Das eigentliche Europa – Eine Besinnung in den Zeiten der Entmündigung

von Fassadenkratzer

Es soll hier nicht um die EU gehen, dieses Bürokratiemonster auf europäischem Boden, das von seinen Agenten und medialen Lautsprechern ständig mit Europa identifiziert wird. Offenbar um mit dem Glanz dieses Namens die Illusion zu erzeugen, als münde die historische Entwicklung Europas folgerichtig in dieses Machtgefängnis ein und finde hier ihre Erfüllung. Enzensberger spottete darüber mit der Bemerkung:

„Zwar liegt Brüssel in Europa, aber Europa liegt nicht in Brüssel.“

Geographisch gesehen ist Europa gar kein eigener Kontinent, sondern bildet einen Teil der asiatischen Landmasse, die hier sich immer mehr aufgliedernd nach Westen ausläuft. Das deutet schon darauf hin, dass sich der Begriff „Europa“ primär auf einen historisch gewachsenen kulturellen Raum bezieht, in dem die verschiedensten Völker bei aller Vielfalt doch eine gemeinsame Entwicklung genommen haben und in ihrer Gesamtheit eine gewisse Einheit bilden. Was ist dieses Europa?

Es sind nicht die politischen Staaten dieses Raumes, die Europa ausmachen, und nicht seine Wirtschaft, die derzeit das Bewusstsein der Menschen fast ausschließlich ausfüllt. Politik und Wirtschaft bilden nur die Außenseite einer geistig-kulturellen Entwicklungsströmung, aus der sie hervorgegangen sind, sie aber heute mehr verdecken als zum Ausdruck bringen. Europa ist diese geistige-kulturelle Entwicklungsströmung selbst, die in Griechenland begann, sich in Rom fortsetzte, die tiefe Spiritualität und Humanität des Christentums in sich aufnahm und schließlich die entstehenden Völker Europas ergriffen und bis heute in unterschiedlicher Weise geprägt hat.

Die Geburt Europas

Aus dem empfindungsstarken mythischen Erleben der Welt, wie es den Menschen der asiatischen und ägyptischen Hochkulturen erfüllt hat, wurde ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland der Gedanke geboren, die Fähigkeit, die Welt nicht mehr in mythischen Bildern, sondern in Begriffen und Ideen zu erfassen. Damit erwachte das Vermögen des logischen Verstandesdenkens, durch das sich der Mensch in seinem Bewusstsein aus dem reinen Verwobensein mit der Welt innerlich herauslösen und sich ihr gegenüberstellen konnte. Er stellte sie in Gedanken, in Vor-stellungen vor sich hin, um über sie zu reflektieren und in dieser Trennung ein wachsendes Selbstbewusstsein zu entwickeln, das sich darauf stützte, die Wahrheit im eigenen Denken selbst erkennen zu können und nicht auf Autoritäten angewiesen zu sein. Aus diesem neuen Bewusstsein ging die großartige griechisch-römische Kultur hervor: die Philosophie, die poetische und dramatische Kunst, die Baukunst, die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse als anfängliche demokratische Mitbestimmung aller selbst denkenden Bürger. Dies alles bildete die kulturelle Grundlage des werdenden Europas.

