Die große Arschlochaufzucht

von Roberto J. De Lapuente

Was genau hindert mich eigentlich daran, mich wie ein absolutes Arschloch zu benehmen? Ich meine, es änderte ja nichts. Nur weil ich auf nichts mehr Rücksicht nehme und meine Mitmenschen wie Scheiße behandle, entstehen ja heute keine Nachteile mehr. Wir sind ja ach so liberal und schauen weg und ärgern uns dann über all die Arschlöcher, die uns das Leben vergällen.

Bis eben sah er noch aus wie einer dieser Leistungsträger. Einer, der ein mit Salatschüsselchen befülltes Tablett zur Kasse trägt und dabei sicherstellt, dass ihm der Schlips nicht in das Dressing schlüpft. Ein Bankangestellter vielleicht. Als ihm die Kassiererin den Preis nennt, wird er allerdings pampig. Das sei anders ausgeschildert gewesen, ruft er erregt. Die arme Frau an der Kasse prüft nochmal, kann ihm aber nicht zustimmen. Er habe wohl falsch geguckt.

»Wie falsch geguckt«, erwidert er, »ich zahle immer den günstigeren Preis!«

Die Kassenkraft antwortet nicht, wahrscheinlich fehlt ihr die Idee einer adäquaten Antwort. Sie hat vermutlich beigebracht bekommen, Kundschaft stets für unantastbar zu halten. Der feine Herr schleudert das Tablett nun anderthalb Meter auf der Ablage weiter. Salatblätter fallen aus der Schüssel, das French Dressing spritzt wie Gischt über Tablett und Ablage und tröpfelt auf den Boden. Der Leiter der Cafeteria kommt hinzu, er spricht leise und besonnen, gibt seiner Angestellten zögerlich recht und der Leistungsträger mosert weiter, zieht aber dann ab. Heute also mal kein Salätchen für ihn.

Außer leerem Magen hatte es keine Folgen. Offenbar kann man sich heute egal wo man ist, wie der letzte Ranz benehmen. Anfang des Jahrtausends sang ein Kerl, den sie einige Wochen bei Big Brother eingesperrt hatten, dass es geil sei, ein Arschloch zu sein. Da war das noch Provokation, da hatten die Sittenwächter noch was zum Toben. Und heute?

Die Arschlöcher laufen draußen frei herum und finden sich und ihr Verhalten geil. Egal ob wie in Lokalen, wie oben beschrieben, ob in Läden, wo man munter in ein Verkaufsgespräch zwischen anderen Kunden und Beratern dazwischenquasselt, in der Bahn, wo man seine Schuhe auszieht und den Sohlenkäse auf die Sitzpolster legt, während der Opa sehnsuchtsvoll auf den mit Füßen belegten Platz schielt: Das Arschloch ist schon da. Manchmal auch nicht. Wenn er zum Beispiel in feinem Zwirn am Bahnsteig steht und von dort seine Aktentasche voller Wut gegen die Scheibe des Waggons knallt, weil er die offene Tür nicht mehr erreicht hatte – und der dann auch noch dem Zugführer den Stinkefinger zeigt.

Andere würden diesen Typus freilich politisch korrekter als Individualisten bezeichnen, als das gesellschaftliche Produkt einer vereinsamenden Gesellschaft, die durch Liberalisierungen und Entsolidarisierungen Individuen geschaffen hat, denen ein etwaiges Gemeinschaftsgefühl und Empathie abhanden gekommen sind. So kann man das schon ausdrücken – alleine es klingt auf diese vernünftige Weise viel zu positiv. Aber positiv ist die leidige Erfahrung mit dem Individualisten und Arschloch so überhaupt nicht.

