Tempolimits und andere Gerechtigkeiten in Wendezeiten

von Roger Letsch

Auf einigen wenigen deutschen Autobahnen gelegentlich Vollgas geben zu können, gehört sicher in die Reihe nationaler Eigenarten wie isländischer Gammelhai oder amerikanische Waffengesetze und es lassen sich natürlich für jede Abweichung von einer nicht definierten „internationalen Norm“ Gründe finden, diese Marotten zu regulieren und zu verbieten.

Das fehlende generelle Tempolimit auf unseren Autobahnen gehört bislang zu den international bekannteren deutschen Mythen, bekannter noch als finstere deutsche Wälder, Kuckucks-Uhren oder Lederhosen und dient nicht selten als Erklärung für die Zuverlässigkeit deutschen Automobilbaus. Doch da sich letzterer ohnehin auf dem Weg der ideologischen Abschaffung befindet, braucht man die „freie Fahrt für freie Bürger“ wohl auch nicht mehr. In schöner Regelmäßigkeit wird folglich das „Ende der Raserei“ gefordert.

Die jüngste Debattenauffrischung kam von der „Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität – für eine bezahlbare, nachhaltige und klimafreundliche Mobilität“, einer personalstarken regierungsamtlichen Fazilität, welche reich an Wichtigkeit und arm an Selbstzweifeln und direkt dem Koalitionsvertrag der Regierungsparteien entsprungen ist. Seit einem Jahr schauen die Experten dieser Regierungskommission nun schon in ihre Kristallkugel und haben herausgefunden, was geschehen müsse in Deutschland, um die Verkehrswende einzuleiten: Tempolimits auf Autobahnen und Steuererhöhungen auf Diesel – kleine Grausamkeiten sind erlaubt, weil man sonst die „Wende” nicht schafft…wer hätte das gedacht!

Energiewende, Ernährungswende, Verkehrswende, Gerechtigkeitswende

Nun hat Verkehrsminister Scheuer zwar schon erklärt, dass er eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung für überflüssig hält und die Restbestände der Autorepublik atmen erleichtert auf. Doch die Entwarnung war nur von kurzer Dauer, denn kommt der Stein erst mal ins Rollen, gibt es bekanntlich kein Halten mehr. Verkehrsexperten der SPD nehmen den Vorschlag schon begeistert auf und ignorieren in Todesverachtung das, was ihre Restwähler von derlei Einschränkungen halten. Auch die Deutsche Umwelthilfe, dieser umtriebige Klageverein aus Hannover, dankt für die Steilvorlage und fordert gleich ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Bundesstraßen.

Nicht geäußert hat sich Scheuer jedoch zu den anderen schlauen Ideen der Regierungskommission, etwa der Forderung, das „Steuerprivileg“ für Diesel abzuschaffen – im Namen der Gerechtigkeit, versteht sich. Als wenn sich die Worte „Diesel“ und „Privileg“ heute noch sinnvoll in einem deutschen Satz unterbringen ließen! Dieses „Steuerprivileg“ könnte man ja auch beseitigen, indem man die Steuern für Benzin senkte, aber, nun ja, Sie erkennen selbst, liebe Autofahrer, das geht natürlich nicht! Immer wenn man in die Tasche greift, stellt man fest, dass die öffentliche Hand schon da ist und die bekommt man auch nicht so leicht wieder raus aus den Taschen der Bürger.

