Mietpreis für die Atemluft

von Herbert Ludwig

Steigende Mieten sind auch für die Wohnung-schaffenden Heimbaugesellschaften unangenehm, nicht nur in Deutschland. Andere Länder kommen da auf überraschende, in die Zukunft weisende Lösungen in der Behandlung des Wohnungseigentums.

Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit haben der regierende Präsident und die ihn tragende Oberschicht der kleinen abgelegenen Republik Mätopia gesetzlich verfügt, dass die Luft über den Grundstücken Bestandteil des jeweiligen Bodeneigentums sein solle. Mietern einer Grundstücksimmobilie steht danach die Luft nur dann zum Atmen zur Verfügung, wenn sie neben der Wohnungsmiete noch eine Luftmiete entrichten.

Mätopia, eine demokratische Volksrepublik, in der ein gütiger Präsident – von den Bewohnern liebevoll Patron (Schutzherr) genannt – mit starker Hand für deren Wohlergehen sorgt, liegt am Südhang eines Gebirges direkt am Meer und zieht mit seiner Schönheit und mildem Klima immer mehr Touristen aus anderen Ländern an. 820.000 Einwohner leben in dem dichtbesiedelten Land von nur 40 km2 Ausdehnung. Das Haus- und Wohnungseigentum gehört traditionell zu 80 % der herrschenden Oberschicht, 20 % haben sich fleißige Menschen der Mittelschicht erwerben können, die es zumeist selbst bewohnen. Die Oberschicht macht 10 % der Bevölkerung aus, die grundbesitzende Mittelschicht 15 %. Dreiviertel der Bevölkerung müssen also zur Miete wohnen.

In alter Zeit hatte sich bei der Landnahme der Adel den ganzen Boden angeeignet und an die Untergebenen zur Bewirtschaftung verpachtet, das dem Adel Abgaben zu dessen Lebensunterhalt leisten und ihm seine Schlösser und Häuser bauen musste. Dafür hat dieser es dann auch wacker gegen die Feinde beschützt. So ist das Bodeneigentum Weniger über die Jahrtausende weiter vererbt worden und auch später durch teilweisen Verkauf an solche, die es sich finanziell leisten konnten, immer in der Hand einer Minderheit geblieben.

Ein grummelnder Alter aus dem Volk meinte zwar, dieses private Bodeneigentum beruhe, worauf schon das lateinische Verb privare (= rauben) hindeute, auf dem Raub weniger, allen hätte ein Stück Boden zugestanden. Jeder Mensch habe einen Anspruch auf ein Stück der von Gott für seine Geschöpfe geschaffenen Erde, auf dem er leben und schlafen kann; das würde noch nicht einmal den Tieren verwehrt. Die Erde sei keine von Menschen gemachte Ware, die persönliches Eigentum werden könne. Gehörte es wenigen, würden die anderen von ihnen existenziell abhängig und könnten ausgebeutet werden. – Doch niemand hörte auf ihn, zumal sich bei ihm, wie eine führende Zeitung aus gut unterrichteter Quelle meldete, bereits Symptome einer schleichenden Demenz gezeigt haben sollen.

Auf den Gedanken der Luftmiete war der Vorstandsvorsitzende der „Vereinigten Stahlwerke AG“ Uritur Avaritia gekommen, als das Parlament, dem er selbst angehört, gegen seine und die Stimmen der anderen Industrievertreter mit knapper Mehrheit ein Gesetz beschloss, das die Industrie zum Einbau von Abgasfiltern verpflichtete, um der zunehmenden Luftverschmutzung Herr zu werden. Bei ungünstiger Witterung hatte die Bevölkerung schon zum Tragen von Atemschutzmasken veranlasst werden müssen. Die Filteranlagen waren sehr teuer, und der Chef der Stahlwerke legte seinerseits einen Gesetzentwurf vor, nach dem die Kosten sowohl von der Steuer absetzbar, als auch zu Teilen vom Staat subventioniert werden sollten. Zum Ausgleich für die Belastung der Staatskasse schlug er die Luftmiete vor, da die Luft ein lebensnotwendiges allgemeines Gut sei und die Luftreinheit schließlich ebenso im Interesse der Bevölkerung liege wie die Erhaltung der Arbeitsplätze. Das Gesetz wurde nach langer Debatte schließlich mit großer Mehrheit angenommen.

