer Herkunft.
August 2018: Eine 63jährige, obdachlose Frau wurde in Hannover vergewaltigt und anschließend ermordet. Als Täter wurde ein 44jähriger Asylbewerber aus dem Sudan ermittelt und verhaftet. Er lebt unter fünf verschiedenen Identitäten in Deutschland. Er gestand die Tat, beteuerte aber, dass er die Frau nicht töten wollte.
Dies sind längst nicht alle Fälle, doch sie geben ein Bild. In den letzten Jahren steigen die Zahlen derer, die Wohnungslos sind, die abgehängt sind, die es einfach nicht mehr schaffen, weil die Decke des Wohlstandes in Deutschland immer dünner wird und die am Rand hinausfallen. Und weil überdies immer mehr Menschen, die eigentlich keine Chance hier haben, ins Land kommen – voller Hoffnung auf ein gutes Leben und bitter enttäuscht sind, weil sie sich das alles ganz anders vorgestellt haben. Die Organisationen und Helfer, die sich um diese gestrandeten Menschen kümmern, sind überall überfordert. Sie kommen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten oder sind schon darüber hinaus.
An den Tafeln sah man es bereits landauf, landab. Es reicht nicht mehr und die Verteilungskämpfe um eine Packung Toastbrot und frisches Gemüse werden härter. Die Armut unter den Rentnern wird drängender. 40% der alten Leute sollen mit Renten unter 800 Euro auskommen.
Berlin ist voll von Osteuropäern, die ins gelobte Land Deutschland kommen. Die meisten Obdachlosen in Berlin sind Polen. Besonders im Winter sind die Notunterkünfte der Kältehilfe überfüllt, im Sommer campieren sie im Tiergarten und in Parks. Wie viele Obdachlose in Berlin leben ist nicht erfassbar. Seit 2014 hat sich die Zahl aber in etwa vervierfacht. Die Notunterkünfte werden zwar ausgebaut und die Zahl der Betten steigt. Aber mit der steigenden Zahl der neu hinzukommenden Wohnungslosen hält auch das nicht mit.
Wohnungslos waren laut Senatsverwaltung für Soziales im Jahr 2017 rund 37.000 Menschen. Davon sind nicht alle obdachlos. Viele kommen zum Beispiel bei Freunden unter, leben in Wohnheimen, Hostels oder Kriseneinrichtungen. Etwa 10.000 sind tatsächlich obdachlos. Viele sind einfach nur arm, viele sind EU-Migranten, viele sind Flüchtlinge.
Etwa zwei Drittel der Obdachlosen kommen aus Osteuropa. Die meisten der frustrierten Männer sind Alkoholiker und hoch aggressiv. Eine Frau wurde auf ihrem Nachhauseweg nahe eines solchen Übernachtungsplatzes überfallen und von einem abgelehnten Asylbewerber, dem 19jährigen Tschetschenen namens Ilyas ermordet. Die Stadt ließ das Camp räumen, die Obdachlosen gingen woanders hin. Polen will nun polnisch sprechende Sozialarbeiter in die Camps schicken. Man möchte denen, die sich nur nicht wieder nach Hause trauen, Perspektiven daheim anbieten.
In Nordrhein-Westfalen explodieren die Zahlen ebenfalls. 2018 ist mit 32.300 Obdachlosen die Anzahl um 30% zum Vorjahr gestiegen. Und das tut sie seit Jahren: Schon von 2015 auf 2016 gab es einen Zuwachs von 15%, und die Zuwachsrate steigt jedes Jahr weiter. Weil viele Städte und Gemeinden einfach nicht mehr die Zahl der Asylbewerber bewältigen können, stecken sie die Leute provisorisch in Notunterkünfte, die den „normalen“ Obdachlosen dann nicht mehr zur Verfügung stehen:
„Der hohe Anstieg sei nach Angaben der Kommunen vor allem auf die behelfsmäßige Unterbringung vieler anerkannter Asylbewerber in Notunterkünften zurückzuführen, heißt es in dem der dpa vorliegenden Bericht. Wegen der angespannten Wohnungsmärkte fänden viele Städte und Gemeinden nicht sofort geeignete Räume.“
Es ist also abzusehen, dass in Zukunft ein immer rauerer Wind durch Deutschland pfeift. Diejenigen, die von den Gezeiten der Veränderung in Europa als erstes an den Strand gespült werden sind die, die keinerlei Reserven und keine gesicherte Existenz haben. Aber die Grenze zu den Armen, die es noch gerade so eben schaffen, nicht auf der Straße zu stehen, ist sehr durchlässig. Wir werden in den nächsten Jahren leider erleben, dass der Anteil der Verlorenen, Obdachlosen und Bettler in Europa und in Deutschland immer schneller steigen wird, die Verteilungskämpfe immer gnadenloser.
Je mehr erwerbslos sind oder zu wenig zum Leben verdienen und je weniger Menschen in Lohn und Brot sind und sich eine bürgerliche Existenz erhalten können, desto weniger Konsum und Umsatz bedeutet das für die Unternehmen, die dann ihrerseits Personalabbau betreiben werden. Diese Leute fallen dann ebenfalls zum großen Teil wieder aus dem Raster und beschleunigen den Niedergang. Häuser werden nicht abbezahlt und versteigert. Dadurch sinken Hauspreise und setzen wiederum neue Schichten von Hypothekenzahlern unter Druck, die ihre Wohnungen aufgeben müssen.
Gekauft wird nur noch das Nötigste, man zieht innerhalb der Familien zusammen, um Kosten zu sparen. Die Steuereinnahmen brechen ein. Der Staat muss aber die frustrierten Neuankömmlinge aus aller Herren Länder mit Unterstützungsleistungen halbwegs ruhig halten, was nur mit Steuergeldern geht. Also werden die Steuern auf alles und jedes ausgeweitet, was wieder zu neuen Armutswellen führt. Den Rest kann sich jeder denken.
Die Obdachlosenmorde sind Morsezeichen von der anderen, verborgenen Seite Deutschlands und ganz Europas. Die Brutalität beginnt immer da, wo die Verrohten auf die Hilflosen treffen, am Rande der Gesellschaft. Der Tod jeden Mitgefühls und die Entsolidarisierung nimmt von da ihren Ausgang und kriecht bis in jede Gesellschaftsschicht. Die noch haben, werden es mit allen Mitteln verteidigen, die nichts haben, werden es sich mit allen Mitteln holen.
Aber wir schaffen das ja, hat Frau Bundeskanzlerin Merkel gesagt.