Höchstens aus Versehen, so wie zwischen Hannover und Braunschweig auf der gut und sechsspurig ausgebauten A2, wo vor einigen Jahren für viel Geld mehrere vollautomatische Blitzer aufgestellt wurden, die jedoch nicht kassieren dürfen, weil die erlaubte Geschwindigkeit auf der gesamten Strecke automatisiert geregelt wird, inklusive der Aufhebung jeder Geschwindigkeitsbegrenzung – was die meiste Zeit der Fall ist. Der Autofahrer freut sich diebisch, mit 180 km/h an den schweigenden Blitzern vorbeizurasen, dabei sollte er sich eigentlich immer noch darüber ärgern, dass er die Installation dieser nutzlosen Anlagen mit Steuergeldern finanziert hat. Aber ich schweife ab, wir wollten ja nicht über Steuerverschwendung reden, sondern über die Regulitis und Verboterie, welche in Deutschland grassieren. Oder hängt das vielleicht am Ende sogar irgendwie zusammen? Gibt es überhaupt einen qualitativen Unterschied zwischen der Ressourcenverschwendung, derer man sich mit Vollgas auf der Autobahn schuldig macht und der Verschwendung von Steuermitteln, um dem beizukommen? Doch da ist der Deutsche Michel duldsam! Bevor er selbst sein Geld zum Fenster hinauswirft, kann das ja auch gleich der Staat für ihn machen.

Paradigmenwechsel an der Tachonadel

Bemühte man bei früheren Versuchen, in Deutschland ein generelles Tempolimit durchzusetzen, gern noch Vernunft und Unfall-Statistik, zieht man heute angesichts sinkender Todesraten gern die Klima-Karte und winkt mit der CO2-Bilanz. Doch was für ein schwaches Argument ist das! Und wie willkürlich die geforderten Höchstgeschwindigkeiten!

Warum nur 130 oder 120 fordern, wenn man noch viel mehr regeln, steuern und be-steuern könnte? Warum nicht gleich Tempo 90? Jeder weiß doch, dass der Verbrauch im höchsten Gang bei diesem Tempo noch geringer ist. Und auch dort ist Regulierers Traum noch nicht zu Ende: Wer sagt denn, dass jeder gefahrene Autokilometer überhaupt nötig ist, selbst wenn er unter optimalen Bedingungen und mit Biosprit aus eigener Ernte zurückgelegt wurde?

Warum keine Zuteilung von Benzin (Diesel wird ja ohnehin nicht mehr gebraucht) pro Kopf und Monat oder eine beim Verkehrsminister angesiedelte Strecken-App, mit der man privaten Transportbedarf anmeldet und je nach Bewertung durch das Ministerium eine Genehmigung erhält – oder diese „aus Gründen“ verweigert wird?

Es muss ja schließlich niemand ausgerechnet an einer regierungskritischen Demo teilnehmen, das ist nur Energieverschwendung! Warum deckeln wir nicht gleich den CO2-Ausstoß pro Kopf und wer sein Jahresbudget erreicht hat, der darf nur noch Fahrrad fahren. Man könnte sich ja durch das Fahren einer Fahrrad-Rikscha nach Feierabend CO2-Gutscheine erstrampeln oder im Fall von Katharina Schulze mit heißer Luft ein Jahr lang den bayrischen Landtag heizen, um einen Transatlantikflug zu kompensieren.

Ölheizung? Verbieten! Überhaupt heizen über 17°C. Pullover anziehen muss verpflichtend werden! SUV? Verbieten! Du wohnst in einer Stadt mit Stadt- und U-Bahn? Du musst kein Auto haben! Alles, was heute als heroischer Verzicht und selbstgewählte Lebensweise daherkommt, also als hipp, urban und progressiv gilt und damit den leuchtenden Pfad ins Morgen weist, könnte doch Gesetz werden und endlich ALLE glücklich machen!

Vegan, glutenfrei, rauchfrei, autofrei, energiearm, bio und den „Fußverkehr“ stärkend, wie die „Plattform Zukunft Mobilität“ das seit der Erfindung des aufrechten Gangs bekannte Laufen nennt – so geht Freiheit heute! So sagt man.

Freiheit: vom Abwehrrecht zum Staatsziel

Um den Staat aus Häusern und Köpfen seiner Bürger herauszuhalten, gaben sich die republikanisch-demokratischen Nationalstaaten Verfassungen, in welchen sie elementare Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat definierten. Man nennt diese Rechte auch Freiheiten.

