Die Richtlinien der Londoner Konferenz für ein Besatzungsstatut

von Wilhelm Grewe

Den Ministerpräsidenten der Länder der westlichen Besatzungszonen sind am 1. Juli 1948 von den drei Militärgouverneuren, den Generälen Clay, Robertson und Koenig, drei Dokumente übergeben worden, die den Text der Richtlinien der Londoner Konferenz für die Bildung einer verfassunggebenden Versammlung (Dok‘ No. 1), für die Überprüfung der Ländergrenzen (Dok. No.2) und für ein Besatzungsstatut (Dok. No‘ 3) enthielten.

Dok. No. 3 lautet wie folgt:

Die Schaffung einer verfassungsmäßigen deutschen Regierung macht eine sorgfältige Definition der Beziehungen zwischen dieser Regierung und den Alliierten Behörden notwendig.

Nach Ansicht der Militärgouverneure sollten diese Beziehungen auf den folgenden allgemeinen Grundsätzen beruhen:

A. Die Militärgouverneure werden den deutschen Regierungen Befugnisse der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung gewähren und sich solche Zuständigkeiten vorbehalten, die nötig sind, um die Erfüllung eines grundsätzlichen Zwecks der Besatzung sicherzustellen. Solche Zuständigkeiten sind diejenigen,welche nötig sind, um die Militärgouverneure in die Lage zu setzen:

a) Deutschlands auswärtige Beziehungen vorläufig wahrzunehmen und zu leiten.

b) Das Mindestmaß der notwendigen Kontrollen über den deutschen Außenhandel und über innenpolitische Richtlinien und Maßnahmen, die den Außenhandel nachteilig beeinflussen könnten, auszuüben, um zu gewährleisten, daß die Verpflichtungen, welche die Besatzungsmächte in bezug auf Deutschland eingegangen sind, geachtet werden, und daß die für Deutschland verfügbar gemachten Mittel zweckmäßig verwendet werden.

c) Vereinbarte oder noch zu vereinbarende Kontrollen, wie zum Beispiel in bezug auf die Internationale Ruhrbehörde, Reparationen, Stand der Industrie, Dekartellisierung, Abrüstung und Entmilitarisierung und gewisse Formen wissenschaftlicher Forschung auszuüben.

il) Das Ansehen der Besatzungsstreitkräfte zu schützen und sowohl ihre Sicherheit als auch die Befriedigung ihrer Bedürfnisse innerhalb bestimmter zwischenden Militärgouverneuren vereinbarten Grenzen zu gewährleisten.

e) Die Beachtung der von ihnen gebilligten Verfassungen zu sichern.

B. Die Militärgouverneure werden die Ausübung ihrer vollen Machtbefugnisse wieder aufnehmen, falls ein Notstand die Sicherheit bedroht und um nötigenfalls die Beachtung der Verfassungen und des Besatzungsstatutes zu sichern.

C. Die Militärgouverneure werden die oben erwähnten Kontrollen nach folgendem Verfahren ausüben:

a) Jede Verfassungsänderungist den Militärgouverneuren zur Genehmigung vorzulegen.

b) Auf den in den Absätzen a) zu e) in Paragraph A oben erwähnten Gebieten werden die deutschen Behörden den Beschlüssen oder Anweisungen der Militärgotiverneure Folge leisten.

c) Sofern nicht anders bestimmt, insbesondere bezüglich der Anwendung des vorgehenden Paragraphen b), treten alle Gesetze und Bestimmungen der föderativen Regierung ohne weiteres innerhalb von 21 Tagen in Kraft, wenn sie nicht von den Militärgouverneuren verworfen werden.

Die Beobachtung, Beratung und Unterstützung der föderativen Regierung und der Länderregierungen bezüglich der Demokratisierung des politischen Lebens, der sozialen Beziehungen und der Erziehung werden eine besondere Verantwortlichkeit der Militärgouverneure sein. Dies soll jedoch keine Beschränkung der diesen Regierungen zugestandenen Vollmachten auf den Gebieten der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung bedeuten.

