Egon Bahr: „Drei Briefe und ein Staatsgeheimnis“

von Egon Bahr

Herbst 1969: Bundeskanzler Willy Brandt wird ein Schreiben vorgelegt. Erst weigert er sich, es zu unterzeichnen – dann tut er es doch

Willy Brandt bei seiner Vereidigung als Kanzler am 21. Oktober 1969. Kurz danach wurden ihm Schreiben der Alliierten vorgelegt | © dpa
Willy Brandt bei seiner Vereidigung als Kanzler am 21. Oktober 1969. Kurz danach wurden ihm Schreiben der Alliierten vorgelegt | © dpa

Es war an einem der ersten Abende im Palais Schaumburg, nachdem Willy Brandt dort eingezogen war. Er erfuhr und genoss die gewaltigen Unterschiede zwischen einem Ressortchef, auch wenn er als Außenminister und Vizekanzler besonders herausgehoben war, und dem Bundeskanzler an der Spitze eines gut eingespielten Regierungsapparates. Das Amt machte richtig Spaß.

Ich brachte Brandt meinen Entwurf für einen Brief an seinen sowjetischen Kollegen Kossygin, dem er einen informellen Meinungsaustausch anbieten wollte. Brandt war wichtiger, zu berichten, was ihm »heute passiert« war. Ein hoher Beamter hatte ihm drei Briefe zur Unterschrift vorgelegt. Jeweils an die Botschafter der drei Mächte – der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens – in ihrer Eigenschaft als Hohe Kommissare gerichtet. Damit sollte er zustimmend bestätigen, was die Militärgouverneure in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 an verbindlichen Vorbehalten gemacht hatten.

Als Inhaber der unkündbaren Siegerrechte für Deutschland als Ganzes und Berlin hatten sie diejenigen Artikel des Grundgesetzes suspendiert, also außer Kraft gesetzt, die sie als Einschränkung ihrer Verfügungshoheit verstanden. Das galt sogar für den Artikel 146, der nach der deutschen Einheit eine Verfassung anstelle des Grundgesetzes vorsah. Artikel 23 zählte die Länder auf, in denen das Grundgesetz »zunächst« gelten sollte, bis es in anderen Teilen Deutschlands »nach deren Beitritt« in Kraft zu setzen sei. Diese Vorwegnahme der Realität im Jahre 1990 konnten die Drei 1949 weder genehmigen noch ahnen. Gravierend für diese ganze Zeitspanne war, dass sie Groß-Berlin aus dem Artikel 23 amputierten, was dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister natürlich vertraut war.

Brandt war empört, dass man von ihm verlangte, »einen solchen Unterwerfungsbrief« zu unterschreiben. Schließlich sei er zum Bundeskanzler gewählt und seinem Amtseid verpflichtet. Die Botschafter könnten ihn wohl kaum absetzen! Da musste er sich belehren lassen, dass Konrad Adenauer diese Briefe unterschrieben hatte und danach Ludwig Erhard und danach Kurt Georg Kiesinger. Dass aus den Militärgouverneuren inzwischen Hohe Kommissare geworden waren und nach dem sogenannten Deutschlandvertrag nebst Beitritt zur Nato 1955 die deutsche Souveränität verkündet worden war, änderte daran nichts. Er schloss:

»Also habe ich auch unterschrieben«

– und hat nie wieder davon gesprochen.

Schon Adenauer hatte seine Anerkennung der alliierten Oberhoheit wie ein Staatsgeheimnis behandelt. Sie passte nicht so recht in die Athmosphäre zehn Tage vor der Staatsgründung, und die drei Mächte hatten auch kein Interesse, diese Voraussetzung für den 23.Mai 1949 an die große Glocke zu hängen. Das blieb kein Einzelfall.

Die Einschränkungen der deutschen Souveränität existierten völkerrechtlich unverändert, solange Deutschland geteilt blieb und solange sie nicht durch einen Friedensvertrag förmlich beendet wurden. Durch die Kapitulation am 8.Mai 1945 ging die Souveränität des Reiches auf die Sieger über. Deutschland erhielt sie erst mit der Wirksamkeit des friedensvertraglichen Zwei-plus-Vier-Abkommens am 15.März 1991 zurück.

