von «Renz»
Guten Tag,
nach reiflicher Überlegung habe ich mich überreden lassen, doch etwas hier zu schreiben. Gewisse Personen hier neigen dazu, sehr hartnäckig und stur zu sein, nerven betagte Jahrgänge wie mich, sodass man keine Ruhe hat. Und ich muss ehrlich gestehen, dass mir das Thema auch unter den Fingernägeln brannte. Zu den «Young Germans» gehöre ich mit fast 40 nicht mehr, habe aber schon meine Bürgerpflicht erfüllt, Kinder bekommen und meinem Land fast 10 Jahre lang erst als Wehrpflichtiger und dann als Offizier gedient, bevor mich mehr oder minder glückliche Umstände in die Freiheit des zivilen Lebens entließen.
Der Bundeswehr blieb ich doch irgendwie verbunden – es ist eine Art Hassliebe zwischen ihr und mir, und ich komme nicht daran vorbei, mich zum Thema Wertefall und Tradition in der Truppe zu äußern. Denn anders als der Kern der Autoren hier scheine ich noch zu den Männern zu gehören, die das Privileg hatten, in den 90ern ihren Wehrdienst zu leisten, und dann kurz nach der Jahrtausendwende den Offizier zu machen. Und weil ich eben so alt bin, erlaube ich mir diesen einen Satz heute: «Damals war (fast) alles besser!»
Also dann!
Wir schreiben das Jahr 1997, als dieser junge Wehrpflichtige aus seiner Heimat, dem verschlafenen Hanau im Kreis Main-Kinzig bei Frankfurt in die Bundeswehr eingezogen wird. Damals trugen wir die Haare bereits kurz, meistens frech mit Gel frisiert, sodass es beim Ausbildungspersonal keinerlei Probleme mit dem Schnitt gab. Dazu muss man sagen, dass im Jahre 1997 die Krise auf dem Balkan so richtig in Fahrt geriet und innerhalb der ganzen Bundesrepublik ein riesiger Aufruhr wegen der dortigen Ereignisse herrschte.
Wenigstens wirkt das in der Nachbetrachtung so auf mich, der ich mit eben erst erreichter Volljährigkeit Vaters Auto fuhr, und nicht mehr als mein Abitur in der Tasche hatte. Die 90er waren eine wunderbare und lebenswerte Zeit, auch in Hanau, das ich nach meiner Abfahrt in Richtung Norddeutschland in den nächsten zehn Jahren nur sehr sporadisch auf Familienbesuchen wiedersehen würde.
Schon bei der Ankunft in meiner Ausbildungskompanie wusste ich, dass sich Deutschland verändert hatte. Denn einer unserer Ausbilder, Unteroffizier (Name vergessen), sächselte stark und benutzte Begriffe wie «Plaste» oder andere Worte, die mir völlig unbekannt waren. Auch die Soldaten unserer Ausbildungskompanie (knapp 130 Soldaten) kamen aus allen Teilen des wiedervereinigten Deutschlands. Hessen dienten zusammen mit Sachsen, Schwaben mit Brandenburgern und die Berliner wurden endlich auch eingezogen, nachdem sie sich so lange verweigert hatten.
Und dass wir «Deutsche» waren, zweifelte überhaupt NIEMAND an. Auch die türkischstämmigen und italienischstämmigen Kameraden, die bei uns dienten und in Hamburg, Duisburg und Frankfurt mit uns als Westdeutsche großgeworden sind, verstanden sich als deutsche Soldaten.
Polnischstämmige und einen russischsprachigen Aussiedler gab es ebenfalls – alles unwichtig, weil wir beim Hissen der Nationalfahne Schwarz-Rot-Gold und beim Ableisten unseres Gelöbnisses leichte Herzen und feuchte Augen bekamen.
Wir sangen alle und aus voller Kehle nicht nur die Nationalhymne, in der wir uns in Erinnerung riefen, wofür wir kämpften (für Einigkeit, Recht und Freiheit für das DEUTSCHE VATERLAND). Ja wir sangen auch «Schwarzbraun ist die Haselnuss!» und «Oh du schöner Westerwald», ohne überhaupt im Westerwald zu sein. Alles Selbstverständlichkeiten, die ebenso wie der raue Ton der Ausbilder zum Tagwerk gehörte.
Acht Mann pro Stube und ein Mülleimer mit Stein drin, wahlweise eine Blechtrommel oder Trillerpfeife, um die Rekruten zu wecken. Wir sangen, marschierten, schossen und lebten monatelang aufeinander und lernten einander dabei auch kennen. Der eine kam aus Niedersachsen, wo unsere Ausbildung stattfand. Ein anderer stammte aus München, wieder ein anderer aus Dresden oder Leipzig. Alles junge Männer, alle ganz selbstverständlich Deutsche, egal ob sie nun SPD wählten, grün tickten oder eher konservativer dachten.