Die Militärgouverneure ersuchen die Ministerpräsidenten, sich zu den vorstehenden Grundsätzen zu äußern. Die Militärgouverneure werden daraufhin diese allgemeinen Grundsätze mit von ihnen etwa genehmigten Abänderungen der verfassunggebenden Versammlung als Richtlinien für deren Vorbereitung der Verfassung übermitteln und werden die von ihr etwa dazu vorgebrachten Äußerungen entgegennehmen. Wenn die Militärgouverneure ihre Zustimmung zur Unterbreitung der Verfassung an die Länder ankündigen, werden sie gleichzeitig ein diese Grundsätze in ihrer endgültig abgeänderten Form enthaltendes Besatzungsstatut veröffentlichen, damit sich die Bevölkerung der Länder darüber im klaren ist, daß sie die Verfassung im Rahmen dieses Besatzungsstatutes annimmt.“

Die Analyse dieses Textes ergibt folgendes Bild:

l. Die Festlegung des Besatzungsrechte soll in der Form eines von den drei westlichen Besatzungsmächten erlassenen Statutes erfolgen. Diesem Statut soll jedoch anscheinend im Wege eines Verfassungsplebiszits indirekt die Zustimmung der Bevölkerung des Dreizonengebietes erteilt werden, die darauf hingewiesen wird,

,,daß sie die Verfassung im Rahmen dieses Besatzungsstatuts annimmt, –

Sollte diese Deutung zutreffen, so würde eine solche Lösung allerdings für die deutsche Seite eine Kumulierung der Nachteile der beiden möglichen Wege (des vereinbarten Abkommens bzw. des einseitig erlassenen Statuts) bedeuten: die Deutschen wären nicht Verhandlungspartner und könnten ihre Gesichtspunkte nicht in der Rolle und mit dem Gewicht eines solchen geltend machen.

Gleichwohl sollen sie der von den Besatzungsmächten getroffenen Regelung – Möglicherweise nach Anbringung gewisser Abänderungsvorschläge, für deren Berücksichtigung jedoch keinerlei Gewähr besteht – zustimmen und damit eine Verantwortlichkeit für diese Regelung übernehmen.

2. Der genaue Wortlaut des Textes nötigt zu der Feststellung, daß trotz der geplanten Konstituierung einer quasi-staatlichen Organisation keine Beendigung der Sequestration ins Auge gefaßt ist. Die Militärgouverneure werden vielmehr den deutschen Regierungen gewisse Befugnisse der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung „gewähren“.

Nach dem Text des Dok. No. 3 ist offensichtlich nicht daran gedacht, durch einen actus contrarius zur Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 die damals von den Besatzungsmächten übernommene deutsche Regierungsgewalt auf deutsche Organe zurückzuübertragen.

Die plenitudo potestatis verbleibt vielmehr bei den Besatzungsmächten, die lediglich begrenzte Befugnisse‘ den deutschen Organen delegieren. Die Zuständigkeitsvermutung würde auch künftig grundsätzlich zugunsten der Besatzungsbehörden sprechen. Nicht nur
im Falle eines die Sicherheit der Besatzungstruppen gefährdenden Notstandes, sondern auch „um nötigenfalls die Beachtung der Verfassungen und des Besatzungsstatutes zu sichern“ (Dok. No. 3, B) können die Militärgouverneure die den deutschen Organen erteilten Vollmachten widerrufen und

„die Ausübung ihrer vollen Machtbefugnisse wieder aufnehmen“.

Aus dieser Formulierung wird ersichtlich, daß es sich nicht nur um das Recht zur Verhängung des Belagerungszustandes bei Gefährdung der Sicherheit der Besatzungstruppen handelt, das im Rahmen einer militärischen Sicherungsbesetzung selbstverständlich gegeben ist, sondern um die grundsägliche Aufrechterhaltung der Sequestrationsgewalt.

