Die USA treten das Völkerrecht mit Füssen

von Thomas Kaiser

«Die Nato steht im diametralen Gegensatz zur Uno»

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Genf

Zeitgeschehen im Fokus: Wie ist der Überfall der USA auf den Irak heute vor 15 Jahren völkerrechtlich zu beurteilen und welche weiteren Auswirkungen hatte dieser Überfall auf die Respektierung des Völkerrechts?

Professor de Zayas Es war eine Urkatastrophe. Es ging nicht um eine banale, herkömmliche Verletzung des Völkerrechts, sondern es ging darum, das Völkerrecht ganz und gar auszuschalten und durch die imperiale Diktaur der Vereinigten Staaten zu ersetzen. Seit 1945 hat es keine so umfassende Verletzung der allgemeinen völkerrechtlichen Normen und Sitten mehr gegeben wie im März 2003.

Wie kommen Sie zu dieser Beurteilung?

Es ging um eine völlig unprovozierte Vergewaltigung eines Volkes durch die USA mit der kriminellen Unterstützung von einer sogenannten Koalition der Willigen, von 43 Staaten, die die Aggression der Vereinigten Staaten mitgetragen haben. Unter diesen Staaten befanden sich eine Reihe europäischer, angeblich «demokratischer» Staaten, die gegen den Willen ihrer eigenen Völker – es gingen Millionen von Menschen in den europäischen Metropolen auf die Strasse, in Rom, Mailand, Madrid, Barcelona, London etc. – in den Krieg gingen. Und dies trotz der Proteste der Bürger gegen den geplanten Mord, gegen die Manipulation der öffentlichen Meinung, gegen diese Lügen über angebliche Lager von Massenvernichtungswaffen.

Ein klarer Verstoss gegen das Völkerrecht also?

Ja, schockierend war, dass die Staaten bewusst die Uno-Charta zur Seite schoben, als ob sie nicht mehr relevant wäre und bewusst Artikel 2 Abs. 3 und Abs. 4 der Charta verletzt haben. Zu der Zeit waren Hans Blix und Mohammed el-Baradei Uno-Inspektoren in Bagdad, und sie hatten damals festgestellt, dass keine Massenvernichtungswaffen vorhanden waren. Die beiden waren im Auftrag des Uno-Sicherheitsrats dort, und es gab natürlich keine Uno-Resolution, die eine militärische Aktion hätte rechtfertigen können. Trotzdem haben 44 Staaten diese Urverletzung des Völkerrechts unterstützt.

Hätten diese Staaten nicht zur Rechenschaft gezogen werden müssen …

… ja, schon allein deswegen, weil der Krieg ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Statuts von Rom stattfand, das den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) ins Leben gerufen hatte. Hier lag nicht nur ein Verbrechen der Aggression vor, sondern darauffolgend Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit.

Was macht der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag?

Dieser beschäftigt sich mit den kleineren Verbrechern von Afrikanern, und die grossen wie George W. Bush oder Tony Blair, Dick Cheney, Paul Wolfowitz, Richard Pearl, Donald Rumsfeld u. a. laufen alle frei herum. Diejenigen, die an der Vergewaltigung eines Volkes mitgewirkt, die über eine Million Opfer auf dem Gewissen haben, sie sind in keiner Weise belangt worden. Darum handelt es sich um eine Urkatastrophe im Sinne der internationalen Ordnung. Wehe, wenn die Organe, die die Menschheit schützen sollen, uns verraten, wenn die Instrumente der «Justiz» nicht justizfähig sind.

Was heisst «im Sinne der internationalen Ordnung»?

Die internationale Ordnung muss auf bestimmten Prinzipien basieren. In meinem letzten Bericht an den Uno-Menschenrechtsrat habe ich 23 solcher Prinzipien der Weltordnung formuliert. Das Prinzip der Friedenserhaltung, das Prinzip des Dialogs, also sämtliche Differenzen durch friedliche Mittel auf dem Verhandlungsweg zu lösen, wurde von der «Koalition der Willigen» am 20. März 2003 über Bord geworfen. Plötzlich galt die Uno-Charta nicht mehr, und die Uno war ganz und gar irrelevant. Es gab keine Grundlagen für eine friedliche internationale Ordnung mehr, sondern es zählte nur der Wille des Hegemons in Washington.

Gab es nicht schon vorher Tendenzen, das Völkerrecht, im besonderen die Uno-Charta, auszuschalten?

