Joachim Hoffmann: Stalins Vernichtungskrieg, Teil 2

von Julius Rabenstein

2. Der Angriff Hitlers kam Stalin zuvor

Stalin hatte am 5. Mai 1941 offiziell die geistig-propagandistische Umstellung der Roten Armee auf den Angriffsgedanken gefordert und die große Überlegenheit der Roten Armee gerühmt, nicht aber die eigentliche Frage einer operativen Vorbereitung des Angriffskrieges gegen Deutschland berührt, was vor dem Auditorium der Versammlung im Kreml auch nicht gut möglich war. Die militärischen Vorbereitungen waren jedoch längst angelaufen. So hatte die Rote Armee, wie der spätere Chef des Generalstabes, Marschall der Sowjetunion Zukov, zugestehen muß, schon im Jahre 1940, also lange vor dem deutschen Aufmarsch, eine Offensivaufstellung in den exponierten Frontbogen bei Bialystok und Lemberg eingeleitet. Eine Konferenz hoher Befehlshaber der Roten Armee unter dem Vorsitz des Volkskommissars der Verteidigung, Marschall der Sowjetunion Timosenko, hatte im Dezember 1940 den Beschluß gefaßt, einen künftigen Krieg als Offensivkrieg zu führen.

Im Januar 1941 erbrachten zwei großangelegte Stabsmanöver des hohen Führerbestandes der Roten Armee, ebenfalls unter der Leitung des Volkskommissars der Verteidigung, erste Erkenntnisse für die Durchführung eines Angriffskrieges gegen Deutschland. Durchgespielt worden war einmal eine Offensive starker sowjetischer Kräfte aus dem baltischen Raum heraus zur Eroberung von Ostpreußen und Königsberg, zum anderen eine Offensive überwältigender Kräfte aus dem Raum um Brest heraus und über die Karpathen hinweg in südwestlicher Stoßrichtung zur Eroberung von Südpolen, der Slowakei und Ungarn.

Zehn Tage nachdem Stalin dann seine Kriegsdrohungen ausgestoßen hatte, am 15. Mai 1941, überreichte der Chef des Generalstabes der Roten Armee, Armeegeneral Zukov, dem >Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR Genossen Stalin< im Beisein des Volkskommissars der Verteidigung, Marschall Timosenko, den gemeinsam von ihnen unterfertigten Plan für einen Angriffskrieg gegen Deutschland unter dem unverfänglichen Titel »Erwägungen zum strategischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krieges mit Deutschland und seinen Verbündeten«. Der Stellvertretende Chef der Operationsabteilung des Generalstabes, Generalmajor Vasilevskij, hatte dieses der größten Geheimhaltung wegen nur in einem Exemplar vorhandene Dokument handschriftlich in die Reinschrift übertragen und es persönlich im Empfangsraum Stalins im Kreml Zukov übergeben. Vom Ersten Stellvertretenden Chef des Generalstabes, Generalleutnant Vatutin, waren Unterstreichungen und redaktionelle Korrekturen mit Bleistift eingefügt worden.

Dieser Plan für einen Angriffskrieg gegen Deutschland, den der Kandidat der Geschichtswissenschaften, Oberst Valerij Danilov, unter Beiwirkung des Universitätsdozenten Dr. Heinz Magenheimer von der Landesverteidigungsakademie in Wien in der renommierten ÖSTERREICHISCHEN MILITÄRISCHEN ZEITSCHRIFT veröffentlicht und eingehend kommentiert hat, ist die Quintesenz noch anderer Projekte, die der Generalstab im Frühjahr 1941 für einen Angriff gegen Deutschland ausgearbeitet hatte. Es seien genannt:

1. Der strategische Aufmarschplan der Streitkräfte der UdSSR für den Fall eines Krieges mit Deutschland vom 2. März 1941,
2. Der vorgesehene Einsatzplan für den Fall eines Krieges mit Deutschland, auf welche sich das Dokument vom 15. Mai 1941 bezog,
3. Der »Präzisierter Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion nach West und Ost« vom 11. März 1941, der nach Generaloberst Volkogonov ebenfalls unter Beteiligung von Generalmajor Vasilevskij angefertigt und von Marschall Timosenko und Armeegeneral Zukov Stalin vorgetragen worden ist.

Danilov zitiert ein kurzgefaßtes sogenanntes >Angriffscredo< aus dem Generalstabsplan vom 15. Mai 1941 mit den »Erwägungen zum Plan eines strategischen Aufmarsches der Streitkräfte der Sowjetunion«, den Oberst Karpov in der Zeitschrift KOMMUNIST im Jahre 1990 auszugsweise abgedruckt hat und der von der Wochenschrift DER SPIEGEL 1991 als Zukovs Angriffsplan vorgestellt worden ist mit dem vielsagenden Untertitel »Wie der Generalstabschef der UdSSR im Mai 1941 Hitler zuvorkommen wollte«.

