Karl der kleiner Gewordene: Schatten über obligatorischer EU-Selbstbeweihräucherung in Aachen

von Pierre Lévy

Die Bundeskanzlerin hat dem französischen Präsidenten den Karlspreis überreicht. Es müssen wirklich merkwürdige Zeiten herrschen, dass Informationen, wie sie in Bezug auf die am 10. April in Aachen vollzogene Zeremonie bekannt wurden, kein allgemeines Gelächter auslösen.

Der Karlspreis wird jedes Jahr an eine Persönlichkeit verliehen, die sich um die „europäische Einigung“ verdient gemacht hat. Emmanuel Macron reiht sich damit in eine fröhliche Truppe ein, zu der unter anderem auch schon Martin Schulz, Wolfgang Schäuble, der EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk, der EU-Kommissions-Vorsitzende Jean-Claude Juncker, der ehemalige NATO-Generalsekretär Javier Solana, der ehemalige US-Präsident William Clinton, der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet, Papst Johannes Paul II. und Papst Franziskus gehören. Auch der Euro als Währung und die Europäische Kommission selbst sind bereits mit dieser Trophäe ausgezeichnet worden. Angela Merkel war ihrerseits 2008 von Nicolas Sarkozy mit dem begehrten Preis geehrt worden.

Wird Macron am Ende zum Carolus Magnulus?

Je nachdem, wie man aufgelegt ist, kann man über die inzestuösen Selbstbeglückwünschungen im engsten Kreis der Macht lächeln und an den Regisseur Jean-Luc Godard denken, der sich gern mit beißendem Spott über seine Kollegen lustig machte, indem er sie als „Fachleute des Fachs“ bezeichnete – oder sich fragen, was die führenden Politiker unbewusst bezweckt haben, die mit Karl dem Großen das Symbol eines Imperiums für die höchste Auszeichnung der Europäischen Union gewählt haben…

Im Moment ist ihnen nicht mehr nach Feiern zumute: Die Völker nehmen dem „großen europäischen Abenteuer“ gegenüber eine zunehmend zurückhaltende und sogar feindliche Haltung ein; die geopolitischen Herausforderungen multiplizieren sich, insbesondere weil Donald Trump die Achse Europa-Nordamerika in Frage stellt, auf der die westliche Allianz seit 1945 beruht. In den Hauptstädten der EU selbst werden die Widersprüche gravierender, wie der ungarische Premierminister am 10. Mai in seiner Rede bewies, als er die Projekte eines integrierten Europas als „Albtraum“ qualifizierte; und es gibt zwischen Paris und Berlin zu vielen Themen mehr andauernde Spannungen denn je.

Davon zeugen auch die in Aachen nacheinander gehaltenen Reden. Gewiss hat es zwischen Emmanuel Macron und Angela Merkel nicht an offenen Sympathiebekundungen und gegenseitigen Komplimenten gemangelt. Die Kanzlerin lobte begeistert die „Leidenschaft“, die ihr französischer Kollege für Europa hegt, diese „Leidenschaft“, die für eine Weiterführung der EU so notwendig ist – und, so bedauerte Frau Merkel stillschweigend, so sehr fehlt…

„Europäische Souveränität“ – ein klassisches Oxymoron

Immerhin haben die beiden Regierungschefs einstimmig das verunglimpft, was sie als verhängnisvolle Versuchungen eines Rückschritts, als – in Bezug auf die zentraleuropäischen Staaten – „illiberale“ Auswüchse, als „nationalistischen Rückzug“ beschrieben. Angesichts dessen muss „Europa sein Schicksal in die Hand nehmen“, insistierten sie. Denn „es ist nicht mehr so, dass die Vereinigten Staaten von Amerika uns einfach schützen werden“, klagte die Kanzlerin. Deshalb muss eine „europäische Souveränität“ errichtet werden, wiederholte der französische Präsident und vermischte erneut „Souveränität“ – die gar keinen Sinn birgt, da es kein europäisches Volk gibt – mit imperialer Einflussnahme, wie sie das kaum verhohlene Ziel der EU ist.

Tatsache aber bleibt, dass sich das „französisch-deutsche Paar“ über viele Punkte streitet. Besonders im wirtschaftlichen Bereich ist das der Fall. Die Beobachter haben die ungewöhnlich harte Kritik des französischen Präsidenten bemerkt, der Berlins „Fetischismus für Haushalts- und Handelsüberschüsse“ verdammte – Überschüsse, die „zulasten der anderen Länder“ der EU realisiert würden…

Die Kanzlerin hat ihrerseits eingeräumt, dass die Differenzen groß und die Debatten schwierig seien. Angesichts der zunehmenden Ungeduld des französischen Staatschefs, der erneut eine stärkere Währungsintegration verlangte, hat Frau Merkel versprochen, dass bis Juni gemeinsame Vorschläge gefunden würden. Doch am gleichen Tag bestätigte Olaf Scholz, dass Berlin nicht bereit sei, seine als orthodox geltende Finanzpolitik zu ändern.

Italien könnte zum weiteren Sargnagel für das europäische Projekt werden

Bei diesen Unstimmigkeiten geht es nicht um Grundsätzliches – die deutschen und französischen Politiker sind mehr denn je für eine europäische Integration –, sondern um unterschiedliche Interessen. Diese sind zwar nicht neu, werden aber nun durch die Furcht vor einem möglichen europäischen Zerfall verschärft, zu dem weitere Widerstände in der Bevölkerung führen könnten.

Wie es der Zufall wollte, war am Tag der Preisverleihung an Emmanuel Macron zu erfahren, dass sich in Italien der Weg für eine Regierungsbildung durch die beiden großen Sieger der Wahl vom 4. März abzuzeichnen scheint. Die Wähler dieser beiden großen Kräfte sind der europäischen Integration am feindlichsten gesinnt.

Nun ist in diesem Stadium noch nichts entschieden, doch wenn in Rom die vielleicht am offensten als solche agierende „Anti-System-Koalition“ in der Geschichte der EU geboren werden sollte, könnte sich Emmanuel der Große ebenso wie Kaiserin Angela durchaus mit Albträumen eines ganz neuen Ausmaßes konfrontiert sehen…


Quelle und Kommentare hier:
https://deutsch.rt.com/meinung/69846-karl-kleiner-gewordene-schatten-uber/