Wie ein westlicher Agent Sozialisten für die „deutsche“ Kriegsschuld benutzte

von Angelika Eberl und Herbert Ludwig

Schon bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges rückten immer mehr revolutionäre Sozialisten in der SPD von deren Kriegszustimmung ab und machten eine kriegstreibende und -auslösende Rolle des Kaiserreichs geltend.

Diese aus dem grundsätzlichen sozialistischen Argwohn gegen das „gesellschaftliche Amalgam“ aus Monarchie, Großgrundbesitz, Monopolkapital und Militär genährten Thesen wurden von westlichen Agenten befeuert und ausgenutzt, um entsprechende Bedingungen für den Versailler „Friedensvertrag“ zu schaffen. Die dort vor 100 Jahren fabrizierte deutsche Alleinschuld legte die Gleise für die nachfolgenden, für Deutschland noch verheerenderen Ereignisse.

Ab dem 5. August 1914 sammelte sich um Rosa Luxemburg die Gruppe Internationale, die auch der SPD eine wesentliche Mitschuld am Zustandekommen des Weltkrieges gab. 1915 rückten weitere SPD-Mitglieder von ihrer bisherigen Zustimmung zum Krieg ab. Vor allem Kurt Eisner glaubte sich nach dem Studium von Dokumenten kriegführender Staaten von einer kriegsauslösenden Rolle des Kaiserreichs überzeugt.

Die im April 1917 gegründete USPD forderte die sofortige Beendigung des Krieges und lehnte die Friedensresolution des Reichstags ab. Die ihr beigetretene Spartakusgruppe forderte im Dezember 1917 reichsweite Massenstreiks, um den „Völkermord“ zu beenden. Die deutsche Regierung habe den Krieg entfesselt, aber dieser sei Folge des gesamteuropäischen Imperialismus, den nur eine soziale Revolution stürzen könne.“ 1

Vorbereitende Propaganda in England

Der Krieg hatte eine lange Vorlaufzeit. Eine internationale negative Stimmung wurde schon ab Mitte der 1890er Jahre in England gegen den Wirtschaftskonkurrenten Deutschland verbreitet. Einflussreiche Zeitschriften schufen ein zunehmend anti-deutsches Klima in Großbritannien und im weiteren Europa.2

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es die britische Elitegruppe des „Round Table“ unter der Leitung von Lord Milner, von der eine negative Propaganda gegen Deutschland bis zu der Behauptung ausging, die kriegerischen Deutschen bereiteten eine Invasion der britischen Inseln vor.

Der erste Leitartikel ihrer Zeitschrift „The Round Table“ vom November 1910 hieß „Anglo-German Rivalry“ und porträtierte das Deutsche Kaiserreich als Reich der Finsternis und das British Empire als Reich des Lichts. Das Kaiserreich wurde einer „unerbittlich aggressiven Politik, die weder Recht noch Gerechtigkeit“ anerkenne, beschuldigt, während das British Empire in den hellsten Farben geschildert wurde:

„…das  Empire ……ist kein Imperium, sondern ein Regierungssystem, das einem Viertel der Menschheit Frieden und Hunderten von Millionen rückschrittlicher Menschen eine bessere Regierung gibt, als sie auf andere Weise bekommen könnten….“

Dieser Artikel war anonym – doch heute weiß man, dass es Philipp Kerr, ein Jünger Lord Milners war, der ihn verfasst hat.3

Der Historiker Markus Osterrieder fasst aus seinen Forschungen die Bestrebungen der Elitegruppe des „Round Table“ und des mit ihr verbundenen Debattierclubs der „Coefficients“ so zusammen:

„Einig war man sich über den zu erwartenden Großkrieg mit Deutschland, das (…) als einzig mögliche, weil existenzielle Bedrohung dienen sollte, die nötig erschien, um die English minds aus ihrer Lethargie zu neuen Anstrengungen zu befreien. Der erste Schritt hierzu sei ein Bündnis mit Russland mit Hilfe von Konzessionen in der Orientpolitik, wie der spätere Außenminister Edward Grey betonte – nicht zuletzt, um zwischen Deutschland und Russland einen Keil zu treiben.“

Der Philosoph Bertrand Russel verließ den Club aus Protest gegen die Kriegsabsichten wieder.4

Diese Kreise hatten nach dem wesentlich von ihnen selbst betriebenen Krieg5, ebenso wie die Geistesbrüder in den USA, das größte Interesse daran, Deutschland vor aller Welt als den allein schuldigen Aggressor darzustellen, um damit alle Ausbeutungs- und Unterdrückungsmaßnahmen rechtfertigen zu können.