Dass wir Deutsche waren, stand ja völlig außer Frage. Definieren musste das niemand, Nazis hasste jeder und die Türken beteten noch nicht, trugen keinen Bart und sprachen hessischen Dialekt. Überhaupt war Religion kein Thema, und der Gottesdienst nach unserem Gelöbnis wurde auch von den Deutschen mit türkischen Namen besucht, ohne, dass diese sich beschwert hätten. Wir sprachen viel über die Welt, Gott, Deutschland und wie es wohl weitergehen würde mit Europa. Für uns war der Zukunftsausblick positiver, als ich ihn heute sehe. Wir dachten alle, dass nun, wo wir wiedervereinigt sind und der Kalte Krieg überwunden ist, dass Deutschland Frieden findet und einen neuen Nationalstolz hervorbringt, der alle Menschen mitnimmt.
Unser Kompanieführer sprach nach den langen und entbehrlichen Monaten am Ende unserer Ausbildung von dem «Stolz» und der «Ehre», die er empfand, wenn er uns «deutsche Soldaten» nun endlich verabschieden konnten. Er hielt eine lange Rede über den Sinn der Heimat, dass sie uns von Gott gegeben ist, ein Raum ist, in den wir hineingeboren sind und der uns dadurch Verpflichtung und Privileg zugleich ist.
Und dass wir alle sehr glücklich sein können, weil es keinen Krieg zwischen Deutschen gab und wir zu den besonders Glücklichen gehören, die jetzt in einem wiedervereinigten Deutschland gemeinsam dem Vaterland dienen können – und dass das Vaterland immer schon grenzenlos war und in unseren Herzen weiterlebte, auch wenn eine Mauer uns trennte.
Die Worte habe ich nicht vergessen und mein Leben lang verinnerlicht.
2017 besuchte ich die Truppe im Rahmen einer Reserveübung Ende September wieder, und war nicht einfach nur schockiert, sondern völlig entsetzt. Von dem Pathos der frühen 2000er und späten 1990er hatte nichts überlebt. Die Kameraden, mit denen ich diente, alles Zeitsoldaten, sangen nicht und sie sprachen auch nichts von Sinn und Wert. Es drehte sich um DZE, was man danach machen würde, wo Man(n) dann arbeiten könnte und wie man am besten die Zeit bis zum nächsten Antreten totschlägt.
Als ich dann mit den Kameraden auf einen 6-km-Marsch ging, stimmte ich ein Lied an und war dann der einzige Soldat, der mitsang. Denn von den jüngeren Männern, alle außer mir zwischen 20 und 30 Jahren alt, konnte keiner den Text meiner Marschlieder von früher.
Da hätte Frau von der Leyen ja überhaupt nichts verbieten müssen, wenn die Soldaten die Lieder sowieso nicht mehr kennen!
In meinen zwei Wochen fiel mir auf, dass die Vitrinen der Kaserne teils leer standen und bis auf die Deutschlandfahnen an den Uniformen eigentlich überhaupt GAR NICHTS darauf hindeutete, dass es sich hier um eine deutsche Truppenunterkunft handelte. So steril wie ein Krankenhaus. Keine Truppenfahnen, kaum Kompaniefotos und keine Bilder, die älter als zehn oder zwanzig Jahre waren.
Am Tag der Deutschen Einheit, nur wenige Tage vor dem Ende meiner Übung, gab es ein großes Antreten (in heutigen Zahlen einer Kompanie also knapp 70 Personen). Es gab die Besprechung eines Schießens, das vor kurzem stattgefunden hatte und den Hinweis auf die Feldjäger in der Kaserne, die jetzt wieder Geschwindigkeitskontrollen durchführen würden.
Als die Nationalhymne angestimmt wurde, übertönte ein langsam vorbeischleichendes Kfz die angetretenen Kameraden, die man wohl auch nicht im Gebäude gehört hätte, selbst wenn die Fenster weit offen gewesen wären. Nicht einmal vor der Fahne versammelte man sich noch, sondern sang lieb- und kraftlos ein Lied ab, das scheinbar keine Bedeutung mehr für die jüngeren Menschen unter uns hat, die die deutsche Teilung nicht mehr kennen und die ein einiges und freies Vaterland für selbstverständlich halten.
Ich verließ die Truppe am Freitag gegen Mittag und nahm mir fest vor, mich von zukünftigen Übungen bei dieser Bundeswehr fernzuhalten. Sicher war unser Essen damals schlechter, unsere Stuben hatten keinen Fernseher und wir hatten hässliche Uniformen in NATO-Grün.
Aber wenigstens war uns allen gemein, dass wir unser Vaterland noch inbrünstig liebten und verehrten. Deutschland war uns noch ein Wert, den man nicht mit Eurogeld und Zulagen aufwiegen konnte.