Ja, natürlich, wir hatten bereits ein paar Jahre früher einen sogenannten Testlauf, eine Probe. Denn im Jahre 1999 wurde Jugos­lawien ohne eine Resolution des Uno-Sicherheitsrates, ohne Provokation seitens Jugoslawiens von der Nato angegriffen – natürlich mit absurden Vorwänden. Schon wieder ein Verbrechen gegen den Frieden im Sinne des Artikels 6a des Statuts des Nürnberger Tribunals nach dem Londoner Abkommen vom 8. August 1945. Das, was in den Nürnberger Prozessen 1945-46 konsequent gegen Jo­achim von Ribbentrop, gegen Hermann Göring und die grossen Nazis angewendet und ihre Ver­­brechen geahndet wurden, nämlich das Urverbrechen der Aggression wurde von der Nato bei völliger Straflosigkeit begangen. Was 1999 von der USA im Verbund mit der Nato ausprobiert wurde, setzte sich 2001 in Afghanistan fort und dann ganz massiv 2003 im Irak. Ein Artikel aus meiner Feder, der am 20. März 2003 in der «Welt» veröffentlicht wurde, trug den einfachen Titel: «Dieser Krieg ist völkerrechtswidrig».

Was haben Sie in diesem Artikel dargelegt?

Es ging darum, unter welchen Umständen man nach der internationalen Ordnung, also der Uno-Charta, Gewalt anwenden könnte. Ich bin zu dem klaren Schluss gekommen, dass in diesem Fall keine Gewalt angewendet werden durfte. Zumal der Uno-Sicherheitsrat bereits damit beschäftigt war, mit Inspektoren in Bagdad, im Irak zu untersuchen, ob es überhaupt noch Massenvernichtungswaffen dort gebe.

Inwieweit hat der massive Bruch des Völkerrechts im weiteren Verlauf der Geschichte Auswirkungen gehabt?

Es war ein sehr gefährlicher Präzedenzfall, und wir haben es gesehen, wie weiterhin einige mächtige Staaten so handeln, als ob sie das Völkerrecht zur Seite geschoben hätten, als ob das Völkerrecht nicht mehr gelte.

Was für einen Vorgang haben Sie dabei im Blickfeld?

Das war im Jahr 2011, als die Nato mit massiven Luftschlägen Libyen zerstört hat. Eigentlich hätte es sich um humanitäre Hilfe handeln müssen. Es ging aber um den verbrecherischen Missbrauch des Sicherheitsrates und die ad absurdum Ausweitung der Resolution 1973, die lediglich eine humanitäre Hilfe für das leidende Volk in Libyen vorgesehen hatte. Niemals hätte der Sicherheitsrat grünes Licht für einen Krieg gegen Libyen gegeben. Aus einer humanitären Resolution wurde eine massive Aggression gegen die Regierung Gaddafi. Wir sehen es überall in der Welt, dass die USA das Völkerrecht mit Füssen treten und agieren, als ob sie legibus solutus wären. Der Internationale Strafgerichtshof hat bisher niemanden für die Aggressionen und Kriegsverbrechen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien zur Rechenschaft gezogen. Deshalb bin ich für eine Abschaffung des ICC, als dieses Tribunal weiterhin als eine Maskerade laufen zu lassen. Er hätte nur dann eine Legitimation, wenn die grossen Verbrecher wie Bush, Blair usw. belangt würden.

Wie sieht es mit dem heutigen Präsidenten der USA aus?

Auch er müsste wegen der illegalen Einmischung der USA im Syrien-Krieg, wegen der Unterstützung des verbrecherischen Krieges Saudi-Arabiens gegen Jemen, wegen der Unterstützung und Finanzierung der Verbrechen des Staates Israel in Palästina und Gaza –  aber auch wegen der Sanktionen gegen Kuba und Venezuela belangt werden. Artikel 7 des Statuts von Rom verbietet Verbrechen gegen die Menschheit. Sicherlich liegt ein Verbrechen gegen die Menschheit vor, wenn unilaterale Sanktionen aus geopolitischen und ökonomischen Gründen verhängt werden und als Folge davon die medizinische Versorgung beeinträchtigt wird. Menschen sterben, weil sie kein Insulin oder keine Antimalaria-Mittel bekommen können. Menschen sterben aufgrund mangelnder Lebensmittel an Unterernährung.

Was kann man dagegen tun?