Das Verdienst Oberst Danilovs besteht darin, daß er den sowjetischen Angriffsplan vollständig veröffentlicht und umfassend kommentiert hat, dabei überaus beweiskräftige Einzelheiten der militärischen Vorbereitungen ausbreitend. …

Worin bestanden nun die Einzelheiten des Generalstabsplanes? Das oben erwähnte kurze >Angriffscredo< lautete folgendermaßen: »Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein Heer mit eingerichteten Rückwärtigen Diensten mobil gemacht hält, so kann es uns beim Aufmarsch zuvorkommen und einen Überraschungsschlag führen. Um dies zu verhindern und die deutsche Armee zu zerschlagen, erachte ich es für notwendig, dem deutschen Kommando in keinem Falle wie auch immer die Initiative zu überlassen, dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und die Deutsche Armee in dem Moment anzugreifen, wenn sie sich im Stadium des Aufmarsches befindet und noch nicht in der Lage ist, eine Front aufzubauen und das Zusammenwirken der Waffengattungen zu organisieren.« …

Erstes strategisches Ziel nach dem Generalstabsplan war die Vernichtung der Hauptkräfte der deutschen Wehrmacht südlich der Linie Brest-Deblin und das Erreichen der Linie Ostroleka-Narew-Lodz Kreuzburg-Oppeln-Olmütz innerhalb von 30 Tagen. Zweites strategisches Ziel war die Fortsetzung der Offensive aus dem Raum um Kattowitz heraus nach Norden und Nordwesten, um auch die Kräfte des linken deutschen Flügels zu zerschlagen und ganz Polen und Ostpreußen in Besitz zu nehmen. Der Hauptstoß sollte mit Kräften der Südwestfront aus dem Lemberger Frontbogen heraus geführt und das deutsche Heer von seinen südlichen Verbündeten abgeschnitten werden. …

Gegen Finnland und Ostpreußen, ebenso wie gegen Rumänien und Ungarn sollte zunächst eine aktive Verteidigung organisiert, im Süden aus den Räumen um Czernowitz und Kisinev heraus alsdann aber ein Angriff gegen Rumänien zur Einnahme von Jasi und zur Zerschlagung des linken Flügels der rumänischen Armee geführt werden. …

Der Generalstabsplan vom 15. Mai 1941 bedeutete in einem zentralen Punkt ein Abgehen von der bisherigen Lehre: Denn nicht mehr sollte ein feindlicher Angriff mit einem vernichtenden Schlage beantwortet werden, sondern mit einem vernichtenden Schlag sollte die Rote Armee einem feindlichen Angriff zuvorkommen, der zu diesem Zeitpunkt freilich noch insofern rein hypothetisch war, als die gepanzerten Stoßkräfte des deutschen Ostheeres überhaupt erst seit dem 3. Juni 1941 an der Ostgrenze aufmarschierten. Da dieser große Vernichtungsschlag dazu bestimmt war, wie Kalinin am 20. Mai 1941 verraten hatte, um »die Ausdehnung der Zone des Kommunismus«, das heißt um die Ausdehnung der Macht der Sowjetunion, war es demnach ein reiner Angriffs- und Eroberungskrieg, nicht aber ein Präventivkrieg, der hier vorbereitet wurde, so wie Hitler – obwohl aus anderen Beweggründen – einen Angriffskrieg plante. Es ist dies unabhängig davon, daß ein deutscher Aufmarsch zum Anlaß genommen wurde und es sich auch als notwendig erwies, die Angriffsvorbereitungen, das Zusammenziehen und den Aufmarsch der Truppen der Roten Armee, vorübergehend durch eine örtliche Verteidigung zu decken.

Das Gelingen des geplanten, großangelegten Überraschungsangriffs gegen die Truppen der Wehrmacht setzte einige Maßnahmen voraus, für die der Generalstab der Roten Armee am 15. Mai 1941 nachdrücklich eintrat.

1. Unter dem Anschein von Übungen für die Soldaten der Roten Armee sollte eine geheime Mobilmachung durchgeführt werden.
2. Unter dem Anschein des Beziehens von Ausbildungslagern sollten in der Nähe der Westgrenze Truppen zusammengezogen und vorrangig alle Armeen der Reserve des Oberkommandos konzentriert werden.
3. Die Luftstreitkräfte sollten insgeheim auf Feldflugplätzen zusammengezogen und mit dem Ausbau der Bodenorganisation sollte sofort begonnen werden.
4. Unter dem Anschein von Ausbildungsvorhaben und Übungen sollten ferner auch die Rückwärtigen Dienste organisiert werden.