Was aber viel schlimmer auf die Gesellschaft drückt: Man hat den Eindruck, als hat Arschlochverhalten keinerlei Konsequenzen mehr. Auf Gehsteigen parken und Passanten und Rollstuhlfahrern den Weg abschneiden? Das Ordnungsamt ist unterbesetzt und kommt nicht oder viel zu spät und der Arschlochparker kommt davon. Der Kunde wirft mit Lebensmitteln? Aber die Geschäftsleitung will einen Eklat verhindern und lässt es durchgehen. Der Kunde ist nicht mehr nur König, der Kunde ist nölender Diktator. Der Vierzehnjährige wirft die Reste seines Döners auf den Boden und nennt den älteren Herrn, der ihn darauf anspricht, einen »Hurensohn, der sein Maul halten soll«?

Konnte man als Vierzehnjähriger zu allen Zeiten machen. Nur zu anderen Zeiten hätte das Folgen gehabt. Schmerzhafte zuweilen. Gehen Sie doch heute mal zu einer Mutter und verpetzen den pubertierenden Bengel. Wenn Sie am Ende nicht nochmals beleidigt werden, haben Sie schon Glück gehabt. Unter Umständen wird Ihnen die Mutter aber erklären, dass sich ihr Kind entfalten können muss. Und überhaupt, wie kommt denn ein wildfremder Mann auf die kuriose Idee, ein Kind maßregeln zu wollen, das nicht seines ist?

Wenn Kinder nur von solchen Eltern sozialisiert werden sollen und alle anderen müssen zuschauen und sich raushalten, dann ist klar, dass die Arschlochaufzucht in vollem Gange ist.

Dabei wäre es ja so ausgesprochen wichtig, dass man nicht nur zuschaut und abwinkt, sich als Beobachter aus der Verantwortung stiehlt. Wenn da ein erwachsener Mann Essen durch die Gegend schubst, rumzickt und einer Kassiererin die Hölle bereitet, dann geht das sehr wohl auch andere was an.

Denn das Arschloch ist ein gesellschaftliches Problem und als solches ist jedes Mitglied der Gesellschaft aufgerufen, ein solches Verhalten zumindest laut und deutlich zu tadeln. Vielleicht erreicht man dann nämlich den Menschen im Arschloch (eine biologisch durchaus komische Vorstellung) und er kühlt hinunter, entspannt sich und reflektiert dann, bei einem etwas teureren Salat, wie dämlich ein solcher Auftritt ist – und wieviel Lebensqualität es ihm und seinem Umfeld kostet, wenn man ein solches Verhalten toleriert.

Ich gebe zu, natürlich bin auch ich viel zu oft zurückhaltend. Auch ich sollte viel öfter maßregeln und klar machen, dass Arschlochverhalten unmöglich ist. Wie neulich, da stand vor mir an der Kasse eines Elektrofachmarktes eine ziemlich aufgetakelte Frau. Sie stand mit einem Eierkocher da und die Angestellte an der Kasse meinte, da habe sie also nochmal dasselbe Modell genommen. Es handelte sich also wohl um einen Umtausch. Die Aufgetakelte war plötzlich völlig aufgelöst und angefressen zugleich. »Wie, dasselbe Modell!«, es solle sofort jemand an die Kasse kommen und ihr helfen.

Die Mitarbeiterin empfahl ihr, nochmals in die Abteilung zu gehen, da wäre jemand. Ja, aber der sei wahrscheinlich im Gespräch,

»oh Gott, die ganze schöne Zeit war jetzt umsonst, das gibt es doch nicht, du liebe Güte, da soll sofort jemand kommen.«

Die Kassiererin wusste darauf nichts zu sagen, unterließ aber auch jegliche Handlung. Die Kundin guckte sich immer wieder um und stierte mich wie um Hilfe suchend an. Ich ignorierte zunächst ihre Blicke, je mehr sie aber herumbitchte, desto schlimmer nervte mich dieses klassische Verhalten eines Arschlochs. Dann linste sie mich wieder an und ich sagte nur:

»A sowas Bleds wia Earna hob i no nia gsehng.«

Ich neige dazu noch mehr zu bayern als ich es ohnehin tue, wenn ich derb sein will. Nichts klingt auf Deutsch so rauh, wie der Klang bayerisch vorgetragener Despektierlichkeiten. Die Frau riss die Augen auf, sie war sichtlich brüskiert und sagte der Kassiererin, sie nehme den Eierkocher jetzt doch. Dann jammerte sie herum, wieviel Zeit sie verloren hatte und trollte sich. Ob es geholfen hat, kann ich freilich nicht sagen.

