Die Vertreibung aus dem Sudetenland

von Angelika Seibel

Das Ende des Zweiten Weltkrieges (1945) brachte die Wiedererstehung der Tschechoslowakei, der die alliierten Siegermächte ohne Befragung der Sudetendeutschen deren Siedlungsgebiete erneut zufallen ließen.

Die Sudetendeutschen wurden kollektiv, vollständig und entschädigungslos enteignet und – wie Millionen andere Deutsche aus dem Osten und Südosten Europas – aus ihrer jahrhundertealten Heimat vertrieben. Angesichts der grauenhaften Bilder von den Verbrechen des NS-Regimes, die damals um die Welt gingen, blieb die Weltöffentlichkeit – mit wenigen Ausnahmen – gegenüber dem Verbrechen der Vertreibung von über 14 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat stumm.

Die Vertreibung der Sudetendeutschen, von dem tschechischen Exil-Präsidenten Edvard Benesch aus dem Londoner Exil geplant und vorbereitet, begann unmittelbar nach Kriegsende, im Mai 1945. Die kommunistisch geführten tschechischen Nationalausschüsse und die Terrorgruppen der Roten Garden begannen in einer ersten Phase mit massenhaften Misshandlungen und Morden, Austreibungen, Vergewaltigungen und Einweisungen in tschechische Konzentrationslager (die tatsächlich offiziell so hießen). Bis zum Ende der Potsdamer Konferenz der Siegermächte am 2.8.1945 waren bereits etwa 750.000 Sudetendeutsche „wild“ vertrieben worden oder geflohen. Der regionale Schwerpunkt dieser frühen Vertreibungen lag in Nordböhmen und in Südmähren, wo die Entfernung nach Sachsen und Niederösterreich nicht groß ist, sodass die Menschen einfach zu Fuß außer Landes gejagt werden konnten.

In den Monaten nach der Potsdamer Konferenz der Siegermächte, also zwischen September und Dezember 1945, gab es zunächst nicht viele neue Vertreibungen. Die mehrdeutigen Formulierungen von Artikel XIII des Potsdamer Protokolls enthielten eben auch eine Art Moratorium für weitere Vertreibungen, die dann ab Januar 1946 mit voller Wucht und systematisch organisiert wieder einsetzen. Das Jahr 1946 war die eigentlich Hauptphase der Vertreibung.

Von Januar bis November 1946 wurden über 1.000 Eisenbahnzüge mit durchschnittlich je 1.200 ausgeplünderten Sudetendeutschen Männern, Frauen und Kindern vollgestopft und in das besetzte Deutschland verbracht. In den eineinhalb Jahren von Mai 1945 bis Dezember 1946 wurden ziemlich genau 2,8 Millionen der bis dahin im Lande lebenden 3,2 Millionen Sudetendeutschen vertrieben. Etwa 250.000 konnten in der Heimat bleiben – oder mussten bleiben, weil sie Fachkräfte waren und die CSR nicht auf sie verzichten wollte. Aber auch sie wurden enteignet und viele von ihnen wurden innerhalb der Tschechoslowakei verschleppt. Nach neuesten Untersuchungen kamen ungefähr 165.000 Sudetendeutsche direkt bei der Vertreibung ums Leben, weitere ca. 105.000 starben nach der Vertreibung an den Folgen derselben in den Aufnahmegebieten, insbesondere an Hunger, hungerbedingten Krankheiten und mangelnder ärztlicher Versorgung. Von den in der Heimat verbliebenen Sudetendeutschen verließen später rund zwei Drittel als Aussiedler das Land.

In der Heimatortskartei (HOK) für Sudetendeutsche in Regensburg sind die Namen und Heimatadressen von 225.133 Sudetendeutschen (Stand September 1999) mit völlig ungeklärtem Schicksal dokumentiert. Manche von ihnen mögen ohne Wissen der HOK in der Heimat oder in der DDR überlebt haben, der größere Teil dieser Vermissten sind aber Vertreibungsopfer. Die 19.542 nachweislich Umgekommenen (Stand 1965, diese Zahl wurde leider seither nicht fortgeschrieben) sind in dieser Zahl noch nicht enthalten. Die HOK ist keine Institution eines Vertriebenenverbandes. Ihr Träger ist die Caritas, ihr Auftrag ist in erster Linie die Familienzusammenführung. Die HOK ist aber auch eine amtlich anerkannte Auskunftsstelle und wird deswegen vom Bundesinnenministerium institutionell gefördert.

Jedenfalls bestätigen die Daten der HOK, die die Grundlage der sog. „Gesamterhebung zur Klärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten“ von 1965 bilden, sehr gut die bis dahin vorliegenden statistischen Untersuchungen, insbesondere die des Statistischen Bundesamtes von 1958. Damals wurden die Vertreibungsverluste der Deutschen aus der Tschechoslowakei mit 273.000 beziffert (aber einschließlich der Kriegsverluste unter Zivilisten), davon 250.000 Sudetendeutsche und 23.000 Karpatendeutsche.