Dieser Schuldvorwurf konnte umso wirksamer sein, wenn er von Deutschen in der deutschen Öffentlichkeit selbst vertreten und verbreitet wurde. Die deutschen Sozialisten boten dafür einen Ansatzpunkt. Die Verbindung zu ihnen herzustellen, gelang dem amerikanischen Agenten George D. Herron.

George D. Herron

war ein pazifistischer Geistlicher, Dozent, Schriftsteller und christlich-sozialistischer Aktivist. Er war von Anfang an gegen Deutschland mit seinem angeblichen preußischen Militarismus feindlich gesinnt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, befürwortete er den Eintritt der USA in den Krieg, da er die Übel des „Preußismus“ für angeboren und anders nicht ausrottbar ansah.

Mit dem Ausbruch der Feindseligkeiten zog Herron von Italien, wo er sich aus privaten Gründen aufhielt, nach Genf, um sich „näher im Zentrum des Konflikts“ zu befinden. Er begrüßte den Kriegseintritt der USA, der im April 1917 erfolgte. Ende November 1917 war er der Hauptredner auf einer Konferenz hinter verschlossenen Türen von rund 25 wichtigen amerikanischen Entscheidungsträgern über die Situation in Italien, die vom amerikanischen Botschafter W.F. Sharp in Paris einberufen wurde.

„Danach begann Herron mit regelmäßigen schriftlichen Berichten an die Amerikanische Gesandtschaft in Bern, Schweiz. Zusätzlich zu seiner nachrichtendienstlichen Arbeit im Auftrag des US-Außenministeriums lieferte Herron ähnliche Berichte an das britische Kriegsministerium und das britische Außenministerium. Herrons Intelligenz und Analyse wurden von den Briten sehr geschätzt, die ihm 1.000 Franken pro Monat zur Verfügung stellten (Hervorhebung hl), damit stenographische Hilfe eingestellt werden konnte.

Herron hatte die Aufgabe, seinen Vorgesetzten Details seiner Gespräche und Korrespondenz mit verschiedenen deutschen Kontakten und Bekannten, darunter viele Wissenschaftler, zu übermitteln. Diese Berichte wurden oft in Form von Appellen seiner deutschen Mitarbeiter für ein bestimmtes Vorgehen von Präsident Wilson und seiner Regierung verfasst.“ (Englisch-sprachige Wikipedia)

Kontakte mit deutschen Sozialisten

Einer der ersten Sozialisten, mit dem Herron in Kontakt kam, war vermutlich der Professor für Nationalökonomie und intime Kenner des englischen Geschäfts- und Bankwesens Edgar Jaffé. Dieser war im Weltkrieg zeitweilig Wirtschaftssachverständiger beim Zivilgouvernement in Belgien6 und 1915 gelegentlich im Auftrag der OHL (Obersten Heeresleitung) im Ausland tätig,

so vor allem in der Schweiz, wo er mit dem amerikanischen Vermittler George D. Herron in Verbindung trat.“ 7

Jaffé wandte sich immer mehr dem Sozialismus zu, wurde 1917 Mitglied der von der SPD abgespaltenen USPD, der auch führend Kurt Eisner angehörte.

Im November 1918 gelang in München nach einer kurzen unblutigen Revolution die Ausrufung einer Räterepublik, deren Ministerpräsident Kurt Eisner wurde. Dieser ernannte Edgar Jaffé zu seinem Finanzminister. So vermittelte dann auch Jaffé

den Kontakt zwischen Herron und Eisner über die Frage eines deutschen Schuldbekenntnisses.“8

Kurt Eisner stand auch unter starkem Einfluss des Münchner Philosophen und Pazifisten Prof. Friedrich Wilhelm Foerster, der wegen heftiger Kritik an der deutschen Kriegspolitik zeitweise in die Schweiz emigrierte und dort seine kritischen Veröffentlichungen fortsetzte. Eisner ernannte ihn zum bayerischen Gesandten in Bern.