Die Durchführungsmodalitäten bereiteten der Verwaltung lange Zeit Kopfzerbrechen. Experten befürchteten einen extrem hohen und teuren Verwaltungsaufwand, andere hielten die Sache überhaupt für undurchführbar. Da kam einer auf die geniale Idee, die Luftmiete an die seit Jahrtausenden bewährte Wohnungsmiete zu binden, sie von den vermietenden Eigentümern einziehen und an die Staatskasse abführen zu lassen. Für ihren Aufwand könnten die Eigentümer der Wohnungen selbst von der Luftmiete befreit werden. Da dreiviertel der Bevölkerung zur Miete wohne, käme schon genug Geld herein.

Hinzu müsse man noch die meisten der 15 % Eigentümer aus der Mittelschicht zählen, die ihre Häuser und Wohnungen nur selbst bewohnten und daher die Luftmiete auch zahlen müssten. Dies fand bei den Abgeordneten des Parlamentes, die fast alle zur Oberschicht gehörten, begeisterte Zustimmung. Die Berechnung der Luftmiete erfolgte pro m3-Anteil Luft in der Wohnung, den man auf 1 Pecu im Monat festlegte. Obdachlose wurden zu einer allgemeinen monatlichen Atmungspauschale von 15 Pecu verpflichtet, da sie ja auf kommunalen Grundstücken und Bänken lebten und deren zugehörige Luft verbrauchten. Von der Atmungssteuer konnten sie sich jedoch mit gemeinnützigen Arbeiten befreien, etwa durch Besprengen dicht befahrener Straßen zur Verhinderung gefährlicher Feinstaubaufwirbelungen. Auch waren schon mit Laubsauger an den Staustrecken der Städte spürbare Reduktionen der Diesel-Emissionen erzielt worden.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Professoren der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften an den beiden staatlichen Hochschulen, der „Freien Universität“ und der „Unabhängigen Technischen Universität“, in einer gutachterlichen Stellungnahme diese aus der Praxis geborene Idee für gut und wissenschaftlich begründet erklärten. Einige Professoren ließen durchblicken, dass sie natürlich selbst schon auf eine solche humane Fortentwicklung des Rechts gekommen seien, sie aber wegen evtl. zu befürchtender sozialer Unruhen zuerst den verehrten Parteikollegen, dem Wissenschafts- und dem Innenminister, zur wohlwollenden Überprüfung haben vorlegen wollen.

Der Verwaltungsaufwand erwies sich noch wesentlich einfacher als gedacht, da es nur wenige Vermieter von Einzelwohnungen gab. Die allermeisten Wohnungseigentümer, eben die der Oberschicht, die 80 % aller Wohnungen besaßen, hatten ihre oft zahlreichen großen Wohnblocks zur eigenen Entlastung längst auf große steuergünstige Immobiliengesellschaften übertragen, bei denen sie entsprechend ausreichende Aktienanteile hielten, die ihnen mühelose regelmäßige Einkünfte garantierten. Die größte Immobiliengesellschaft des Landes mit Namen „Wohnfine“ besaß allein 49 % aller Mietwohnungen, so dass es die Staatskasse letztlich nur mit wenigen Schuldnern der Luftmieten zu tun hatte.

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Die Einführung der Luftmiete hätte wohl leicht zu einem geschlossenen Aufschrei der Empörung führen können, wenn es nicht die Medien, allesamt im Besitz der Oberschicht, verstanden hätten, der Meldung mit wohlklingenden Formulierungen jede einseitige Schärfe zu nehmen. Sie beschworen die für alle bestehenden Gefahren der Luftverschmutzung, zu der sicher die Industrie beigetragen habe, aber schließlich doch in der unermüdlichen Sorge um den Wohlstand des Landes und die Erhaltung der Arbeitsplätze.

Aber auch die Bürger seien durch extensiven Gebrauch ihres Autos, häufige Flug- und Schiffsreisen, ihre Heizungsanlagen und Grillfeuer am Wochenende und nicht zuletzt durch den eigenen, ständig CO2 ausstoßenden Atem an der bedrohlich am Horizont aufsteigenden Klimakatastrophe beteiligt. Man müsse also als Notgemeinschaft zusammenstehen und die notwendigen Kosten auf möglichst viele Schultern verteilen.

