G-Day: Amerikaner wollten 5-6 Millionen deutsche Zivilisten mit Giftgas töten

von Spiegel

Ein geheimer Plan enthüllt, daß die Amerikaner gegen Kriegsende bereit waren, einen großen Teil der deutschen Bevölkerung mit Giftgas zu vernichten. *

Vier Tage schon lag das amerikanische Handelsschiff „John Harvey“ im Hafen der süditalienischen Stadt Bari, und die Ladung war noch immer nicht gelöscht.

Weder der Kapitän noch die Besatzung ahnten, welch gefährliche Fracht sie im amerikanischen Baltimore, 5700 Seemeilen entfernt, an Bord genommen hatten. Nur sieben mitschippernde Soldaten, an ihrer Spitze Oberleutnant Howard Beckström, wußten über Einzelheiten Bescheid.

Am 2. Dezember 1943 zur Abendstunde griffen deutsche Ju-88-Bomber 20 Minuten lang die Piers in Bari an. Sie versenkten 17 Schiffe und beschädigten acht weitere schwer. Auch die 10617 Bruttoregistertonnen große „John Harvey“ fing Feuer und explodierte.

Kurz darauf wurden Verletzte mit sonderbaren Symptomen in die Lazarette eingeliefert: Sie hatten Hautschäden, Augenschmerzen, geschwollene Geschlechtsteile, extrem niedrigen Blutdruck bei stark erhöhter Pulsfrequenz. Die Ärzte tippten auf eine spezielle Art von Hautentzündung – eine folgenschwere Fehldiagnose.

In dem US-Frachter lagerten, was Beckström, der bei dem Angriff getötet wurde, auf Weisung von oben hatte verschweigen müssen, 540 Tonnen Senfgas. Über 1000 Soldaten und Zivilisten kamen in den Schwaden des hochgiftigen Kampfstoffes ums Leben. Die Alliierten vertuschten, wie es zu dem Massensterben kommen konnte: Sie gaben „Verbrennung“, „Bronchitis“ oder „Lungenkomplikation“ als Todesursachen an.

Bis heute blieben die Hintergründe der „Katastrophe von Bari“, so der Historiker und Giftgas-Experte Günther Gellermann, ein strenggehütetes Geheimnis. Zwar spekulieren Militärhistoriker seit langem darüber, ob die Amerikaner nach ihrer Landung in Italien den dort „erwarteten deutschen Gaseinsatz mit einem entsprechenden Gegenschlag“ (Gellermann) kontern wollten – mehr war jedoch nicht bekannt.

Erst ein Zufallsfund des württembergischen Privatforschers und Fachautors Fritz Hahn, 66, in einem Washingtoner Archiv enthüllt die Dramatik eines Planes, den die US-Kriegführung unmittelbar nach dem „Ersteinsatz von Gas durch die Achsenmächte“ („G-Day“) verwirklichen wollte. Danach sollten, von Italien und England aus, Tausende Flugzeuge „in einer 15-Tage-Operation“

  • 30 deutsche Großstädte mit Senfgas und/oder dem noch giftigeren Phosgen einnebeln,
  • alle wichtigen Industrie- und Fabrikationsanlagen zerbomben und so den Zweiten Weltkrieg in Europa mit einem Schlag beenden.

Unter Punkt 4 des Plans („Mögliche Ergebnisse des Angriffs“) errechneten US-Spezialisten der Abteilung für Chemiekriegführung, wie viele Menschen „direkt beeinträchtigt“, also getötet würden – „5600000“. Weitere zwölf Millionen „würden dem vorgeschlagenen Angriff indirekt ausgesetzt“ sein.

Hitlers Nachrichtendienste hatten offenbar von den amerikanischen Vorbereitungen, wenn auch nur bruchstückhaft, erfahren. Sie wußten, daß seit Anfang 1943 laufend Kampfstoffe nach West- und Nordafrika verschifft und dort gelagert wurden – nicht allzuweit von Süditalien entfernt.

Die Kampfstoffe Phosgen und Senfgas waren im Ersten Weltkrieg, 1915 und 1917 an der West-Front, erstmals eingesetzt worden – von den Deutschen. Senfgas, das nach den Namen der Erfinder Lommel und Steinkopff auch „Lost“ genannt wird, ist ein Hautgift, Phosgen greift die Lunge an.

„Der Atem „wird immer kürzer und stoßweiser, bis der Tod durch Ersticken eintritt.“ beschreibt ein Mediziner die Wirkung.

