Die Russlanddeutschen: Ihre Republik, Kultur und dunkle Erinnerungen

von Paul Linke

Es war einmal ein deutsches Land – eine ganze Republik innerhalb der Sowjetunion. Dort erwuchs in den 1920er Jahren mitten in der UdSSR eine neue Identität: Die sogenannten Sowjetdeutschen. Mit ihrer einzigartigen Kultur, ihrer Sprache und ihrer tragischen Geschichte befasst sich das Buch „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“.

Enteignung, Deportation, Tod waren unter anderem im 20. Jahrhundert die prägenden Umstände der russlanddeutschen Bevölkerung, die seit Jahrhunderten in den Weiten Russlands siedelt. Wie kein anderes europäisches Volk waren die Deutschen mit dem Russischen Reich und später mit der Sowjetunion verbunden. Sogar eine deutsche Republik, die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) wurde nach der Oktoberrevolution innerhalb des sowjetischen Verbundes ausgerufen und existierte bis zum Angriff von Hitler-Deutschland auf die UdSSR im Jahre 1941.

Vor allem in den 1920er Jahren erblickte hier – mitten in der Sowjetunion – eine neue Identität das Licht der Welt: die sogenannten Sowjetdeutschen. Ihre einzigartige Kultur und ihre zum Teil dramatische Geschichte ist der Forschungsschwerpunkt der neuen Reihe „Edition Gegenwart“ und des ersten Bandes „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“, der im Verlag „Okapi“ in Berlin Ende 2018 erschienen ist.

Wolgadeutsche Republik: „Kultur in hoher Blüte“

Die deutsche Autonomie wurde am 19. Oktober 1918 zunächst als sowjetische Arbeitskommune ins Leben gerufen. Ernst Reuter, der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, wurde im Jahr 1918 von  Joseph Stalin, der damals Volkskommissar für Nationalitätenfragen war, höchstpersönlich mit der Führung des „provisorischen Kommissariats der Wolgadeutschen“ beauftragt. Am 6. Januar 1924 wurde dann im zweiten Schritt – berufend auf die „Deklaration der Rechte der Völker Rußlands 2. (15.)“ – die Sowjetrepublik der Wolgadeutschen innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (SFSR) ausgerufen.

„Dies war eine Republik, in der die deutsche Kultur in hoher Blüte stand. Allein in Saratow gab es vier Verlage“,

erzählt der Literaturwissenschaftler und Herausgeber des Buches, Carsten Gansel, im Sputnik-Interview. Neben der ehemaligen Hauptstadt der Wolgadeutschen ASSR Marxstadt und der späteren Hauptstadt Engels, zählte die Wolgastadt Saratow zu den wichtigsten Zentren der russlanddeutschen Kulturgeschichte.

„Dort hat es ein Theater gegeben, die deutschen Exilkommunisten Johannes R. Becher, Friedrich Wolf und andere sind dort gewesen und haben mit den wolgadeutschen Autoren zusammengearbeitet“.

Und in der Tat sei in dieser Zeit so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl entstanden. Man habe gemeinsam an bestimmten Zielen gearbeitet, die zu dem Zeitpunkt durchaus nicht konträr zu dem gewesen seien, was in der Sowjetunion als Ziel deklariert worden sei, so Professor Gansel.

Tragisches Schicksal?

Doch das Glück währte nicht lange. Die Bevölkerungsgruppe habe ein „schweres Schicksal“ ertragen müssen, bemerkt der Wissenschaftler:

„Der Verlust von Grund und Boden im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft ab Ende der 1920er Jahre; die Hungersnot der Jahre 1932/1933; die massenhaften Deportationen, die mit dem Beschluss Nr. 776 – 120 vom 28. April 1936 über die „Aussiedlung“ von ‚deutschen Haushalten‘ in das Gebiet von Karaganda verbunden waren; die Zeit des ‚Großen Terrors‘ 1937/1938, dem mehr als 20.000 Menschen zum Opfer fielen; die Liquidation der ASSR der Wolgadeutschen mit dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 30. August 1941 und die Umsiedlung oder Verbannung der Russlanddeutschen aus dem europäischen Teil der Sowjetunion, die mit dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion begründet wurde sowie schließlich die seit 1942 erfolgte Deportation von Männern und Frauen in Zwangsarbeitslager – in die sogenannte Trudarmee.