Das Volk brummelte und nörgelte zwar hier und da, doch ergab man sich schließlich achselzuckend in sein Schicksal, an dem man ja selber doch nichts ändern konnte. Nur der grummelnde Alte eilte, so schnell ihn seine schmerzgeplagten Beine tragen konnten, zornigen Auges auf den Marktplatz der Hauptstadt und prangerte von einer Kiste aus mit flammenden Worten die „absolute Ungeheuerlichkeit“ an, die sich hier abspiele.

Zur Ausbeutung durch die Wohnungsmiete komme jetzt noch die nicht weniger unverschämte Luftmiete hinzu. Der einzige Vorteil daran sei, dass sie die traditionelle Ungerechtigkeit des geraubten Bodeneigentums mit noch anmaßenderer Hybris bewusst mache. Erde und Luft seien neben dem Wasser die Gott-gegebenen Lebensgrundlagen für alle Geschöpfe. Merke man denn nicht, dass es der Teufel sei, der diese gotteslästerliche Anmaßung einblase, die Elemente zum privaten Eigentum einer Minderheit zu erklären und die anderen Menschen damit zu unterdrücken und zu knechten?!

Eine ansehnliche Menge hatte sich um ihn versammelt und hörte ihm nachdenklich zu, stob aber rasch auseinander, als sich ein Trupp Polizisten den Weg bahnte, den Alten festnahm und abführte. -Einige Wochen später berichteten die Medien, dass der wunderliche Kauz wegen Volksverhetzung angeklagt, vom Volksgerichtshof jedoch infolge einer fortgeschrittenen Demenz für schuldunfähig erklärt und in die Psychiatrie eingewiesen worden.

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Die letztendlich allgemeine Ergebenheit des Volkes, ja sein Verständnis für die Luftmiete, die das Leben bei einer 100 m2-Wohnung mit 2,50 Raumhöhe um 250 Pecu im Monat verteuerte, war umso erstaunlicher, als erst unmittelbar in den Monaten zuvor ein geradezu explosiver Anstieg der Wohnungsmieten stattgefunden hatte. – Die erreichte Friedfertigkeit der Menschen hielten sich insbesondere die beiden staatlichen Fernsehsender mit ihren die Gedanken und Gefühle harmonisierenden Wohlfühlprogrammen zugute. – Ausländische Investoren, darunter vor allem die Fondsgesellschaft Gray Rock, hatten bei den Immobiliengesellschaften des Landes mit über dem Börsenwert liegenden Angeboten erhebliche Aktienanteile erwerben können und drängten auf eine Steigerung des in ihren Augen viel zu niedrigen Gewinnes auf zweistellige Prozentsätze.

Das Parlament hatte zwar auf Betreiben der Gewerkschaft eine allgemeine Mietpreisbremse eingeführt, um vor allem die Unterschicht zu beruhigen. Doch führten die Immobiliengesellschaften in den zum großen Teil älteren Wohnungen in breitem Maße wertsteigernde Modernisierungen durch, deren Kosten sie nach dem Gesetz sukzessive zu 11% auf die Mieter abwälzen und so die Mietbremse unterlaufen konnten. Nach neun Jahren hatte der Mieter also 99 % der Kosten abbezahlt. Allerdings war es dem Vermieter danach nicht zuzumuten, die Miete wieder zu senken. Böse Zungen behaupten, der Sinn und Zweck, überhaupt zu modernisieren, sei in vielen Fällen nur, die alten Mieter loszuwerden. Dann sei die Wohnung ein Vielfaches wert und werde gerne als Eigentumswohnung zum Höchstpreis verkauft.

Die hier wohnenden Arbeiter und Rentner mit niedrigem Einkommen sahen sich plötzlich Mietsteigerungen von 30 %, teilweise sogar von 50 bis 70 % gegenüber, die sie tatsächlich kaum zahlen konnten. In einem, aber mittlerweile typischen Fall wurde die Miete einer Wohnung um ca. 200 %, um genau zu sein, von 458 auf 1408 Pecu angehoben; in einem weiteren Fall um 273 % von 564 Pecu Kaltmiete auf 2.109 Pecu.

So wurden immer mehr Menschen der Unterschicht und zunehmend auch der Mittelschicht zum Wegzug in ärmere Viertel veranlasst – wo indessen dieselbe Methode sie auch dort bald einholte. Auf diese Weise standen zwar ständig viele Wohnungen leer, in die aber nach und nach einkommensstärkere Mieter einzogen. Und das Proletariat fand sich immer mehr in Armenvierteln mit den verwahrlostesten Wohnungen zusammengedrängt, in denen nichts mehr investiert wurde.