3. Die den deutschen Organen zugedachten Befugnisse sind sowohl durch sachliche Vorbehaltsgebiete wie durch den funktionellen Aufbau der Kontrollen und Weisungsbefugnisse der Besatzungsmächte begrenzt.

a) Obgleich eine quasi-staatliche Organisation geplant ist, bleiben die auswärtigen Angelegenheiten ausschließliches Vorbehaltsgebiet der Besatzungsmächte (A, a).

b) Auf dem Gebiete des Außenhandels ist „ein Mindestmaß notwendiger Kontrollen“ (A, b) vorgesehen. Aus Abschnitt C, b ergibt sich, daß diese Kontrollen nicht nur eine zweckgebundene Aufsicht über die deutsche Außenhandelsorganisation bedeuten, sondern den Besatzungsmächten ein unmittelbares, durch keine Zweckbindung beschränktes Weisungsrecht geben. Da der Ausdruck „Kontrolle“ (control, controle) im angelsächsischen und französischen Sprachgebrauch eine viel umfassendere Bedeutung hat, als im deutschen Sprachgebrauch, muss nach dem Text sogar mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß die von den Besatzungsmächten selbst verwalteten Außenhandelsmonopolstellen (JEIA, Officomex) ihre Tätigkeit fortsetzen können.

Da sich die hier vorgesehenen Kontrollen auch auf

„innenpolitische Richtlinien und Maßnahmen, die den Außenhandel nachteilig beeinflussen könnten“,

erstrecken, ist den Besatzungsmächten weiterhin die umfassendste Einwirkungsmöglichkeit auf weite Gebiete der deutschen Innenpolitik eröffnet. Die gesamte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, insbesondere etwa Steuergesetzgebung
und Preis- und Lohngestaltung können unter dieser Klausel jederzeit als Vorbehaltsgebiet der Besatzungsbehörden behandelt werden – mit der Folge, daß auf diesen Gebieten nicht nur das legislative Veto derMilitärgouverneure nach C, c, sondern darüber hinaus ihre unmittelbare Weisungsbefugnis nach C, b=gegeben ist.

c) Weitere „vereinbarte oder noch zu vereinbarende Kontrollen sollen etwa in bezug auf die Internationale Ruhrbehörde, Reparationen, lndustrieniveau, Dekartellierung, Abrüstung, Entmilitarisierung und „gewisse Formen“ wissenschaftlicher Forschung geschaffen werden.

Die Tragweite dieser Klausel ist deutscherseits nicht abzusehen. Bei den Vereinbarungen ist offenbar an interalliierte Vereinbarungen gedacht. Die Sachgebiete, auf die sie sich beziehen können, sind nicht erschöpfend, sondern nur exemplifikativ aufgezählt. Hinsichtlich der Sachgebiete Industrieniveau und Dekartellierung ist es schwer, eine völkerrechtliche Rechtfertigung für eine unmittelbare Zuständigkeit der Besatzungsbehörden zu finden.

d) Daß sich die Besatzungsmächte alle Zuständigkeiten vorbehalten, welche das Ansehen und die Sicherheit der Besatzungstruppen und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse betreffen, ist eine Selbstverständlichkeit, die niemand in Zweifel ziehen wird.

e) Ebenfalls ist selbstverständlich, daß sich die Besatzungsmächte Zuständigkeiten zur Sicherung dervon ihnen gebilligten Verfassungen vorbehalten. Indessen sollte es genügen, wenn sie die Aufrechterhaltung der grundlegenden Prinzipien einer demokratischen und föderativen Verfassung kontrollierten, wie sie im Dok. No.1 näher umschrieben sind (Schutz der Länderrechte, Existenz einer angemessenen Zentralinstanz, Garantie der individuellen Rechte uııd Freiheiten, Rücksichtnahme auf die künftige Wiederherstellung der deutschen Einheit). Ein selbständiges politisches Leben, wie es eine
demokratische Verfassung voraussetzt, kann sich nur entfalten, wenn sich die Verfassungsaufsicht der Besatzungsmächte auf diese Grundprinzipien beschränkt und sich nicht auf ihre konkrete Ausgestaltung im einzelnen und auf jede technische Verfassungsnorm erstreckt.

f) Hinsichtlich der

„Demokratisierung des politischen Lebens, der sozialen Beziehungen und der Erziehung“

nehmen die Militärgouverneure eine

„besondere Verantwortlichkeit“

wahr, die sich praktisch in der

„Beobachtung, Beratung und Unterstützung der föderativen Regierung und der Länderregierungen“

auswirken soll (C,Abs.2). Es wäre sicherlich wünschenswert, wenn diese Zuständigkeiten in eine klare Rechtsform gebracht würden. Nicht-formalisierte Einwirkungsbefugnisse dieser Art haben stets etwas Mißliches, wenn sie die Beziehungen zwischen zwei Parteien betreffen, deren Kräfte so ungleich verteilt sind, wie es hier der Fall ist. Klar umrissene Aufsichtsbefugnisse hätten den Vorzug, daß sie dem schwächeren Teil erlaubten, seinen Handlungsspielraum deutlich zu überblicken.