Beide Untersuchungen wurden im Auftrag des Deutschen Bundestages durchgeführt. Jedoch müssen an der Rechung des Statistischen Bundesamtes von 1958 heute mehrere Korrekturen angebracht werden: Die Zahl der zum Stichjahr 1950 in der DDR lebenden Sudetendeutschen wurde damals um über 200.000 zu hoch geschätzt. Für sich allein genommen würde dieser Fehler zu einer Verlustzahl von über 450.000 führen. Es gab aber weitere Ungenauigkeiten: So wurde die sog. Nationalitätensechser nicht bzw. in viel zu geringem Umfang berücksichtigt. Es gab mehrere Zehntausend zweisprachige Tschechen, die sich bei der Volkszählung von 1939 als Deutsche bekannten und 1945 nicht vertrieben wurden. Umgekehrt gab es mehrere Zehntausend zweisprachige Sudetendeutsche, meistens Menschen mit einem tschechischen Elternteil oder Ehegatten, die sich ab 1945 als Tschechen bekannten und ebenfalls der Vertreibung entgingen. Die Zahl dieser Nationalitätenwechsler kann insgesamt über 160.000 gelegen haben. Außerdem wurde in der Untersuchung von 1958 die Zahl der gefallenen Sudetendeutschen vermutlich etwas zu niedrig angesetzt, hinzu kommen weitere kleinere Ungenauigkeiten. Berücksichtigt man alle diese Korrekturen, so ist heute mit einem durch Bevölkerungsbilanz feststellbaren Vertreibungsverlust von rund 270.000 Sudetendeutschen zu rechnen.

Von tschechischen und einzelnen deutschen Historikern wird die Zahl der Vertreibungsopfer dagegen mit „maximal 40.000“ angegeben. Allerdings haben die Arbeiten, mit denen seit 1992 diese Zahl belegt werden sollte, die „Gesamterhebung“ von 1965 und Daten der HOK zunächst schlicht und einfach nicht zur Kenntnis genommen. Später, nach heftigem Widerspruch der SL, wurden deren Daten zwar nicht mehr völlig übergangen, aber so interpretiert, dass nur die 19.452 sog. „Augenzeugentoten“ als Vertreibungsopfer angesehen wurden. Die Daten der Bevölkerungsbilanz, die in genau dieselbe Größenordnung zeigen, wurden entweder ignoriert oder beiseite gewischt, letzteres beispielsweise in einer Pressemitteilung der deutsch-tschechischen Historikerkommission vom 17.12.1996.

Eine detaillierte Erörterung dieser Frage auf dem neuesten Stand der Diskussion (März 2000) finden Sie in der Rubrik Dokumentation auf dieser Internetseite. – Die nachfolgende Bevölkerungsbilanz gibt dagegen den Kenntnisstand der späten 50er Jahre wieder und muss in der beschriebenen Weise korrigiert werden, was zu etwas höheren Verlustziffern von ungefähr 270.000 führt.

Sudetendeutsche Bevölkerungsbilanz (Stand 1959)

A. Vor der Vertreibung
1. Vor dem Zweiten Weltkrieg
Sudetendeutsche Bevölkerung im Mai 1939
a) 1938 an das Reich angeschlossenes sudetendeutsches Grenzgebiet 3.064.000
b) Olsa-Gebiet (im November 1938 zu Polen, ab Mai 1945 wieder bei der CSR) 10.000
c) „Protektorat“ Böhmen und Mähren 258.000
3.332.000
2. Veränderungen vom Mai 1939 bis Mai 1945
a) Geburtenüberschuss und Wanderungsgewinn + 163.000
b) Kriegsverluste (einschließlich Zivilisten) – 200.000
Zahl der Sudetendeutschen vor der Vertreibung (nach heutigem Wissensstand eher 3,20 Millionen) 3.295.000
B. Nach der Vertreibung
a) Zahl der 1950 in den Aufnahmeländern lebenden vertriebenen Sudetendeutschen (nach heutigem Wissenstand etwas weniger) 2.890.000
b) Abzüglich Geburtenüberschuss 1945 bis 1950 – 76.000
c) In der CSR/CSSR verbliebene Sudetendeutsche + 235.000
d) 1950 vermutlich noch lebende Kriegsgefangene, zivile Internierte, Vermisste und Verschleppte

+ 5.000

Nach der Vertreibung noch nachgewiesene Sudetendeutsche (nach heutigem Wissensstand etwas unter 3 Mio.) 3.054.000
C. Verbleib ungeklärt (= Vertreibungsverluste) – Nach heutigem Wissenstand eher etwa 270.000 241.000

(Quelle: Alfred Bohmann, „Das Sudetendeutschtum in Zahlen“, Sudetendeutscher Rat, München 1959)