Man muss die Anzahl der Fälle zusammenstellen, um beweisen zu können, dass diese Sanktionen nicht harmlose politische Sanktionen sind, sondern sie töten Menschen. Das wäre durchaus eine Sache, die die Existenz eines Internationalen Strafgerichtshofs rechtfertigen würde. Bisher sind es vor allem Afrikaner, die vor diesem Tribunal stehen. Es ist durch und durch eine unbefriedigende Situation, die die Glaubwürdigkeit nicht nur des Tribunals, sondern auch der Uno in Frage stellt.

Lassen Sie uns nochmals auf die Bedeutung des 20. März 2003 zurückkommen.

Ja, es war ein Versuch, die Irrelevanz der Uno zu beweisen. Eine massive Verletzung des Völkerrechts konnte geschehen, und die Uno unternahm nichts dagegen. Selbst der damalige Generalsekretär der Uno, Kofi Annan, hat zunächst gesagt, dass dieser Krieg nicht im Einklang mit der Uno-Charta stehe, und als er von der Presse bedrängt wurde, sagte er im Klartext, der Krieg sei illegal. Dies geschah aber ohne Konsequenzen für die Verbrecher.

Besteht aktuell die Gefahr, dass die USA erneut nach beschriebenem Muster vorgeht?

Wir haben drei Situationen: 2003 im Irak, 2011 in Libyen und heute wird Venezuela bedroht. Rex Tillerson, der ehemalige Aussenminister der USA, hat klar angedeutet, dass eine militärische Aktion gegen Venezuela durchaus denkbar wäre. Das ist eine klare Drohung. Natürlich wäre diese Aktion illegal, aber die USA kümmern sich kaum darum, ob eine Aktion illegal ist oder nicht.

Beim Irakkrieg 2003 hatten Frankreich und Deutschland eine andere Haltung eingenommen.

Ja, was fehlt, ist ein Widerstandswille gegen das hegemoniale Gebaren der USA. Die Nato ist eine kriminelle Organisation im Sinne des Nürnberger Statuts. Ich kann das nicht anders bezeichnen. Die Nato ist da, andere Staaten zu bedrohen und unter Umständen auch anzugreifen. Seit der Warschauer Pakt aufgelöst ist, gibt es keine Legitimation mehr für die Nato. Die Nato steht im diametralen Gegensatz zur Uno, da sie sich weder an der Uno-Charta noch an das dort festgehaltene Gewaltverbot hält. Wir sehen eine Erosion des Völkerrechts und eine Zerstörung der wichtigsten völkerrechtlichen Normen. In dem Sinn leben wir in einer gefährlichen Zeit.

Womit hängt es zusammen, dass der Widerstandswille gegen diese Entwicklungen nicht stärker sichtbar ist?

Das hängt unter anderem auch mit unseren Medien zusammen. Dabei geht es nicht nur um «Fake news». Was fehlt, ist, dass sich die Menschen ein umfassendes Bild machen können, was auf der Erde geschieht und so einen Standpunkt bekommen. Wir sehen das zum Beispiel in Syrien. Syrien ist ein Proxy-Krieg. Es ist ein künstlicher Krieg. Hier hätte man ohne die Einmischung der USA, Saudi-Arabiens, Israels und der Türkei keinen Krieg. Hier waren gewalttätige Demonstration im Jahre 2011, die die Syrer ohne weiteres untereinander hätten regeln können. Aber durch den völkerrechtswidrigen Eingriff der anderen Staaten ist das Ganze zu einem internationalen Krieg eskaliert. Die Medien berichten aber einseitig, sie unterdrücken wichtige Fakten, sie lügen. Widerstandswille kann nur durch umfassende Information und moralische Empörung erzeugt werden.

Wie beurteilen Sie die Rolle Russlands?

Russland ist der einzige Staat, der in Syrien legal agiert. Russland wurde offiziell von Syrien um Unterstützung angefragt. Bei einem Bürgerkrieg darf sich kein dritter Staat einmischen, es sei denn, er wird von der legitimen Regierung angefragt. Russland hat aber auch in seiner Kriegsführung das Prinzip der Proportionalität eingehalten. Es hat nicht mehr gemacht als militärisch vertretbar und notwendig war. Die Verhältnismässigkeit ist hier eingehalten worden.

Welche Rolle spielen in diesem Konflikt die Medien?