Heute scheint es oft, als sehe sich der Staat eher als Akteur bei Ausgestaltung und Interpretation dieser Freiheiten. Er tut so, als schenke er sie den Bürgern und erwarte im Gegenzug, dass diese Freiheiten „verantwortungsbewusst“ genutzt würden, also am besten gar nicht. Ein Selbstermächtigung ist da nicht vorgesehen und wird mit moralischer Entmündigung und „wohlwollender Bevormundung“ geahndet.

Deshalb kommt mit der Information im öffentlich-rechtlichen TV gleich die Erziehung mit. Deshalb muss die Größe einer Tiefkühlpizza reguliert werden, deshalb braucht es dringend eine Lebensmittel-Ampel und deshalb fordern sogar schon deutsche Journalisten, Zwang anzuwenden, um die Menschen zu guten „Entscheidungen“ in Sachen Ernährung zu bringen oder, am anderen Ende der Verdauungskette, endlich das Klopapier abzuschaffen!

Von selbst sind die Leute einfach nicht schlau genug und zu bequem und putzen sich womöglich ihre Hintern, ohne darüber nachzudenken, wie es besser ginge, weshalb der Staat es ihnen leicht machen muss und sie zur richtigen Entscheidung zwingen soll. Bloß nichts selbst entscheiden lassen, der Bürger könnte Fehler machen. One size fits all – bei Ernährung, Verkehrsmitteln und Gedanken. Das geht leider manchmal schief, wie man im Fall der Leistungsbegrenzung von Staubsaugern auf EU-Ebene aktuell sehen kann. Die Verordnung wurde gerichtlich aufgehoben, was in der Konsequenz natürlich nur bedeuten kann, dass man irgendwann auch Gerichte verbieten muss. Im Namen der Gerechtigkeit!

Gerechtigkeit: von der Theorie zum Staatsziel

Für private Entscheidungen im Leben, die man selbst zu verantworten hat, spielt der Begriff der Gerechtigkeit eher eine theoretisch oder im weitesten Sinn religiöse Rolle. Unterschiedliche Lebenswege, Herkunft, Geburtsort und -zeit, Bildung, körperliche oder geistige Fähigkeiten, Schönheit und Gebrechen – von Gerechtigkeit kann man hier kaum sprechen. Der Zufall, Schicksal, Gott, die Evolution oder der große Rambazamba sind unfaire Gegner im Armdrücken. Aber „Gerechtigkeit“ ist hier ja auch nicht die richtige Kategorie, weil am Tisch die Mitspieler „Glück“, „Pech“, „Fleiß“, „Talent“ und „Bequemlichkeit“ sitzen.

Anders liegt die Sache, wenn wenn man den Blick in die „Gesellschaft” wirft und der Staat auf allen Ebenen mehr als nötig in das Zusammenspiel eingreift und behauptet, er werde für Gerechtigkeit sorgen. Hier fragt sich der beschenkte Bürger natürlich schon, ob die staatliche Aufmerksamkeit auch tatsächlich „gerecht“ verteilt wird – denn jeder Bürger zählt! Das sagen uns die Politiker bei jeder Gelegenheit.

Ist es etwa gerecht, dass in der Großstadt die Busse und Bahnen im Fünfminuten-Takt fahren, während man auf vielen Dörfern nach 19 Uhr ohne Auto nirgends mehr hinkommt? Ist es gerecht, dass sich ein Hausbesitzer subventionierte Solar-Panele auf das Dach schrauben kann, während dessen Mieter die EEG-Umlage bezahlen muss? Ist es gerecht, dass den Stuttgarter Theater- und Konzerthäusern Abonnenten aus dem Umland verloren gehen, weil diese befürchten, bei Fahrverboten irgendwann nicht mehr anreisen zu können?

Ist es gerecht, wenn SPD-Politiker eine 50%-ige Frauenquote für Abgeordnete fordern, in ihrer Parteibasis selbst aber nur auf 32% Frauenanteil kommen und ist es nicht höchst ungerecht, dass die Gruppe der funktionalen und echten Analphabeten, die in Deutschland ca. 14% der Bevölkerung stellen, so schwach in den Parlamenten vertreten ist?