Von dort nahm er sofort Kontakt mit dem angloamerikanischen Agenten George Herron auf. Die Historikerin Annette Weinke schreibt zum Hintergrund dieser Verbindung:

Dieser hatte ihm Hoffnung gemacht, dass sich die harten Waffenstillstandsbedingungen durch ´Schritte zu einem vollen und offenen Bekenntnis der Schuld und Untaten der deutschen Regierung am Anfang des Krieges und an den Grausamkeiten der Kriegsführung` unter Umständen abmildern ließen.“ 9

Herron leitete Eisners Bitte um Milderung der Waffenstillstandsbedingungen umgehend an den US-Präsidenten Woodrow Wilson weiter, wie die linke „Revolutions-Zeitung“ zum 12.11.1918 meldet.10

Am 17.11.1918 berichtete Herron per folgendem Telegramm an Kurt Eisner und Edgar Jaffé:

„Ich habe mein möglichstes getan, um den Präsidenten Wilson und die Entente-Regierungen zu überzeugen, dass Ihre Regierung vertrauenswürdig ist. Ihre beiden Telegramme mit meinen Begleitworten versehen wurden unverzüglich an den Präsidenten und an die Entente-Regierungen telegraphiert.

Vor allem rate ich Ihnen dringend, möglichst viele deutsche Staaten zu überzeugen, Ihrer Führung zu folgen, zweitens die ersten Schritte zu einem vollen und offenen Bekenntnis der Schuld und Untaten der deutschen Regierung am Anfang des Krieges und an den Grausamkeiten der Kriegführung zu unternehmen. Die moralische Wirkung einer solchen Handlung wäre gewaltig und entscheidend.

Drittens unternehmen Sie die ersten Schritte zur Berufung einer bayerischen oder deutschen Kommission, die die verheerten Gebiete Frankreichs und Belgiens besuchen und Ihrem Ministerium unverzüglich darüber Bericht erstatten sollte. Ich bitte Sie, kühn, offen und unverzüglich zu handeln, nicht nur Deutschlands sondern der Zivilisation und der Menschheit wegen.“ 11

Das Telegramm zeigt, wie intensiv die Einwirkung dieses angloamerikanischen Agenten auf die deutschen Sozialisten war, um sein Ziel zu erreichen.

George D. Herron hatte in der Schweiz noch Kontakte zu dem deutschen Sozialisten und Kriegsschuld-Bekenner Eduard Bernstein, dem Krupp-Direktor Wilhelm Muehlon, der 1917 ein Regierungs-kritisches Memorandum zur Julikrise 1914 veröffentlicht hatte, General Max Graf Montgelas, der aber trotz Kritik an der deutschen Kriegsführung ein Gegner der deutschen Kriegsschuldthese war, und dem Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger, der am 11.11.1918 als Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission als erster den Waffenstillstand unterzeichnet hatte.12

Lord Milner und Philipp Kerr

Wie oben erwähnt, wurde George Herron für seine Agententätigkeit auch von der britischen Regierung bezahlt, die seine Analysen sehr schätzte. Das britische Kabinett wurde insgeheim vom Milner-Kreis dominiert, der seit Jahren intensiv zum Krieg gegen Deutschland getrieben hatte. Außenminister Edward Grey war stark von ihm beeinflusst. Milner selbst, ab Dezember 1916 Mitglied des englischen Kriegskabinetts, war kurz Kriegsminister und gehörte dann als Kolonialminister zu den Unterzeichnern des Versailler Diktates.

Sein enger Vertrauter und Schüler Philip Kerr, oben als Redakteur der Hauszeitung „The Round Table“ bereits erwähnt, war als Sekretär von Premier Lloyd George an der Ausarbeitung des Versailler Vertrages beteiligt, und von ihm stammte die Formulierung des Alleinschuld-Paragraphen 231, der

„Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich“ machte, „die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.“ 13

So schließt sich der Kreis.

Kurt Eisners Veröffentlichung

Wie bereits in einem vorangehenden Artikel hervorgehoben14, veröffentlichte Eisner am 23. November 1918 einen Bericht des bayerischen Legationsrates Hans von Schoen in Berlin vom 18. Juli 1914 an den Vorsitzenden im bayerischen Ministerrat Georg Graf von Hertling, den er aber durch tendenziöse Hervorhebungen, Zusammenfassungen und entscheidende Auslassungen manipulierte, um damit zu „beweisen“, dass die deutsche Regierung einen europäischen Krieg gewollt habe.

