DER TRECK NACH WESTEN: „DIE DEUTSCHEN ALS OPFER“ – VERTREIBUNG (I)

Von Noack, Hans-Joachim

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs bricht in der von Normalität beseelten Berliner Republik ein Thema auf, das längst vergessen schien: Die unbelastete nachgewachsene Generation interessiert sich für Flucht und Vertreibung.

Ende Februar geraten die seit Wochen angespannten Beziehungen zwischen Berlin und Prag derart in Schräglage, dass sich der Kanzler zum Handeln gezwungen sieht. „Stinksauer“, wie es in seiner Umgebung heißt, storniert er da kurzerhand eine bereits fest gebuchte Besuchsreise in die tschechische Hauptstadt.

Der Auslöser für die abrupte Kehrtwende sind mal wieder die so genannten Benes-Dekrete – jene Erlasse des ersten Präsidenten der von der Nazi-Herrschaft befreiten CSR, auf deren Grundlage nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen Sudetendeutscher und Ungarn ihre Heimat verloren.

In den fruchtlosen Streit darüber, wieweit diese Papiere noch Gültigkeit haben (und womöglich gar den EU-Beitritt Tschechiens erschweren), will sich Gerhard Schröder nicht einmischen. Der Sozialdemokrat distanziert sich vom Prager Parteifreund und Regierungschef Milos Zeman, der die Vertriebenen aus vormals Böhmen und Mähren rüde als „fünfte Kolonne Hitlers“ an den Pranger gestellt hatte.

Während sich Außenminister Joschka Fischer vor Ort um Verständnis bemüht, zeigt der Kanzler dem Kollegen die kalte Schulter – eine mit Bedacht kalkulierte Demonstration neuer deutscher Unbefangenheit, die nun kaum noch jemanden in Wallung bringt.

Denn die Zeiten haben sich geändert. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des „Tausendjährigen Reiches“ und seiner blutrünstigen Protagonisten greifen die nachgewachsenen und unbelasteten Bundesbürger ihrerseits ein Thema auf, das längst vergessen schien: In der von Normalität beseelten Berliner Republik werden unvermittelt die Gründe für Flucht und Vertreibung debattiert.

Wie sehr die Enkelgeneration dieses Drama umtreibt, belegt vor allem die binnen weniger Wochen in über 300 000 Exemplaren verkaufte Günter-Grass-Novelle „Im Krebsgang“ – eine aus fiktiven und realen Versatzstücken gefügte Schicksalsstory, die den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ nachzeichnet. Die russische Marine hatte den von den Nazis gebauten Touristendampfer in den letzten Kriegsmonaten mit nahezu 10 000 Flüchtlingen und Soldaten an Bord in der Ostsee versenkt.

Und der in Danzig geborene, ehedem eher als Ankläger deutscher Verbrechen geltende „Praeceptor Germaniae“ („Süddeutsche Zeitung“) textet nicht nur, er schlägt auch wirksam die Trommel: Welche Qualen die eigenen Landsleute unter dem von Hitler entfachten Weltenbrand erlitten, sei zu lange in Schweigen gehüllt worden. Er selbst habe sich ein „bodenloses Versäumnis“ anzulasten.

Die Deutschen als Opfer – ein im Jahre zwölf der wieder vereinigten Bundesrepublik aufbrechendes dunkles Kapitel, das aber nicht allein Günter Grass entdeckt hat. Der Leidensweg von über 14 Millionen Ostpreußen, Pommern oder Schlesiern, die zwischen 1944 und 1947 aus ihrer Heimat fortgejagt wurden (und von denen Hunderttausende, vielleicht gar zwei Millionen dabei umkamen), wird schon vorher aus einem zunehmend neuen Blickwinkel betrachtet.

Über Flucht und Vertreibung schreibt der bei Bremen lebende Kollege Walter Kempowski, 72, („Echolot“) und die 33 Jahre alte Autorin Tanja Dückers („Himmelskörper“). Der Klassiker der im März mit einem Staatsakt in Hamburg zu Grabe getragenen Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, 92 – „Namen, die keiner mehr nennt“ – ist inzwischen in die 32. Auflage gegangen.

In Berlin, Düsseldorf oder Potsdam veröffentlichen Historiker gelehrte Abhandlungen – etwa der junge Philipp Ther über das tragisch ineinander verschlungene Schicksal der deutschen und polnischen Vertriebenen oder Manfred Zeidler, der sich der grässlichen Racheakte der Roten (Besatzungs-)Armee annimmt.

Was geschah da, als sich der von Hitler und seinen willigen Vollstreckern geführte Vernichtungskrieg dem bitteren Ende näherte? Wie es kam, dass in einem harten, schneereichen Winter 1944/45 bereits Zigtausende auf dem großen Treck Richtung Westen erfroren oder erschossen wurden, möchten nun vor allem die jüngeren Jahrgänge wissen.