Vor kurzem berichtete ein kleines Anzeigeblatt in der Hauptstadt von einem kauzigen privaten Vermieter, der zum Ärgernis der großen Immobiliengesellschaften in einem noblen Vorort eine 80-Quadratmeter-Wohnung für unter 1.500 Pecu Kaltmiete angeboten hatte. Am nächsten Morgen standen 843 Bewerber in einer langen Schlange vor seinem Haus – selbst für einen abgebrühten Vermieter eine seltsame Erscheinung.

Ein Mitarbeiter eines kleinen verbotenen Mietervereins, der im Untergrund arbeitet, meinte zu einem Bekannten, die Immobiliengesellschaft Wohnfine, die 130.000 Wohnungen besitze, mache im Schnitt jährlich 8.400 Pecu Gewinn pro vermietete Wohnung, also 700 im Monat. Na ja, antwortete dieser, sie hätten ja auch viel Arbeit und Ärger, den Menschen ein schönes Zuhause zu bieten. Und von der neuen Luftmiete hätten sie ja nichts, sie mache erhebliche Verwaltungskosten und müsste voll an den Staat abgeführt werden.

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Ein Nest der Kritik an der privaten Boden- und Lufthoheit hatte sich in einer kleinen nicht-staatlichen Hochschule gebildet, der es durch eine Gesetzeslücke gelungen war, eine staatliche Genehmigung zu erhalten. In einem Artikel dieser Institution in der wissenschaftlichen Zeitung für Soziologie argumentierte ein Professor für die Vergemeinschaftung des Bodens und die gerechte Verteilung an alle Bürger. Der Artikel alarmierte etliche Hauseigentümer aus der Mittelschicht, die dahinter sozialistische Zustände witterten und den Verlust ihres mühsam ersparten Eigenheimes befürchteten.

In einer Vortragsveranstaltung des Professors rückten sie diesem mit zorniger Sorge zu Leibe. Dieser erwiderte, dass man Boden und Gebäude rechtlich trennen müsse. Der Boden habe als Gemeinschaftsgut in der Verwaltung der Kommune zu stehen, die ihn allen Bürgern zur Wohnbebauung und sonstigen Nutzung zur Verfügung stelle. Ein darauf errichtetes Haus sei selbstverständlich Eigentum des Bürgers selbst. Das Wichtige sei, dass der Boden dem Handel und der astronomischen Bodenspekulation entzogen werde. Das verbillige auch in hohem Maße den Wohnungsbau und stelle ihn auf reale Grundlagen.

Viele blieben skeptisch, da Boden und Gebäude nicht zu trennen seien und beide ja auch seit Jahrtausenden ein gemeinsames Eigentumsrecht bildeten. Das stolze Wohnen auf eigener Scholle gebe dem Menschen Unabhängigkeit und Würde. Letzterem stimmte der Professor zu, jedoch mit der frömmelnden Einschränkung, dass die Scholle allerdings Gottes sei, der sie  geschaffen habe.

Die Vorgänge drangen auch zum Ohr des Wissenschaftsministeriums, das daraufhin den Betrieb der Hochschule einer eingehenden Prüfung unterzog. Es kam schließlich zu dem Ergebnis, dass sie die Anforderungen neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit nicht mehr erfülle und ihr die Zulassung wieder zu entziehen sei.

Diese bodenreformerischen Ideen beunruhigten die Regierung mehr, als sie sich anmerken ließ. Denn sie sah die soziale Sprengkraft, die ihnen innewohnte und die ganze bisherige Herrschaftsordnung zu gefährden drohte. Daher hielt Präsident Solegna Lekremon eine Fernsehansprache an sein Volk, in der er davor warnte, utopischen Ideen auf den Leim zu gehen, mit denen einige ausländische Agenten die auf allgemeinen Menschenrechten gegründete und über Jahrtausende bewährte Rechtsordnung beseitigen wollten, um Unruhe, Unsicherheit und Chaos zu erzeugen.

„Seien Sie versichert“, sagte er, „das ist ein gutes Mätopia, das beste, das wir jemals hatten. Treten Sie mit mir für ein modernes Land ein, in dem wir gut und gerne leben!“

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Quelle und Kommentare hier:
https://fassadenkratzer.wordpress.com/2019/04/09/mietpreis-fuer-die-atemluft/