„Keine ernsthaften Untersuchungen“ und dessen Folgen

Mit diesen und daraus resultierenden, zentralen Traumata mussten die Deutschen aus der UdSSR zurechtkommen und leben. Für die Literaturforscher stellte sich somit  die Frage, „in welcher Weise sind Geschichten erzählt worden, die dieses schwere Schicksal der Russlanddeutschen zum Gegenstand haben“, sagt Gansel, der die Literatur als „Organ der Selbstbeobachtung von Gesellschaften“ beschreibt.

Über drei Jahre lang haben die Autoren der „Edition Gegenwart“ zur Literatur, zur Kultur und „vor allem Erinnerung im Kontext der Russlanddeutschen“ geforscht, erklärt der Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Gießen, Carsten Ganser.

„Wir haben festgestellt, dass es so gut wie keinerlei ernsthafte Untersuchungen dazu gibt.“

So findet man im ersten Band neben Aufsätzen, Überblicksdarstellungen, auch dezidierte Analysen ausgewählter Texte. Die Autoren und Forscher fragen zudem nach der Rolle, der Sprache für die Identität der Russlanddeutschen und beschäftigen sich mit „Aspekten des kollektiven Gedächtnisses“.

Dieses wichtige Kapitel der deutsch-russischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts sei „selbst in groben Zügen den wenigsten bekannt“, zitiert Prof. Dr. Ganser die deutsch-russische Schriftstellerin Eleonora Hummel.  Das habe Folgen:

„In dem Augenblick, wo das Schicksal der Russlanddeutschen, die deutsch-russische Geschichte, die Störung, Zerstörung, Traumata einer solchen Bevölkerungsgruppe nicht gekannt werden, sind natürlich bestimmten moralisierenden und oftmals naiven und teilweise auch ungerechten Beurteilungen Tür und Tor geöffnet“, warnt der Forscher.

Zensur, Angst, neues Kapitel

Auch nach dem Krieg und dem Tod von Stalin spielten die tragischen Ereignisse bis in die 1970er Jahre in der Literatur der Deutschen aus Russland nur indirekt eine Rolle. Demütigung, Zensur, Angst und vielleicht die Freude über die wiedererlangte Freiheit, vielleicht auch die Hoffnung auf ein neues Leben im Sozialismus blockierten den kritisch-dokumentarischen Schreibprozess der sowjetdeutschen Autoren, bestätigt der Ko-Autor. Trotz dessen:

„Man findet in der Literatur der Russlanddeutschen viele Andeutungen. Oder man findet Texte in denen zwischen Zeilen zu erkennen ist — für diejenigen, die das Schicksal kennen, was an der Stelle vielleicht nicht gesagt wird“,

erzählt Gansel weiter und unterstreicht: „Man findet keine desidentischen Texte“, die gegen das sozialistische System gerichtet wären. Erst Mitte der 1980er Jahre konnte „sukzessive, Stück für Stück“ das Schicksal dieser Minderheit in literarischen Texten publik werden.

„Kein Hass, keine Häme“

Dabei zeigt sich Professor Gansel über die Einstellung der Deutschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken verwundert:

„Bei meinen vielen Reisen, die ich in Russland gemacht habe seit 2012, habe ich den Hut davor gezogen, dass da keinerlei Häme, kein Hass existiert hat, sondern ein sehr rationaler Umgang mit dem, was geschehen ist.“

Die sowjetische Volkstanz-Ensemble der Wolgadeutschen „Oktjabr“ (Oktober) im Herbst 1991

Die Kulturgeschichte der Deutschen aus der Sowjetunion sei ein ganz zentraler Punkt sowohl für das deutsch-russische Verhältnis der Gegenwart, aber auch für die Fragen:

„Welche Rolle spielt Migration, was ist Assimilation und wie leicht wird das bestimmten Bevölkerungsgruppen gemacht?“

Je mehr man über das Schicksal der Deutschen aus Russland wisse, desto ernsthafter, sachlicher, toleranter werde man das Deutsch-Russische insgesamt betrachten können,  betont der Wissenschaftler Prof. Dr. Gansel und kündigt in naher Zukunft einen zweiten Band an, der sich vordergründig mit den Entwicklungen nach 1989 beschäftigen soll.

Carsten Gansel, Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung, Okapi-Verlag; Auflage: Erste, 2018, 400 Seiten, 49 Euro, ISBN: 978-3947965007

Das komplette Interview mit Professor Carsten Gansel zum Nachhören:


Quelle und Kommentare hier:
https://de.sputniknews.com/gesellschaft/20190305324193841-sowjetdeutsche-geschichte-bericht/