„Die fragen jetzt häufig ihre Großväter“, berichtet der aus Nordböhmen stammende Osteuropa-Experte Hans Lemberg. In dieser Altersklasse zeige sich „eine bemerkenswerte Veränderung der Optik – going to the roots“.

Über alle Erwartungen hohe Einschaltquoten von TV-Dokumentationen bestätigen das ebenso wie etwa die Serie des populären Fernseh-Historikers Guido Knopp im Massenblatt „Bild“ – und in einem SPIEGEL-Gespräch erklärt der Geschichtswissenschaftler Hans-Ulrich Wehler (siehe Seite 19) einen Teil der Gründe: Die Deutschen hätten nun augenscheinlich „ein zeitliches und emotionales Sicherheitspolster“, das ihnen die Möglichkeit gäbe, den Schrecken an sich heranzulassen – eine insgesamt heilsame Art der Befassung.

Und so ähnlich scheint darüber auch eine stattliche Anzahl vorwiegend nachgeborener Bundesbürger zu denken. Die Geschichten aus der alten kalten Heimat, die lange Zeit eher Verdruss erzeugten oder mit unverhohlenem Argwohn verfolgt wurden, haben plötzlich Hochkonjunktur.

Passé jedenfalls die Wortführerschaft derer, die sich nahezu ausschließlich auf die Schandtaten der Nazis und ihrer Mitläufer fixierten. Wer wie die Erfinder des Holocaust und anderer Scheußlichkeiten den Völkern unsägliche Gräuel zugemutet habe, möge in eigener Sache den Mund halten, hatten zumindest die gegen ihre Väter als Täter antretenden 68er verlangt.

Die Enkelgeneration jedoch wertet in einem Land, das in atemraubender Geschwindigkeit vorher ungeahnte Normalisierungsprozesse durchläuft, die zurückliegenden Ereignisse erkennbar nüchterner. Eine Verhaltensweise, die in eine dritte und letzte Stufe der viel zitierten Vergangenheitsbewältigung münden könnte.

Denn die erste, die gleich nach dem Verlust der Ostgebiete von den unmittelbar Betroffenen forciert wurde, lag noch zu nahe an der Katastrophe. Zwar beklagten im Westen zahllose Ostpreußen oder Schlesier das ihnen auferlegte Schicksal, mehr als andere büßen zu müssen – bloß, was half das schon?

Tabu war die von den Siegermächten etwas gefühllos zum „Bevölkerungstransfer“ heruntergeredete Zwangsumsiedlung im sowjetischen Vasallenstaat DDR. In der Bonner Republik bildete sich zwar ein „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE), der zeitweilig sogar in den Bundestag einzog, aber dann rasch wieder an Einfluss verlor.

Während die Funktionäre der einzelnen Landsmannschaften radikal und zusehends weltfremd auf einem Vaterland „in den Grenzen von 1937“ beharrten, pflegten Millionen von Flüchtlingsfamilien zwischen Flensburg und Garmisch ihren privaten Erinnerungskult.

Die Entwurzelung schmerzte sosehr, dass selbst Vertriebene wie die später strikt auf Ausgleich bedachte Marion Gräfin Dönhoff jahrzehntelang darunter litten. Noch im September 1964 bekundete die trauernde Ostpreußin ihr Verständnis für den hinhaltenden Widerstand gegenüber allen Verzichtsleistungen:

„Das wäre so“, schrieb sie im Namen der Flüchtlinge, „als verlangte man von ihnen, ihre Toten zu verraten.“

Ein schönes Bekenntnis, das sich dann allerdings peu à peu am anfangs noch tristen Alltag aufrieb. Den ihrerseits erheblich belasteten „Einheimischen“ gingen die Geschichten von der verlorenen Scholle zunehmend auf die Nerven – und vor allem die Kinder der Vertriebenen, die traumatische Erlebnisse abzuschütteln versuchten, arrangierten sich mit den neuen Verhältnissen.

Das Kind aus Masuren oder der Pommerschen Schweiz sprach sehr bald pfälzisch oder hessisch – Verdrängung und Anpassung als Überlebensprinzip.

Und auch ansonsten veränderten sich aus guten Gründen die Perspektiven. Spätestens mit der auf Versöhnung ausgerichteten Ostpolitik Willy Brandts haftete den Verbandslobbyisten, die Massenveranstaltungen wie das berüchtigte Pfingsttreffen der Sudetendeutschen inszenierten, etwas lähmend Gestriges an.

Zwar hatten die Vertriebenen in einer 1950 verabschiedeten „Charta“ Gelüsten nach „Rache und Vergeltung“ abgeschworen, aber nicht nur das Ausland bezweifelte den Verzicht: Alle, die sich dafür stark machten, Königsberg oder Breslau im Herzen zu bewahren, galten in einer sich liberalisierenden und pragmatischen deutschen Öffentlichkeit prompt als „Revanchisten“.