In einer Quellensammlung von Dr. Pius Dirr15 wird der volle Wortlaut des bayerischenDokumentes der manipulierten Fassung von Eisner parallel gegenübergestellt, wodurch Manipulationen sofort deutlich ins Auge springen. Schon der Name des Verfassers des Berichtes, Legationsrat Hans von Schoen, wurde von Eisner durch Graf Lerchenfeld ersetzt.

Leider ist auf diesem Blog eine Parallelsetzung in dieser Form nicht möglich; daher werden im Folgenden wichtige Auszüge gebracht, bei denen die entscheidenden Auslassungen kursiv kenntlich gemacht werden.

Bereits im ersten Satz hat Eisner die kursiv gedruckte Einleitung, dass es um dem lokalen Konflikt mit Serbien geht, weggelassen:

„Auf Grund von Rücksprachen, die ich mit Unterstaatssekretär Zimmermann, ferner mit dem Balkan- und Dreibundreferenten im Auswärtigen Amt und mit dem österreichisch-ungarischen Botschaftsrat dahier hatte, beehre ich mich, Euerer Exzellenz über die von der österreichisch-ungarischen Regierung beabsichtigte Auseinandersetzung mit Serbien Nachstehendes gehorsamst zu berichten:

Der Schritt, den das Wiener Kabinett sich entschlossen hat, in Belgrad zu unternehmen und der in der Überreichung einer Note bestehen wird, wird am 25. ds. Mts. erfolgen. Die Hinausschiebung der Aktion bis zu diesem Zeitpunkt hat ihren Grund darin, dass man die Abreise des Herrn Poincaré und Viviani von Petersburg abwarten möchte, um nicht den Zweibundmächten eine Verständigung über eine etwaige Gegenaktion zu erleichtern.

Bis dahin gibt man sich in Wien durch die gleichzeitige Beurlaubung der Kriegsminister und des Chefs des Generalstabs den Anschein friedlicher Gesinnung und auch auf die Presse und die Börse ist nicht ohne Erfolg eingewirkt worden.

Dass das Wiener Kabinett in dieser Beziehung geschickt vorgeht, wird hier anerkannt, und man bedauert nur, dass Graf Tisza, der anfangs gegen ein schärferes Vorgehen gewesen sein soll, durch seine Erklärung im ungarischen Abgeordnetenhaus den Schleier schon etwas gelüftet hat. Wie mir Herr Zimmermann sagte, wird die Note, soweit bis jetzt feststeht, folgende Forderungen enthalten:
1.   Den Erlass einer Proklamation durch den König von Serbien, in der ausgesprochen   werde, dass die serbische Regierung der großserbischen Bewegung vollkommen fernstehe und sie missbillige.
2.   Die Einleitung einer Untersuchung gegen die Mitschuldigen an der Mordtat von Serajewo und Teilnahme eines österreichischen Beamten an dieser Untersuchung.
3.   Einschreiten gegen alle, die an der grossserbischen Bewegung beteiligt seien.
Für die Annahme dieser Forderungen soll eine Frist von 48 Stunden gestellt werden.
Dass Serbien derartige, mit seiner Würde als unabhängiger Staat unvereinbare Forderungen nicht annehmen kann, liegt auf der Hand.
Die Folge wäre also der Krieg.

Hier ist man durchaus damit einverstanden, dass Österreich die günstige Stunde nutzt, selbst auf die Gefahr weiterer Verwicklungen hin. Ob man aber wirklich in Wien sich dazu aufraffen wird, erscheint Herrn von Jagow wie Herrn Zimmermann noch immer zweifelhaft. Der Unterstaatssekretär äusserte sich dahin, dass Österreich-Ungarn, dank seiner Entschlusslosigkeit und Zerfahrenheit, jetzt eigentlich der kranke Mann in Europa geworden sei, wie früher die Türkei, auf dessen Aufteilung Russen, Italiener, Rumänen, Serben und Montenegriner warteten. Ein starkes und erfolgreiches Einschreiten gegen Serbien würde dazu führen, dass die Österreicher und Ungarn sich wieder als staatliche Macht fühlten, würde das darniederliegende wirtschaftliche Leben wieder aufrichten und die fremden Aspirationen auf Jahre hinaus niederhalten. Bei der Empörung, die heute in der ganzen Monarchie über die Bluttat herrsche, könne man wohl auch der slawischen Truppen sicher sein. In einigen Jahren sei dies, bei weiterer Fortwirkung der slawischen Propaganda, wie General Conrad von Hötzendorff selbst zugegeben habe, nicht mehr der Fall.