Die Sieger pochten auf ihre unkündbaren Kompetenzen während dieser ganzen Zeitspanne, natürlich nicht nur vor der Geburtsstunde der Bundesrepublik, sondern auch, als sie 1955 zu Verbündeten wurden. Als ich die Kanzlerbriefe einmal gegenüber dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erwähnte, reagierte er zu meiner Überraschung erstaunt; er hatte von ihnen nichts gewusst. Es bedurfte keiner besonderen Absprache: Die beteiligten Deutschen wie die Alliierten hatten das gleiche Interesse, diese Manifestierung der begrenzten deutschen Souveränität nicht öffentlich werden zu lassen.

Dass die Kompetenz für die deutsche Frage bei den Vier blieb, obwohl deutsche Trompeten die gewonnene Souveränität (1955) verkündeten, hatte Auswirkungen. Das oberste Ziel unserer Politik war die Einheit. Ausgerechnet da hatten wir nichts zu sagen und überließen diese Kernfrage den Zusicherungen der Verbündeten, sich dafür einzusetzen. In den meisten Gehirnen verschwand die deutsche Zuständigkeit im Vertrauen darauf, dies sei nun Sorge der Verbündeten geworden. Das war nur eine Seite der Lebenslüge.

Im Wissen, dass auch die besten Freunde nicht deutscher sein würden als die Deutschen, drehten wir den Spieß 1967 im Planungsstab des Auswärtigen Amtes um: Wir definierten, was im eigenen Interesse möglich wäre unterhalb der übergeordneten Rechte der Vier. Die Analyse ergab, was als Ost- und Entspannungspolitik Teil der Nachkriegsgeschichte geworden ist.

Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde 1970 in Moskau deutlich: Auf der einen Seite rangen wir mit den Sowjets darum, dass sie den Brief zur deutschen Einheit annehmen sollten; auf der anderen Seite sprachen wir mit den Westmächten darüber, in welcher Form wir anerkennen sollten, dass durch den Vertrag ihre Rechte für Deutschland als Ganzes nicht berührt würden. Während der Moskauer Verhandlungen erinnerte ich Walter Scheel in einem abhörsicheren Raum daran, dass es einen Brief zur deutschen Einheit bei Abschluss der Römischen Verträge nicht gegeben habe. Alle unsere Partner müssten wissen und anerkennen, dass kein Vertrag unseren Wunsch nach Selbstbestimmung untergehen lassen könne. Der wirklichkeitsnahe Außenminister reagierte: Das sei nicht in Moskau zu lösen.

Der bilaterale Moskauer Vertrag konnte nicht für Berlin gelten. Gerade dort behaupteten die vier Mächte die Kontrolle Deutschlands. Das Rezept der Entspannung bei fortgesetztem Status quo verlangte, die Zugangswege störungsfrei zu machen. Dies aber erzwang eine Beteiligung der Deutschen. Das notwendige Viermächteabkommen über Berlin enthielt das Wort »Berlin« nicht. Es sprach nur »von dem betreffenden Gebiet«. Die vier mussten also einen Vertrag schließen, obwohl in der Praxis das Transitabkommen nur von den Deutschen vereinbart werden konnte, weil es endlich den zivilen deutschen Verkehr regeln sollte, der seit der Aufhebung der Blockade 1949 ungeregelt geblieben war. Es wurde ein Markstein in der Nachkriegsgeschichte. In einer wichtigen Frage für Deutschland brauchten die vier Mächte die Mitwirkung der beiden deutschen Regierungen. So wurde das Modell »Vier plus Zwei« geboren, das 19 Jahre später zur Formel »Zwei plus Vier« wurde.

Die Methode, unsere Interessen unterhalb der Siegerkompetenzen zu verfolgen, hatte nun dazu geführt, dass diese im eigenen Interesse ihre Rechte hilfreich einsetzen mussten und damit halfen, ein Stück gewachsener deutscher Selbstbestimmung zu verwirklichen. Ich gestehe, dass DDR-Staatssekretär Michael Kohl und ich im Kanzleramt mit einem Glas Unstrut-Wein darauf anstießen, dass die vier Mächte warten mussten, das Ganze in Kraft zu setzen, bis wir mit unseren Verhandlungen fertig waren.