Die Liste der gefühlten Gerechtigkeitslücken, die nach staatlicher Regulierung, Verboten und Verhaltensgeboten verlangen, wird immer länger und teilweise auch immer absurder.

Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendeine neue Ungerechtigkeit entdeckt würde, die es dringend abzustellen gälte. Der Blick für das große Ganze geht immer mehr verloren, weil sich die Politik heillos in Identitätspolitik verfangen hat und uns alle in den Wahnsinn reguliert.

Alles, was schnellen Erfolg verspricht und eine möglichst exakt definierbare Gruppe besserstellt, wird auf die Agenda gesetzt.

Die Währung für diesen politischen Overkill heißt „Gesetz“, das Kleingeld „Regulierung“ und davon möchte jeder Politiker möglichst eines erfunden, geladen und entsichert haben. So folgt Murks auf Stückwerk auf Regulierung auf Neufassung auf Verschärfung. Ludwig von Mises nannte dieses zwangsläufige Ergebnis staatlicher Eingriffe treffend „Interventionsspirale“ und vermutlich hätte er seine Freude daran, zu beobachten, wie diese Spirale sich in der heutigen Zeit immer schneller dreht, da die Politik Menschen in immer kleinere Gruppen und Untergruppen aufteilt und über gruppenspezifische Merkmale anspricht.

Was dabei herauskommt, ist oft das genaue Gegenteil dessen, was man erreichen wollte. Die geradezu kristallreine Idee der „Energiewende“ beispielsweise schuf nicht das effiziente, resiliente Stromnetz von morgen, sondern zwei ineffiziente, fragile und hochsubventionierte Parallelsysteme mit ungewisser Zukunft.

Die zahlreichen und oft wohlbegründeten von den Bauherren Berlin und Brandenburg vorgenommenen Änderungen an den Plänen zum BER hatten zur Folge, dass der Flughafen nicht besser, sondern nie fertig wurde. Die Erfahrung mit Fahrverboten in deutschen Innenstädten wiederum zeigte, dass sich die Luft in Sachen NOx und Feinstaub nicht verbesserte, dafür aber durch Umwege und den Umstieg der Fahrer auf Benziner der CO2-Ausstoß erhöht wurde – und gerade den glaubt man ja von staatlicher Seite auch reduzieren zu müssen – Stichwort „Klimagerechtigkeit“.

Tempolimit und Steuererhöhung auf Diesel?

Otto-Normalverbrenner wird sich noch eine Weile darüber aufregen, dass die Lobbyverbände und der Staat ihm schon wieder an die Wäsche wollen und sich am Ende freuen, wenn nur eine der angekündigten Grausamkeiten eintritt – Steuererhöhung oder Tempolimit.

Und wenn die Empörung dann immer noch nicht nachlässt, hilft es sicher, Deutschland als rückständiges, international isoliertes Land hinzustellen.

„Freie Fahrt für freie Bürger nur in Deutschland und Tansania?“ fragt Stegner und versucht den deutschen Gemeinsinn dort zu packen, wo er am empfindlichsten ist: bei der Angst, in einer Sache allein gegen die ganze Welt zu stehen und sich nicht hinter einer wie auch immer zusammengeklingelten Mehrheit verschanzen zu können.

Wenn wir jedoch das einzige Land auf der Welt sind, das seine Grenzen nicht schützen zu dürfen glaubt, stört uns die Einsamkeit seltsamerweise nicht! Von unserem dreifachen Rittberger aus Energiewende, Verkehrswende und Deindustrialisierung auf sehr dünnem Eis wollen wir gar nicht erst sprechen, denn diesen Sprung macht uns ja klugerweise auch keiner nach.

Es wird wohl so weitergehen mit irrwitzigen Verboten und Regulierungsideen aus der Politik, denn die Gesetzmäßigkeiten der staatlichen Interventionsspirale sorgen dafür, dass sich sofort drei neue Gerechtigkeitslücken auftun, sobald eine geschlossen ist. So hat man immer was zu tun.


Quelle und Kommentare hier:
https://unbesorgt.de/tempolimits-und-andere-gerechtigkeiten-in-wendezeiten/