Was immer sich die Hardliner noch klammheimlich an Chancen ausrechnen mochten – der Lauf der Geschichte verwehte ihre Träume. Selbst als nach der 89er Wende der marode Ostblock zerbrach, änderte das nichts an den Beschlüssen von Potsdam und Jalta. Um die Einheit zu sichern, trat die Bundesrepublik die 1945 faktisch eingebüßten Ostprovinzen auch juristisch ab.

Aber dann kamen ja die Kriege auf dem Balkan, die politisch engagierte Zeitgenossen mit einer bestürzenden Realität konfrontierten. Flucht und Vertreibung – und ärger: die „ethnische Säuberung“ als erklärtes militärisches Ziel – gehörten, wie man nun erlebte, keineswegs der Vergangenheit an. Sie erzwangen als europäisches Gegenwartsphänomen eine dem bitteren Dilemma adäquate Antwort.

Im Angesicht der im Kosovo fliehenden und gejagten Menschen setzte bei der lange unwilligen deutschen Linken ein allmähliches Umdenken ein. Waren das nicht die gleichen Bilder wie vor mehr als einem halben Jahrhundert auf der Kurischen Nehrung oder im Stettiner Haff?

Zunächst bemühte sich – 1995 – die Vizepräsidentin des Bundestags, Antje Vollmer, selbstzerknirscht um eine neue Einschätzung: Wie sie und ihresgleichen sich bei der „Aufarbeitung historischer Wahrheiten“ geirrt hätten, räumte die spürbar verunsicherte Theologin ein, sei „kein Ruhmesblatt“ gewesen.

Das war es auch nicht, sondern laut Innenminister Otto Schily „Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit“, den er jetzt gründlich zu korrigieren versprach. Im September 2000 wagte sich als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler der für Umschwünge mit feiner Antenne ausgestattete Gerhard Schröder auf einen „Tag der Heimat“. Spontan regte er dort an, „miteinander zu reden“ statt die alten „Vorurteile zu pflegen“.

So wurde das Ende einer seit der „68er“-Zäsur andauernden Political Correctness eingeläutet, die auch sensible Charaktere wie den einstigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker beeinflusste. Hatte der nicht noch am 8. Mai 1985 in seiner im Übrigen zu Recht gerühmten Rede über die Vertreibung seiner Landsleute seltsam gewunden von einer „erzwungenen Wanderschaft“ gesprochen?

Aus und vorbei. Mit der unumkehrbaren Hinnahme dessen, was ja schon vom ersten Nachkriegstag an irreversibel war, fühlen sich die neuen Deutschen nun locker entfesselt.

Von Verdrängung keine Spur mehr. Sogar die in Fragen nationaler Introspektion vorsichtige „Frankfurter Rundschau“ konstatiert ein inzwischen „ungeheuer großes Bedürfnis, das Vertreibungsthema in ein breites öffentliches Geschichtsbewusstsein zu integrieren“.

Woher das rührt, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Eine Rolle spielt dabei gewiss die Erkenntnis, dass sich solche Katastrophen auch dann ereignen, wenn den Betroffenen keinerlei Schuld nachzuweisen ist. Allein in Europa mussten zwischen 1939 und 1947 schließlich nahezu 50 Millionen Menschen unter Zwang ihre Heimat verlassen. Nur jeder Vierte davon war Deutscher.

Aber reicht das, darüber in einem Land, das den verheerenden Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat, endlich unbefangener zu debattieren? Als eine der wenigen kritischen Stimmen bemängelt die „Neue Zürcher Zeitung“, der gegenwärtige Diskurs spiegele den „mentalen Status quo der Berliner Republik“: Zu deren fortwährendem Normalisierungsgerede gehöre nun offenbar der begehrte „Eintritt in die internationale Opferkultur“.

So mögen – immer noch oder schon wieder – auch die Tschechen denken, während sich die Polen anders verhalten. Ihre einschneidende Erfahrung, selbst vertrieben worden zu sein, bevor sie in den entvölkerten Provinzen Schlesiens, Pommerns oder Westpreußens eine Heimat fanden, hat zu einer bemerkenswerten Erinnerungsarbeit geführt.

Polnische Schriftsteller, und gerade solche, die in den einstigen deutschen Ostgebieten leben, sehen in den vormaligen Bewohnern eher Schicksalsgefährten. Sie verfassen Bücher, die davon handeln, dass Beschweigen nicht befreit, sondern die Geschehnisse benannt werden wollen, weil sie nur auf solche Weise wirklich zu befrieden sind.

„Der Aussöhnung zu dienen, indem man sich wechselseitig seine Geschichten erzählt“, wünscht sich etwa Philipp von Bismarck, lange Zeit Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft, und vor allem die Enkel scheinen nun einen unverstellten Blick jenseits von Schuld und Selbstkasteiung zu riskieren. Sie wollen das Unabänderliche nicht infrage stellen, sondern wissen, was war. HANS-JOACHIM NOACK

* Am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal für das Warschauer Ghetto.


Quelle und Kommentare hier:
http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-22937237.html