Als 1919 nach dem Ersten Weltkrieg in Versailles Frieden geschlossen wurde, untersagten die Siegermächte dem Verlierer Herstellung und Einfuhr von

„erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie allen derartigen Flüssigkeiten, Stoffen“.

Die Anweisung wurde nie kontrolliert, bald lief die Produktion in Deutschland wieder auf vollen Touren.

Auch die internationale Vereinbarung „über das Verbot des Kriegseinsatzes“ chemischer und bakteriologischer Stoffe („Genfer Protokoll“) sechs Jahre später war nur halbherzig. So propagierten die USA zwar die Ächtung solcher Waffen, das Abkommen aber ratifizierten sie damals nicht.

Amerikanische Chemiker forcierten, genauso wie deutsche Hersteller, die Giftgas-Produktion, Militärs erdachten neue Strategien. General Amos Fries, damals Chef des „Chemical Warfare Service“, lobte die „Kunst der Vervollkommnung … giftiger Gasbomben“. Er prophezeite, den „Krieg der Zukunft“ werden jene „gewinnen, die den weitestgehenden Gebrauch von der chemischen Waffe machen werden“ – vom Himmel hoch, gebombt oder gesprüht.

Auch Hitler, als Gefreiter 1918 selber Opfer eines britischen Gasangriffs („Um mich war es finster, die Augen waren in glühende Kohlen verwandelt“), ließ kräftig an Plänen arbeiten, Kampfstoffe „gegen die feindliche Zivilbevölkerung“ einzusetzen. So könnten, heißt es darin weiter, „auf lange Zeit hin Panik und völliger Stillstand im Leben einer begifteten Stadt“ erzwungen werden.

Ein letztes Mittel: Andere Bewaffnung war im Sommer 1944 bereits knapp. Tausende von Kampfpanzern konnten nicht gebaut werden, Haubitzen-Granaten waren kaum mehr vorhanden, der Vorrat an 7,9-Millimeter-Infanteriepatronen reichte, hat Spezialist Hahn ausgerechnet, nur noch „ganze zehn Tage“ _(Fritz Hahn: „Waffen und Geheimwaffen des ) _(deutschen Heeres 1933-1945“. Bernard & ) _(Graefe Verlag, Koblenz, 1987; 2 Bände, ) _(138 Mark. ) .

Zum selben Zeitpunkt verfügte die Wehrmacht über mehr als 50000 Tonnen Giftgas –

„eine beachtliche strategische Variante, auf die eine in die Enge getriebene, fanatische Führung hätte zurückgreifen können“,

sagt der Freiburger Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller. Zu jenen Kampfstoffen gehörten auch die Nervengifte Tabun und Sarin, deren Produktion auf Hitlers Weisung hin vorangetrieben werden sollte – zumal der Kriegsgegner sie noch nicht entwickelt hatte.

Die Amerikaner und ihre Verbündeten waren allerdings längst gewappnet, auf einen deutschen Gasangriff sofort mit der flächendeckenden Vernichtung des Kriegsgegners zu reagieren.

„Ich hoffe“, erklärte Präsident Roosevelt, „daß wir … nie dazu gezwungen sein werden. Ich stelle kategorisch fest, daß wir unter keinen Umständen auf den Einsatz derartiger Waffen zurückgreifen, solange es der Feind nicht … tut.“

Für alle 30 Städte, vom US-Verteidigungsministerium und von Geheimdienstlern als „Schlüsselziele“ ausgesucht, gab es präzise Beschreibungen jener Viertel, die als Angriffsobjekt „empfehlenswert“ seien – in Hamburg, beispielsweise, waren es drei:

I. Dieses Ziel umfaßt die Innenstadt mit einer Fläche von einer Quadratmeile … annähernd 200000 Personen (nächtliche Bevölkerung um 100000), das Geschäfts- und Speicherzentrum. Angrenzend im Süden der Hafen längs der Elbe, eingeschlossen sind die U-Boot-Werften. “

II. Dieses Ziel umfaßt das dichtbevölkerte Wohngebiet östlich des Altonaer Bahnhofs, nördlich der Elbe und des Parkgürtels um die Innenstadt, südlich von Eimsbüttel, des dichtbesiedeltsten Stadtteils. In diesem anderthalb Quadratmeilen großen Zielgebiet leben 190000 Menschen. “

III. Dieses Ziel umfaßt die dichtbesiedelten Wohngebiete im Nordosten der Stadt. In diesem anderthalb Quadratmeilen großen Zielgebiet leben 140000 Menschen.