Man ist also hier der Ansicht, dass es für Österreich sich um eine Schicksalsstunde handle, und aus diesem Grund hat man hier, auf eine Anfrage aus Wien, ohne Zögern erklärt, dass wir jedem Vorgehen, zu dem man sich dort entschliesse, einverstanden seien, auch auf die Gefahr eines Krieges mit Russland hin. Die Blankovollmacht, die man dem  Kabinettschef des Grafen Berchtold, dem Grafen Hoyos gab, der zur Übergabe eines Allerhöchsten Handschreibens und eines ausführlichen Promemorias hierhergekommen war, ging so weit, dass die österreichisch-ungarische Regierung ermächtigt wurde, mit Bulgarien wegen Aufnahme in den Dreibund zu verhandeln!

In Wien scheint man ein so unbedingtes Eintreten Deutschlands für die Donaumonarchie nicht erwartet zu haben, und Herr Zimmermann hat den Eindruck, als ob es den immer ängstlichen und entschlusslosen Stellen in Wien fast unangenehm wäre, dass von deutscher Seite nicht zur Vorsicht und Zurückhaltung gemahnt worden sei. Wie sehr man in Wien in seinen Entschlüssen schwankt, beweise der Umstand, dass Graf Berchtold, 3 Tage nachdem er hier wegen eines Bündnisses mit Bulgarien hatte anfragen lassen, telegraphiert habe, dass er doch noch Bedenken trage, mit Bulgarien abzuschließen.

Man hätte es daher auch hier lieber gesehen, wenn mit der Aktion gegen Serbien nicht so lange gewartet und der serbischen Regierung nicht die Zeit gelassen würde, etwa unter russisch-französischen Druck von sich aus eine Genugtuung anzubieten.“

Das folgende kursiv Gedruckte hat Kurt Eisner ausgelassen – dabei enthält es das Wesentliche. Eisner ließ stattdessen drucken:

„Es wird dann in diesem Berichte des Grafen Lerchenfeld an den Grafen Hertling weiter über die diplomatische Aktion Deutschlands geplaudert.“

Fortsetzung des ungekürzten Texts, in dem das Wichtigste kommt (Hervorhebung hl und ae):

„Wie sich die anderen Mächte zu einem kriegerischen Konflikt zwischen Österreich und Serbien stellen werden, wird nach hiesiger Auffassung wesentlich davon abhängen, ob Österreich sich mit einer Züchtigung Serbiens begnügen oder auch territoriale Entschädigungen für sich fordern wird. Im ersteren Falle dürfte es gelingen, den Krieg zu lokalisieren, im anderen Falle wären größere Verwicklungen wohl unausbleiblich.

Im Interesse der Lokalisierung des Krieges wird die Reichsleitung sofort nach der Übergabe der österreichischen Note in Belgrad eine diplomatische Aktion bei den Grossmächten einleiten.“

Folgenden Inhalt brachte Eisner sogar teilweise in Sperrschrift:

„Sie wird mit dem Hinweis darauf, dass der Kaiser auf der Nordlandreise und der Chef des Grossen Generalstabs sowie der preussische Kriegsminister in Urlaub seien, behaupten, durch die Aktion Österreichs genauso überrascht worden zu sein als wie die anderen Mächte.“

Das folgende kursiv Gesetzte ließ Eisner wieder aus – obwohl es eine Passage enthält, die ebenfalls deutlich macht, dass die deutsche Regierung keinen großen Krieg wollte (Hervorhebung hl und ae):