Wir hören ständig von chemischen Waffen, aber eine ordentliche Beweisführung erfolgt nicht, obwohl die Regierung in Syrien das mehrfach verlangt hat. Es werden Behauptungen und Vorwürfe formuliert. Was nicht ins Bild passt, wird unterdrückt. Zum Beispiel am Freitag, 16. März, als syrische Truppen einen Teil von Ost-Ghouta zurück­erobert hatten, fanden sie dort eine chemische Waffenfabrik, die Terroristen betrieben hatten. Das habe ich in mehreren alternativen Nachrichten lesen können. Vor allem ein Artikel von einer Amerikanerin, die diese Fragen stellt. Das erklärt vieles und deshalb wird diese Erkenntnis unterdrückt.

Die Einseitigkeit der Medien lässt sich auch in der Berichterstattung über Jemen erkennen …

… ja, man erfährt sehr wenig über die täglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit dort. Dabei spielt sich dort eine fürchterliche humanitäre Krise ab. Es sind dort unter der Führung Saudi-Arabiens mehr als 10  000 Zivilisten getötet worden, drei Millionen sind auf der Flucht, aber die Medien ignorieren das. Auch der Hochkommissar für Menschenrechte und der Uno-Menschenrechtsrat sprechen wenig darüber. Stattdessen verlangt der Hochkommissar, dass eine Kommission eingesetzt wird, um die Situation in Venezuela zu untersuchen, wo keine humanitäre Krise herrscht, sondern eine durch Sanktionen verursachte künstliche Krise in der Versorgung von einigen Lebensmitteln und von Arzneimitteln und medizinischem Gerät.

Was spielt er für ein Spiel?

Als der Hochkommissar letztes Jahr einen Bericht zu Venezuela veröffentlichte, übrigens einen Bericht, der ultra vires war, denn die Resolution 48/141, die sein Amt begründete, gibt ihm nicht die Kompetenz, motu proprio einen solchen Bericht zu verfassen, ausser er wird von der Generalversammlung oder dem Menschenrechtsrat dazu aufgefordert, das zu tun. Er hat das ohne Auftrag getan und sich mit der Opposition getroffen und ein absolut einseitiges Machwerk verfasst. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit des Amtes zerstört.

Was kann im Falle Venezuelas getan werden?

Russland und China sollten das vor den Sicherheitsrat unter dem Aspekt der konstanten Bedrohung Venezuelas bringen, was in der Tradition der Aggressionen seit 1999 liegt. Auch die Generalversammlung sollte eine Resolution annehmen, so ähnlich wie die Resolutionen, die die US-Sanktionen gegen Kuba verurteilten und ein Aufheben dieser verlangten. Dasselbe sollte nun auch für Venezuela geschehen. Man hätte sicher genug Stimmen dafür. Wenn die Blockfreien und die Gruppe der 77 sich zusammenschlössen, hätte man mehr als genug Staaten, um eine Resolution durchzubekommen. Dabei muss man klar festsstellen, dass Öl die Ursache der Bedrohung und der Aggressionen ist. Der Irak wurde 2003 auseinandergerissen, um ihm das Öl stehlen zu können. Libyen kam 2011 an die Reihe. Was passiert nun mit den grössten Ölreserven der Welt, nämlich in Venezuela? Man muss eine Aggression durch Information, Empörung und Widerstandswillen verhindern.

Was muss die Resolution beinhalten?

Sie sollt die Sanktionen als ein Verbrechen gegen die Menschheit erklären. Als Resolution der Generalversammlung: Wenn Kinder an Unterernährung sterben und Menschen sterben, weil sie keine Krebstherapien machen können oder keine Medikamente gegen Malaria oder Diabetes bekommen, dann ist das Tötung. Das soll auch als Tötung bezeichnet werden. Der Staat, der das verursacht hat, muss belangt werden, muss Reparationen bezahlen und muss auch strafrechtlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof belangt werden. Das kann die Generalversammlung veranlassen. Sie kann auch ein Gutachten vom Internationalen Gerichtshof verlangen zur Frage: Bedeuten Sanktionen, die töten, ein Verbrechen gegen die Menschheit? Wenn diese Frage von der Generalversammlung auf die Stufe des Internationalen Gerichtshofs gehoben wird, glaube ich nicht, dass der Internationale Gerichtshof anders beurteilen kann als hier dargelegt; denn Sanktionen töten.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser, Genf


Quelle und Kommentare hier:
https://quer-denken.tv/die-usa-treten-das-voelkerrecht-mit-fuessen/