Fünf Städte – München, Augsburg, Nürnberg, Stuttgart und Karlsruhe – sollten vom italienischen US-Stützpunkt Foggia, rund 100 Kilometer nördlich von Bari, angeflogen werden. Alle anderen – unter ihnen Berlin, Köln, Düsseldorf, Leipzig und Dresden – von London aus.

Je nach den klimatischen Bedingungen wären das leicht flüchtige Phosgen oder der schwerere Lost abgeworfen worden. Dabei kalkulierten die Planer zur Vergiftung „einer Quadratmeile“ den Einsatz von mindestens „100 Flugzeugen mit 4000 Bomben a 100 Pfund (Lost)“ oder „600 Bomben a 1000 Pfund (Phosgen)“ ein.

Amerikas Chemiefabriken hatten genügend Kampfstoff produziert, gegen Ende des Krieges lagerten in den Arsenalen 140000 Tonnen. Aber es standen zum damaligen Zeitpunkt nicht genügend Bomber bereit.

Bei einem Angriff im März 1944 hätte die amerikanische Luftwaffe jedoch 63 Prozent des „Zielprogramms“ erledigen können, im Juni schon 76 Prozent. Möglich scheint, daß die Briten im Bedarfsfall mitgeflogen wären, am 1. April 1944 standen bei der Royal Air Force 5630 Bomber parat, 45 mehr als bei den amerikanischen Verbündeten.

Englands Premierminister Winston Churchill verfolgte ähnliche Ziele wie damals Roosevelt, auch auf britischer Seite wurde „sehr ernsthaft über einen Gaseinsatz gegen Deutschland“ (Gellermann) nachgedacht.

So teilte Churchill am 6. Juli 1944 seinem Stabschef, General Hastings Lionel Ismay, mit:

„Ich wünsche, daß eine kaltblütige Einschätzung darüber vorgenommen wird, ob es günstiger für uns wäre, Giftgas einzusetzen … Wenn wir dies tun, dann sollte es hundertprozentig sein. „

Churchill verlangte, daß „die Angelegenheit in der Zwischenzeit von vernünftigen Leuten“ behandelt werde – nicht von

„psalmodierenden uniformierten Defätisten, die einem hin und wieder über den Weg laufen“.

Seine Militärs hielten sich jedoch zurück. „Bislang“, meldeten sie dem Regierungschef, sei die

„Moral der deutschen Bevölkerung durch unsere Luftangriffe nicht gebrochen“ worden, der „Vorteil der Überraschung“ könne „daher nur von kurzer Dauer“ sein. Außerdem, argumentierten sie, verfüge der „Gegner über eine gute Gasschutzausrüstung“.

Daß Gasmasken bei Lost- oder Phosgen-Einsätzen lebensrettend sein können, belegt eine Statistik aus dem Ersten Weltkrieg. Während anfangs, „als das Gas auf unvorbereitete Gegner prallte“ (so der Kieler Chemiker Ulrich Müller), die „tödlichen Verluste bis zu 35 Prozent“ betrugen, sanken sie zum Ende auf knapp zwei Prozent – dank der Schutzmaßnahmen.

Doch Deutschland war, entgegen der Einschätzung der Londoner Generalität, fast schutzlos. Weder gab es Sirenen für Gasalarm noch genügend Luftschutzräume. Etwa 65 Prozent aller Zivilisten im Reichsgebiet, so errechnet Gellermann, „besaßen keine Gasmasken“.

Am schlimmsten stellte sich die Lage bei kleinen Mädchen und Jungen bis zu drei Jahren dar. Sie sollten, nach Hitlers Vorstellungen, eigentlich mit speziellen, rundum abgedichteten Gasbettchen und Gasjäckchen aus Gummi ausgerüstet werden. Doch weil es weder genug Kautschuk noch den Ersatzstoff Buna gab, waren fast 90 Prozent der Kinder ungeschützt.

„Die Eröffnung eines Gaskrieges durch die Alliierten zu diesem Zeitpunkt“, resümiert Gellermann, „hätte zu einer Katastrophe geführt und Deutschland wahrscheinlich gezwungen, innerhalb kürzester Zeit die Waffen niederzulegen.“

Bei der Erläuterung von Giftgas-Waffen. Fritz Hahn: „Waffen und Geheimwaffen des deutschen Heeres 1933-1945“. Bernard & Graefe Verlag, Koblenz, 1987; 2 Bände, 138 Mark.


Quelle und Kommentare hier:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13531696.html