Internationaler Gerichtshof: UK muss Chagos-Archipel an Mauritius und die deportierte Bevölkerung zurückgeben

Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Kolonialmacht Mitte der 1960er Jahre. Es sind Verhältnisse entstanden, in denen Sie von Ihren bisherigen imperialen Ansprüchen ablassen müssen.

Die unterdrückten Länder haben sich erhoben, die Charta der UN steht ihnen entgegen und nun schaffen auch noch Resolutionen der Generalversammlung selbiger UN Völkergewohnheitsrecht in diesen Fragen,  so dass sich einiges gegen ihre lieb gewonnene Rolle als Kolonialherr richtet.

Kurz: Es ist eine Welt entstanden, in der auch rohe Gewalt nicht mehr Erfolg dabei verspricht, dass Sie die “Besitzungen” einfach so behalten können. Sie stehen also kurz davor, die verbliebenen Länder und ihre Menschen in die rechtliche Unabhängigkeit zu entlassen. Eines dieser Territorien liegt nun jedoch zentral im Indischen Ozean und ihr bester Freund möchte es unbedingt nutzen, um darauf eine große Militärbasis zu errichten.

Was tun Sie also? Sie spalten das Territorium ab von der Kolonie, zu der es bisher rechtmäßig gehörte, kurz bevor diese unabhängig wird, entgegen wegweisender UN-Resolutionen, und vehementer Proteste der Betroffenen. Das Territorium belassen Sie dann in ihrem Besitz.

Das Problem jedoch ist, dass rund 1500 Menschen auf der Inselgruppe wohnen. Und diese stehen ihnen in vielfacher Hinsicht bei ihrem Vorhaben im Wege und wollen auch nicht weichen. Was tun Sie? Genau, Sie zwangsdeportieren diese Menschen und verbieten ihnen, jemals wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

Die Kolonialmacht: das Vereinigte Königreich; die (ehemalige) Kolonie, von der das Territorium abgespalten wurde: Mauritius; das Jahr der Abspaltung: 1965; der Freund mit dem Wunsch nach einem festen Plätzchen zur Unterbringung seiner Bomber und Kriegsschiffe zentral im Indischen Ozean: die USA; das betroffene Territorium: das Chagos-Archipel; die zwangsdeportierte Bevölkerung: die Chagossianer (Îlois).

Der weitere Verlauf: Nachdem bereits 1998 ein britisches Gericht der Klage der Chagossianer auf ihr Rückkehrrecht statt gab, die britische Königin durch einen Erlass die Rückkehr jedoch verhinderte (!), der High Court of Justice diesen Erlass für rechtswidrig erklärte und die britische Regierung sich an das Berufungsgericht wandte, das jedoch ebenso den Chagossianern Recht zusprach, wandte sich die Regierung schließlich an die letzte nationale Berufungsinstanz, das britische Oberhaus als höchstem Gericht im Vereinigten Königreich. Hier war die britische Regierung dann erfolgreich, woran auch der EMGR, von den Chagossianern eingeschaltet, mit einem Urteil von 2012 nichts mehr ändern wollte.

Die gute Nachricht: 2017 hatte die UN Generalversammlung den Internationalen Gerichtshof mit einer Beurteilung in der Angelegenheit beauftragt, da sie das Vorgehen des Vereinigten Königreichs gegenüber Mauritius als völkerrechtswidrig ansah.

Und ebenso ist es auch, entschied der Internationale Gerichtshof. Seine Beurteilung (“advisory opinion”) ist zwar kein verbindliches Urteil, doch dürfte sie international peinlichen Druck auf das Vereinigte Königreich entfalten. Mit 13 zu 1 kommen die Richter im Sinne von Mauritius und der Chagossianer zu der Auffassung, dass1:

“[…] mit Bezug zu internationalem Recht, der Prozess der Dekolonialisierung von Mauritius nicht rechtmäßig vollendet wurde, als das Land 1968 seine Unabhängigkeit erlangte, im Anschluss an die Trennung vom Chagos-Archipel”

“[…] das Vereinigte Königreich verpflichtet ist, seine Verwaltung des Chagos Archipels so schnell wie möglich zu beenden”

“[…] alle Mitgliedsstaaten verpflichtet sind mit den Vereinten Nationen zu kooperieren, um die Dekolonialisierung von Mauritius abzuschließen”

(International Court of Justice – Legal Consequences of the Separation of the Chagos Archipelago from Mauritius in 1965, Advisory Opinion, 25.2.2019, Übers. Maskenfall)

Der Guardian zitiert den Premierminister von Mauritius zu dem Urteil mit den Worten:

“Dies ist ein historischer Moment für Mauritius und all seine Bürgerinnen und Bürger, einschließlich der Chagossianer, die skrupellos aus ihrer Heimat entfernt wurden und für das letzte halbe Jahrhundert daran gehindert wurden, in diese zurückzukehren. Unsere territoriale Integrität wird nun komplettiert werden, und wenn dies geschieht, werden die Chagossianer und ihre Nachkommen endlich in der Lage sein, nach Hause zurückzukehren.”

(Pravind Jugnauth, Premierminister von Mauritius, zitiert aus dem Guardian, UN court rejects UK’s claim of sovereignty over Chagos Islands, 25.2.2019, Übers. Maskenfall)

Es bleibt den Chagossianern die Daumen zu drücken, dass die Verantwortlichen in UK sich von dem Urteil, der Weltgemeinschaft (hier kann man tatsächlich einmal von “Weltgemeinschaft” sprechen, betrachtet man die Haltung der UN-Generalversammlung) und dem Völkerrecht beeindrucken lassen. Die US-amerikanischen Freunde wären sicherlich nicht begeistert, wenn das Territorium auf dem ihre große Basis steht, an Mauritius fällt. (Der einzelne abweichende Richter am Internationalen Gerichtshof war übrigens US-Amerikaner).

Abschließend führen wir eine Arbeit von John Pilger an, der sich intensiv mit dem Schicksal der Chagossianer und den machtpolitischen Hintergründen auseinandergesetzt hat und dies 2004 in einer prämierten Dokumentation festhielt, die wir gern empfehlen wollen, da es doch häufig die breiteren Sinne braucht, um das, was hinter dem Wort steht, tatsächlich begreifbar zu machen:

“Stealing a Nation” (Kanal von John Pilger auf Vimeo, 2004)

John Pilger gehört natürlich auch zu den Gratulanten, die die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs begrüßt haben, wohlwissend, welch Unrecht da von einem Protagonisten der “westlichen Wertegemeinschaft” lange Zeit vor dem Auge der Öffentlichkeit verborgen  werden sollte (und bei der lieblosen Berichterstattung der Leitmedien in bestimmten Angelegenheiten wohl auch weiter bleiben wird, da ein Flimmern noch kein Bewusstsein macht).


Quelle und Kommentare hier:
https://www.maskenfall.de/?p=13352