(Wie ich mir hier einzuschalten gestatte, ist nicht einmal die italienische Regierung ins Vertrauen gezogen worden). Sie wird geltend machen, dass es im gemeinsamen Interesse aller monarchischen Staaten liege, wenn „das Belgrader Anarchistennest“ einmal ausgehoben werde, und sie wird darauf hinarbeiten, dass die Mächte sich auf den Standpunkt stellen, dass die Auseinandersetzung zwischen Österreich und Serbien eine Angelegenheit dieser beiden Staaten sei. Von einer Mobilmachung deutscher Truppen soll abgesehen werden, und man will auch durch unsere militärischen Stellen dahin wirken, dass Österreich nicht die gesamte Armee und insbesondere nicht die in Galizien stehenden Truppen mobilisiere, um nicht automatisch eine Gegenmobilisierung Russlands auszulösen, die dann auch uns und danach Frankreich zu gleichen Massnahmen zwingen und damit den europäischen Krieg heraufbeschwören würde.

Entscheidend für die Frage, ob die Lokalisierung des Krieges gelingen wird, wird in 1. Linie die Haltung Russlands sein.

Will Russland nicht auf alle Fälle den Krieg gegen Österreich und Deutschland, so kann es in diesem Falle – und das ist das Günstige der gegenwärtigen Situation – sehr wohl untätig bleiben und sich den Serben gegenüber darauf berufen, dass es eine Kampfweise, die mit Bomben werfen und Revolverschüssen arbeite, ebensowenig wie die anderen zivilisierten Staaten billige. Dies insbesondere, solange Österreich nicht die nationale Selbständigkeit Serbiens in Frage stellt.

Herr Zimmermann nimmt an, dass sowohl England und Frankreich, denen ein Krieg zurzeit kaum erwünscht wäre, auf Russland in friedlichem Sinne einwirken werden; ausserdem baut er darauf, dass das „Bluffen“ eines der beliebtesten Requisite der russischen Politik bildet und der Russe zwar gerne mit dem Schwerte droht, es aber im entscheidenden Moment doch nicht gern für andere zieht.

England wird Österreich nicht hindern, Serbien zur Rechenschaft zu ziehen; nur eine Zertrümmerung des Landes wird es kaum zulassen, vielmehr – getreu seinen Traditionen – vermutlich auch hier für das Nationalitätenprinzip eintreten.

Ein Krieg zwischen Zweibund und Dreibund dürfte England im jetzigen Zeitpunkt schon mit Rücksicht auf die Lage in Irland wenig willkommen sein. Kommt es gleichwohl dazu, so würden wir aber nach hiesiger Anschauung die englischen Vettern auf der Seite unserer Gegner finden, da England befürchtet, dass Frankreich im Falle einer Niederlage auf die Stufe einer Macht zweiten Ranges herabsinken und damit die „balance of power“ gestört würde, deren Erhaltung England in eigenen Interesse für geboten erachtet. …. “

Es folgen noch lange Passagen,  die von Eisner ausgelassen oder sehr stark zusammengefasst wurden.

So also hat Eisner seine These von der deutschen Kriegsschuld beweisen wollen.

An den Passagen in von Schoens Text, die von Eisner ausgelassen worden sind, kann man erkennen, dass von deutscher Seite am 18. Juli 1914 die Intention bestand, einen lokal begrenzten Krieg zwischen Österreich und Serbien zu akzeptieren, dass aber ein großer europäischer Krieg nicht gewollt war.

Zudem sollte man beachten, dass dieser Text immer noch in der Phase der Empörung über die Ermordung des Thronfolgerehepaares geschrieben worden war, der einen Terrorakt von serbischer Seite darstellte.

Und es war nicht der erste Terrorakt. Man war sich in Wien und Deutschland durchaus bewusst, dass es in Serbien einflussreiche Gruppen gab, die relativ öffentlich das Ziel vertraten, Gebietsteile aus Österreich-Ungarn herauszulösen und einem vergrößerten Serbien einzugliedern.

Man empfand: Wenn Österreich-Ungarn sich solche tödlichen Provokationen weiterhin ohne Gegenwehr gefallen ließ, dann lief es Gefahr, den Respekt und die Stellung als Großmacht zu verlieren.

Das Deutsche Reich seinerseits hatte eigentlich nur noch Österreich-Ungarn als verlässlichen Verbündeten in einem Umkreis von ihm ansonsten feindselig gesinnten Großmächte. Doch wie feindselig die maßgeblichen Kräfte innerhalb dieser Großmächte tatsächlich waren, darüber täuschte man sich im deutschen Kaiserreich, und das wird in diesem Bericht deutlich.