4. Im Zusammenhang mit den unter A umschriebenen sachlichen Vorbehaltsgebieten ist der funktionelle Aufbau der Kontrollen und Weisungsbefugnisse der Besatzungsmächte, wie er sich aus B und C ergibt, bereits mehrfach berührt worden. Ergänzend ist zu bemerken:

In der durch das Besatzungsstatut bestimmten Phase der Besetzung war auf deutscher Seite die Einrichtung einer alliierten Aufsichtsverwaltung (supervision, surveillanee, nicht control, contrôle) erwartet worden. Dok. No. 3 enthält jedoch keine konkrete rechtsförmige Ausgestaltung einer solchen. Es sieht vielmehr auf weiten Gebieten die Aufrechterhaltung einer „Kontrolle“ mit direkter Weisungsgewalt vor (C,b). Soweit keine solche Weisungsbefugnis gegeben ist, greift das Vetorecht der Militärgouverneure ein (C, c).

Ein solches Vetorecht wäre auch im Rahmen einer Aufsichtsverwaltung anzuerkennen. Die meisten deutschen Vorschläge für ein Besatzungsstatut hatten es vorgesehen. Jedoch sollte die Ausübung des Vetorechtes auf die ‚Wahrung der Besatzungszwecke gerichtet sein. Es sollte von ihm also nur Gebrauch gemacht werden, wenn ein Gesetz oder eine Bestimmung geeignet erschiene, die Sicherheit der Besatzungstruppen, den Bestand einer demokratisch-föderativen Staatsordnung, die Entmilitarisierung Deutschlands oder die Erfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen zu gefährden.

5. Dok. No.3 sagt nichts über die Gewährleistung besatzungskräftiger Grundrechte, über Reparationen und Restitutionen und das bei ihrer Realisierung künftig zu beobachtende Verfahren. Es sagt über die Grenzen der Besatzungsleistungen nur, daß die Militärgouverneure sich untereinander darüber einigen werden. Über das bei Requisitionen zu beobachtende Verfahren ist keinerlei Bestimmung getroffen. Auch über die Wiederherstellung der deutschen Gerichtsbarkeit in allen Angelegenheiten, die nicht nach völkerrechtlichen Grundsätzen den Militärgerichten einer Besatzungstruppe zu überlassen sind, ist nichts gesagt, ebensowenig sind Bestimmungen zur Sicherung der Unabhängigkeit der deutschen Rechtspflege getroffen.

6. Das Dok. No. 3 der Londoner Richtlinien bedeutet insoweit einen Fortschritt in der Entwicklung des Besatzungsrechtes, als ihm offenbar der Wunsch der Besatzungsmächte zugrundeliegt, den deutschen Behörden weitere Vollmachten als bisher einzuräumen. Bei einer Gesamtwürdigung seines Inhalts darf das nicht verkannt
oder bagatellisiert werden.

Wenn die Besatzungsmächte diese Richtlinien von sich aus in Kraft setzen, werden sie unter diesem Gesichtspunkt sicherlich allgemein begrüßt werden. Dagegen scheint der Inhalt der Richtlinien in der bisherigen Fassung nicht geeignet zu sein, jene Hoffnungen und Erwartungen zu erfüllen, die in Deutschland an den Abschluß eines Besatzungsabkommens oder an den Erlaß eines die deutschen Vorschläge berücksichtigenden Besatzungsstatuts geknüpft wurden.

Zahlreiche wichtige Fragen, die Gegenstand eines solchen Statutes hätten sein müssen, sind ungeregelt geblieben. Die wichtigste Forderung aber: nämlich eine klare und in ihrer Tragweite übersehbare Abgrenzung der Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen alliierten und deutschen Behörden ist durch die Formulierungen des Dok. No.3 noch nicht erfüllt.

Die Londoner Richtlinien sehen die Möglichkeit deutscher Abänderungsvorschläge vor. Es bleibt abzuwarten, wieweit die obenerwähnten Gesichtspunkte auf diesem Wege noch Berücksichtigung finden können.


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