Diese Forderungen entsprachen im wesentlichen den neuen operativen und taktischen Grundsätzen der Roten Armee, auf die auch die Deutschen frühzeitig aufmerksam geworden waren. Seit Frühjahr 1941 wurden deutscherseits in der sowjetischen Militärliteratur >weitgehende Untersuchungen< über die »Anfangsphase eines neuzeitlichen Krieges« registriert. Alle diese Untersuchungen, so heißt es in einer Zusammenstellung des Oberkommandos der deutschen 18. Armee vom 15. April 1941, gipfelten in der Erkenntnis, neuzeitliche Kriege würden beginnen »mit einem >Hineinkriechen< in den Krieg, ohne offizielle Kriegserklärung bei allmählicher und bis zur endgültigen Eröffnung der Feindseligkeiten getarnter Mobilmachung«. Motorisierte Kräfte und Kavallerie würden auf »Truppenübungsplätzen und bei Manövern« versammelt und »innerhalb kürzester Zeit als Einbruchsarmee verwandt werden«. Ziel der »überfallartigen Kriegseröffnung« sei es, »die Kriegshandlungen in das Land des Gegners zu tragen und von Beginn des Feldzuges an die Initiative zu gewinnen«. Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Forderungen noch in der Ausführung begriffen oder bis zum 22. Juni 1941 bereits durchgeführt worden waren.

Die Mobilmachung der Truppen sollte entsprechend den in dem Aufmarschschema festgelegten Terminen »bis ins kleinste« hinein vorbereitet werden. Der Generalstab wünschte anscheinend im Juni, »entschlossen einen Schritt nach vorn« zu tun und auch die allgemeine Mobilmachung durchzuführen, indessen verwarf Stalin einen entsprechenden Vorschlag Timosenkos und Zukovs am 14. Juni 1941, da eine Mobilmachung nach damaliger Auffassung automatisch die Eröffnung der Feindseligkeiten nach sich gezogen haben würde, die ja mit einem Überraschungsschlag zu einem selbstgewählten Zeitpunkt beginnen sollten. Auch die bisherigen Maßnahmen waren, wie Oberst Filippov unlängst nachgewiesen hat, schon so wirksam, daß es einer Mobilmachung überhaupt nicht mehr bedurfte. Im Mai 1941 hatte Stalin Befehl zur Einberufung von weiteren 800.000 Reservisten erteilt, so daß nun rund 300 Divisionen bereitstanden. Die Absicht dahinter hatten freilich auch die deutschen Kommandobehörden frühzeitig durchschaut, indem sie die zunehmenden Einberufungen von Spezialisten und die Einziehung ganzer Jahrgänge als eine zielbewußte Verstärkung der Roten Armee deuteten. …

Ebenso wie die geheime Mobilmachung war auch die geheime Zusammenziehung der Truppen unter dem Anschein von Ausbildungslagern weitgehend abgeschlossen. Ein System >dezentralisierter Lagerübungen< wurde von der Sowjethistoriographie geradezu als Beweis für die angeblich friedfertigen Absichten der Sowjetunion angeführt. Doch in Wirklichkeit hatte der Generalstab auf Weisung Stalins hin schon am 13. Mai 1941 unter strengster Geheimhaltung abermals vier Armeen aus dem Landesinnern in die Grenzrayone in Marsch gesetzt, denen im Juni weitere Armeen folgten. Es handelte sich um die 16., 19., 20., 21., 22., 24., 28., insgesamt also um sieben Armeen sowie um das 21. und 23. mechanisierte Korps und das 41. Schützenkorps.

Diese gewaltige Truppenverschiebung vollzog sich unter dem Schirm der von Stalin inspirierten Dementis. So wandte sich die Nachrichtenagentur TASS am 15. Mai 1941 gegen die Gerüchte über starke Truppenkonzentrationen mit der geradezu entwaffnenden Behauptung, besserer Unterkunftsverhältnisse wegen sei eine einzige Division von Irkutsk nach Novosibirsk verlegt worden. Am 13. Juni 1941 bezeichnete TASS Gerüchte über Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland als »erlogen und provokatorisch«, die Einberufung von Reserven und die bevorstehenden Manöver dienten allein der »Ausbildung« und der »Kontrolle des Eisenbahnapparates«.

Zu diesem Zeitpunkt war nach späteren deutschen Feststellungen schon »fast die gesamte verfügbare Streitmacht der SU in einer Monate dauernden Bewegung aus dem Innern Rußlands an die deutsche Ostfront herantransportiert worden«. Anders hätten vor der deutschen Heeresfront auch kaum Großverbände in einer Anzahl auftreten können, die nach dem Feindlagebericht der Panzergruppe 4 vom 10. August 1941 330 sowjetische Divisionen betrug. Eine solche Truppenmassierung mußte nach Überzeugung des Generalstabes des Heeres eben lange vor Kriegsbeginn eingeleitet worden sein. … (Stark gekürzt).


Quelle und Kommentare hier:
https://heerlagerderheiligen.wordpress.com/2018/03/18/joachim-hoffmann-stalins-vernichtungskrieg-teil-2/