Ende 1972 wurde der Grundlagenvertrag unterschrieben, der beiden Staaten die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen ermöglichte. Nun ließen die vier uns wissen, dass sie einen Brief von uns erwarteten, wonach selbst durch den Beitritt zu den UN ihre Rechte über Deutschland nicht berührt würden. Kohl und ich lächelten uns an, als wir an dem gemeinsamen Text für unsere jeweiligen Freunde feilten, Ausdruck des gesamtdeutschen Souveränitätsmangels bei allen Unterschieden. Die vier antworteten wie international üblich, indem sie unseren Text wiederholten – mit Ausnahme der Amerikaner. Die belehrten uns, dass ihre Rechte durch den Beitritt nicht berührt werden »können«. Das war korrekt, aber nach den Gesetzen der Logik hätten wir dann gar nicht schreiben müssen.

Berlin wurde die Quelle einer jahrzehntelang schwelenden Kontroverse zwischen den drei Mächten und der Bundesregierung. Die Deutschen setzten sich 1949 durch, indem sie ein »Grundgesetz« anstelle der von den Alliierten gewünschten »Verfassung« beschlossen. Das Grundgesetz drückte das Provisorium aus; eine Verfassung wäre ein Teilungsdokument gewesen. Aber aus der Präambel des Grundgesetzes wurde Berlin gestrichen, während es im Text des Artikels 23 zu den Ländern der Bundesrepublik gezählt wurde. Zum Schutz ihrer Rechte verfügten die Alliierten, dass die drei Westsektoren nicht durch den Bund regiert werden dürften.

Sie verboten die Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht und gestatteten eine Finanz- und Wirtschaftseinheit mit der Bundesrepublik, weil es anders nicht ging, bestanden aber für den innerdeutschen Handel auf dem Plural der »Währungsgebiete«, weil Berlin eben nicht zum Währungsgebiet der D-Mark gehörte.

Das alles hinderte das Bundesverfassungsgericht nicht, am Grundgesetz festzuhalten, wie es schließlich seine Pflicht war, und danach galt es grundsätzlich eben auch in Berlin. Hier standen sich also zwei Souveräne gegenüber: Karlsruhe legalisierte durch den Volkswillen, die drei Mächte durch die Siegerrechte. Das führte zu der wirklichkeitsfremden Feststellung im Karlsruher Urteil über die Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrages mit der DDR, die Grenze zwischen Hessen und Thüringen habe denselben Charakter wie die zwischen Hessen und Bayern. Niemand hat unter Berufung auf Karlsruhe versucht, das zu erproben.

Die praktische Schizophrenie wurde beendet, als das Viermächteabkommen das Verhältnis zwischen Berlin (West) und dem Bund grundsätzlich definieren musste. Unsere Nachforschungen in alten Papieren ergaben zu unserer Überraschung, dass die drei Mächte schon 1944 in London die Formel gefunden hatten, Berlin sollte kein konstitutiver Teil des neuen Staates werden sein. Das war für die vier und die zwei annehmbar.

So entwickelte sich das Grundgesetz zur vollständigen Verfassung für die Bundesrepublik, während es für Deutschland insgesamt nie in Kraft trat. Die westdeutsche Bevölkerung empfand die Mängel nicht. Übrigens bis heute nicht; denn die beiden Begriffe leben in friedlicher Koexistenz. Der Artikel 146 von 1949 ist 1990 ergänzt worden:

»Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«

So wurden die schwelenden Spannungen zwischen Souveränitätseinschränkungen und Lebenslüge beendet, die jahrzehntelang die Beteiligten beider Seiten beschäftigt hatten. Sie wurden unter den Teppich gekehrt. Sie fehlen bei den großartigen Rückblicken auf die vergangenen 60 Jahre, obwohl sie ein unentbehrlicher Teil der Geschichte gewesen sind.

Ein Relikt der Lebenslüge ist übrigens geblieben: Noch heute wird von der nuklearen deutschen Teilhabe gesprochen. Es gibt ein Geschwader der Bundesluftwaffe, das amerikanische Atombomben ans Ziel tragen soll. Das Wort »Teilhabe« suggeriert, dass wir dabei eine Mitbestimmung haben. Die hatten wir nie. Helmut Schmidt hatte als Bundeskanzler vergeblich ein deutsches Veto gegen den Einsatz erörtert. Derzeit wird überlegt, ob die Flugzeuge, die nur bis 2012 oder 2013 einsatzfähig sind, ersetzt werden müssen. Aber mit Barack Obama im Weißen Haus sollte es leicht sein, dieses letzte Symbol der Vergangenheit loszuwerden.


Quelle und Kommentare hier:
http://www.zeit.de/2009/21/D-Souveraenitaet