Diese Frau sah aus wie eine dieser Bonzenweiber aus dem Vordertaunus, Haus und Putzhilfe inklusive. Eine wie sie ist es gewohnt bedient und umsorgt zu werden. Das sind Grundstrukturen, die fast immer in Arschlochverhalten münden.

Was mich ja fast mehr nervt als derjenige, der sich ohne Konsequenzen wie die Öffnung am Ende des Enddarms aufführt, das sind die Menschen, die es durchgehen lassen. Die peinlich berührt zu Boden gucken oder einfach durch die Szenerie hindurchglotzen, als hätten sie mit dieser Sache nichts am Hut. Es ist nicht das Arschloch, das unsere Gesellschaft mehr und mehr zu einem ungemütlichen Ort macht, es sind all diejenigen, die dieses Auftreten tolerieren, indem sie es durch Schweigen quasi legitimieren.

Diese seltsame Contenance ist das viel größere Problem.

Sie ist die Wiege der Arschlochaufzucht.

Jeder betuliche Akt der Zurückhaltung in solchen Momenten führt dazu, dass diese Gesellschaft weiter in den Anus abrutscht.

Das hat nichts damit zu tun, dass jetzt ein kollektiver Knigge notwendig würde, den die Anständigen unter dem Arm geklemmt mit sich tragen und immer dann aus ihm zitieren sollen, wenn ein solcher Typus auftritt. Es geht ja schon mal gar nicht um Fragen wie jene, wie man eine Gabel richtig hält. Das ist belangloser Anstand, da kann man liberal bleiben. Falsche Gabelgriffe tun ja niemanden weh.

Aber die Liberalisierung kann nicht so weit führen, dass jedes miese Verhalten gegen Mitmenschen tolerabel wird. Dazu braucht man nicht die feine Sprache eines Knigge, sondern ganz im Gegenteil, den Mut dem Arschloch als Arschloch zu begegnen. Laut werden, bloßstellen vor anderen, ihn maßregeln mit spöttischem Ton, ihn kurz gesagt für einen Augenblick so in Szene rücken, dass er der traurige Star einer Alltagsinszenierung ist, in der er nicht mehr herrlichen Protagonist sondern lächerlicher Antagonist sein muss. Das ist ja gerade nicht Knigge. Eher sowas wie ein Anti-Knigge. Der Kampf um das Benehmen ist mit Benehmen nicht zu gewinnen.

Kurz als Arschloch aufleuchten um selbige vielleicht wieder einzufangen. Um ihnen klar zu machen:

So geht es nicht, schlechtes Benehmen hat Konsequenzen.

Und zwar die soziale Ächtung. Ich glaube, Rücksichtnahme ist das falscheste Mittel. Sie ist die willfährige Helferin einer Liberalisierung aller Lebensbereiche, die bis hin zum sozialen Auftreten so tut, als sei alles möglich, was der Markt zulasse. Wenn diese Markttheorie gelten soll, sollte man als Markt reagieren: Mit Protest und lauter Stimme.

Schweigen heißt, die Regentschaft der Arschlöcher nach und nach zu festigen. Ihr Benehmen als Standard zu akzeptieren. Die liberale Gleichgültigkeit ist ein Beitrag zur Verschlechterung der Gesellschaft.

Seien Sie daher ein Gegenarschloch und machen Sie etwas zur Verbesserung der Welt.

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Quelle und Kommentare hier:
http://www.neulandrebellen.de/2018/04/liberalisierung-oder-die-grosse-arschlochaufzucht/