Diese statistischen Berechnungen decken sich wie im Text erläutert weitgehend mit der Einzelerfassung der Sudetendeutschen in den Heimatortskarteien. Dort sind namentlich dokumentiert:

– nachweisliche Opfer der Vertreibung (Stand 1965; inkl. Olsa-Gebiet u. Hultschiner Ländchen) 19.542
– Sudetendeutsche mit ungeklärtem Schicksal (Stand 1999; ohne Olsa-Gebiet u. Hultschiner Ländchen) 225.133

Von diesen 225.133 Personen haben zwar wahrscheinlich einige Zehntausend in der DDR oder in der CSR ohne Wissen der Heimatortskarteien überlebt. Jedoch kannte die HOK 1965 noch exakt 295.026 Sudetendeutsche mit ungeklärten Schicksal, und unter den ca. 70.000 Schicksalsklärungen seit 1965 sind viele Todesfeststellungen. Außerdem konnten seit 1965 über 96.795 Sudetendeutsche, die Anfang Mai 1945 gelebt hatten, von der HOK neu erfasst werden. Unter ihnen waren ebenfalls viele Vertreibungsopfer, was heute aufgrund tschechischer Veröffentlichungen von Totenlisten (v.a. der Totenliste des Hanke-Lagers Mährisch Ostrau) feststeht. Insgesamt bestätigen die Daten der HOK durchaus das Bild, das sich aus der Bevölkerungsbilanz ergibt, auch wenn die Zahlen nicht direkt gleichgesetzt werden können.

Ganz eindeutig erfüllt die Vertreibung der Sudetendeutschen den Tatbestand des Völkermordes gemäß der Definition der Internationalen Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes vom 9.12.1948. Mit dieser Konvention wurde bereits seit jeher geltendes Völkerrecht kodifiziert, sie ist deswegen voll auf die Vertreibung der Sudetendeutschen anwendbar. Ebenso erfüllt die Vertreibung den Tatbestand eines unverjährbaren Verbrechens gegen die Menschheit im Sinne des Statuts des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals.

Entgegen dem üblichen deutschen Sprachgebrauch „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wird hier die exaktere Übersetzung „Verbrechen gegen die Menschheit“ verwendet. Im Englischen existiert außer dem Begriff „crime against humanity“ auch der Begriff „crime against mankind“. „Humanity“ kann Menschheit oder Menschlichkeit bedeuten, „mankind“ bedeutet nur Menschheit. Mit dieser Wortwahl kommt zum Ausdruck, dass von Verbrechen dieser Dimension die gesamte Menschheit betroffen ist, ein Gedanke, der im Völkerrecht fest verankert ist: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit wirken „erga omnes“, also gegenüber allen: Niemand darf ihre Resultate anerkennen, jeder soll zur Verhinderung solcher Verbrechen beitragen und jeder darf und soll, wenn sie doch geschehen sind, zur Bestrafung der Schuldigen beitragen.

Ein materieller Wert in Billionenhöhe

Der Wert des durch die Vertreibung verlorenen privaten Vermögens der Sudetendeutschen ist nicht leicht zu schätzen. In einer Untersuchung von 1981 wurde dieser Verlust auf 265 Milliarden DM (in damaliger Kaufkraft) geschätzt. Zum Vergleich: Die Steuereinnahmen des Bundes beliefen sich 1984 auf rund 199 Milliarden DM. Der materielle Wert des Sudetenlandes insgesamt ist noch weitaus höher: Öffentliche Vermögenswerte und natürliche Ressourcen im weitesten Sinne müssen dabei berücksichtigt werden.

Ein grober Anhalt mag in dem Preis liegen, den Japan vor wenigen Jahren Russland für die Rückgabe der vier südlichen Kurileninseln angeboten hat, nämlich mehrere Milliarden Dollar für ein kleines Territorium mit ursprünglich 40.000 Einwohnern. Bezogen auf die Fläche, Einwohnerzahl und natürlichen Ressourcen des Sudetenlandes führt dies zu einem materiellen Wert von rund einer Billion (= 1.000 Milliarden) DM in heutiger Kaufkraft (1999).

Allemal schwerer wiegt aber der unersetzliche Verlust an Menschenleben und der kaum in Geldbeträgen zu bewertende Verlust der Heimat für über drei Millionen Menschen. Auch der Verlust einer blühenden Kulturlandschaft, der letztlich ganz Europa betrifft, ist hier zu nennen.

Meine Mutter ist in Grosse geboren. Ja und Grosse gehörte damals zur Bezirksdirektion „Jägerndorf“, Und hier kann man den Regierungsbezirk Jägerndorf von 1939 auf der Karte sehen, wie es damals ausgesehen hat…..
ARD Dokumentation „Töten auf Tschechisch

Quelle und Kommentare hier:
http://www.angelikaseibel.de/sudetenland.htm