In einer fairen, historischen Beurteilung sollte maßgeblich sein, dass dieser Gesandtschaftsbericht erstens: kein für die Öffentlichkeit bestimmter Text war und zweitens: nicht die endgültige Position der deutschen Regierung darstellte, denn die deutsche Reichsregierung hat am 30. August 1914 ihren Standpunkt nochmals geändert, wie unten dargelegt werden wird.

Durch Eisners Auslassungen wurde dieser Text jedoch so ummanipuliert, dass den Lesern der Eindruck vermittelt wurde, als ob die aufgeführten Personen planvoll einen großen Krieg in Europa gewollt hätten.

Die Verfechter der deutschen Kriegsschuld-These um Fritz Fischer bauen ihre Argumentation im Wesentlichen um die, im Text erwähnte, Blankovollmacht herum auf, die Kaiser Wilhelm II dem Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn am 6. Juli 1914 gegeben hat.

„Es geht aber darum, zu verstehen, dass diese Vollmacht nicht das maßgebliche Dokument für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist. Für Deutschland war 1914 der Erhalt der internationalen Machtstellung Österreichs eine Lebensfrage. Dieser erforderte eine solche Regelung des Verhältnisses zu Serbien, das die südslawische Irredenta eingedämmt hätte. Um Österreich freie Hand für eine solche Regelung zu geben, ist die deutsche Vollmacht gegeben worden.16

… und nicht um die Ermordung des Österreich-Ungarischen Thronfolgers als Gelegenheit zu nutzen, einen europaweiten, großen Krieg zu entfesseln, bei dem die Mittelmächte sich unweigerlich einer gewaltigen Übermacht gegenüber gesehen hätten. Außerdem hat die deutsche Regierung am 30. Juli 1918, „angesichts der Gefahr eines europaweiten Konflikts,“ ihren Standpunkt geändert, wie Jacob Ruchti anhand der frühen Ausgaben des britischen Weissbuchs darlegt:

Jetzt, am 30. Juli, angesichts der Gefahr eines allgemeinen Krieges, legte Deutschland seinem Verbündeten den Gedanken nahe, eine europäische Vermittlung anzunehmen.“17

Weitere Hintergründe und diplomatische Aktivitäten vor dem Ersten Weltkrieg werden in einem folgenden Aufsatz dargelegt.

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1)      Wikipedia – Kriegsschuldfrage
2)      Siehe: John P. Cafferky : Lord Milners Second War und A.J.A.Morris: The Scaremongers – the Advocacy of War and Rearmement, 1896-1914, London, 1984.
3)      Terry Boardman:  ‘Narratives’: 1914-2018: The War on Russia, Germany and ‘Hate’ http://threeman.org/?p=2667
4)      Markus Osterrieder: Welt im Umbruch, Stuttgart 2014, S. 879
5)      Vgl.: Wie einflussreiche Kreise in England …
6)      deutsche-biographie.de
7)      Franz J. Bauer:  „Die Regierung Eisner 1918/19 – Ministerratsprotokolle und Dokumente. Band 10 der Reihe: Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Düsseldorf, 1987, S.XLIV ff.
8)       a.a.O.
9)       Annette Weinke: „Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit“. Göttingen, 2016, S. 70
10)     revolutionszeitung.de
11)     Pius Dirr: Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch. Im Auftr. d. Bayer. Landtags, 3., erw.Aufl., München, 1925, S. 39
12)     Martin Korol: „Dada, Präexil und die Freie Zeitung“,
Bremen-Tartu-Sofia 2001, S. 253
13)     Markus Osterrieder a.a.O., S. 1466
14)     Kurt Eisner und die Lügen über …
15)     P. Dirr: Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch. München und Berlin 1925, S. 3.
16)     Jacob Ruchti / Helmuth von Moltke: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Perseus Verlag, Basel 2005, Kommentar 43 auf S.123-124
17)     Ebenda, S. 65

 

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Quelle und Kommentare hier:
https://fassadenkratzer.wordpress.com/2019/03/21/wie-ein-westlicher-agent-sozialisten-fuer-die-deutsche-kriegsschuld-benutzte/