Die Völker Europas

Nach dem Untergang des Römischen Reiches, das die weitere Ausbildung der in sich gegründeten Rechtspersönlichkeit gebracht hatte, ging der Schwerpunkt der Kulturentwicklung auf die europäischen Völker über, die sich in der Folge der „Völkerwanderung“ durch die Vermischung germanischer Stämme mit der jeweils einheimischen Bevölkerung allmählich herausbildeten. Mit dem Erbe der griechisch-römischen Kultur im Gepäck wuchsen sie in das sich ausbreitende Christentum hinein. Die Stämme waren noch reine Blutsgemeinschaften, in denen sich jedes Mitglied vom gemeinsamen „Stammbaum“ der Ahnen herleitete, also alle sich durch das gemeinsame Blut miteinander verbunden fühlten, ja jeder sich als unselbständiges Glied der ihm übergeordneten Ganzheit des Stammes empfand. Bei den Griechen und Römern hatte schon der Blutszusammenhang begonnen, zweitrangig zu werden. In Griechenland trat als Verbindendes immer mehr die gemeinsame Sprache in den Vordergrund und im Römischen Reich die Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft, das Bürgerrecht, das unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit vergeben wurde. Erst recht zeigt die Vermischung verschiedenster Stämme und Bevölkerungsgruppen zu den europäischen Völkern, dass das Verbindende in seelischen Gemeinsamkeiten gesucht werden muss, die sich in kulturellen Eigentümlichkeiten und in eigenen Sprachen zum Ausdruck bringen. Die europäischen Völker sind Kultur- und Sprachgemeinschaften.

Der Übergang von der Blutsgemeinschaft des Stammes zur Seelengemeinschaft des Volkes bedeutete, impulsiert durch das individuelle Denken, eine wachsende Selbständigkeit des Einzelmenschen gegenüber der Gemeinschaft. Er erlebt sich zwar als Angehöriger eines Volkes, insofern er eingetaucht ist in die gemeinsame Seelenwelt, ist aber nicht von ihr zwingend abhängig. Ihm stehen in ihr bestimmte seelische Veranlagungen zur Verfügung, die er naiv ausleben, aber auch bewusst ergreifen, in ihrer Einseitigkeit erkennen und im Erfassen anderer Volkskulturen ergänzen, bereichern und vervollkommnen kann. Die Volksgemeinschaft steht nicht über dem einzelnen Menschen, sondern sie bietet ihm den kulturellen Boden, auf dem er sich als Individuum in einer bestimmten Richtung entwickeln kann.

Der stärkste Impuls für das Loslösen der Individualität von den Blutszusammenhängen ging und geht indessen vom Christentum aus. Christus selbst spricht es radikal aus:

„Wenn jemand zu mir kommt und sich nicht frei machen kann von seinem Vater und seiner Mutter, von seinem Weibe und seinen Kindern, von Brüdern und Schwestern, ja sogar von seiner eigenen Seele, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Lukas 14, 25-26)

Er gibt ein Bild für den Blutszusammenhang. Aus allen Blutsbindungen muss sich der Mensch lösen, ja auch von dem, was er durch sie bisher seelisch geworden ist. Er muss sich zu seinem innersten Wesen erheben, seiner geistigen Individualität, seinem Ich, das rein menschlich ist, in dem er mit allen Menschen gleich und brüderlich verbunden ist und in dem er sich durch die Erkenntnis von allen Bindungen frei machen kann.

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh. 8, 32)

Das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft hat sich dadurch grundlegend geändert. Nicht mehr ist der Einzelne der Gemeinschaft untergeordnet und hat ihr zu dienen, sondern im christlichen Sinne ist die Gemeinschaft für den Einzelnen da und hat seiner Entwicklung zu Freiheit und Selbstbestimmung zu dienen.

Der Organismus der europäischen Volkskulturen

Aber die europäische Kultur differenziert sich nun in den europäischen Völkern in unterschiedlicher Weise. Das heißt, die menschliche Individualität sucht in unterschiedlichen seelischen Kräften ihre Entfaltung. Worin bestehen die verschiedenen seelischen Gemeinsamkeiten, die einen Volkscharakter ausmachen und wie äußern sie sich? Versuchen wir dazu, einige Völker mit wenigen Strichen zu charakterisieren. *

Der Italiener taucht mit seiner ganzen Seele in die Sinneswahrnehmungen und -erlebnisse ein, auf die er tief empfindend mit Sympathie oder Antipathie reagiert. Er hört, sieht, schmeckt, riecht, tastet mit intensiv genießender Sinnesfreude. Die von klarer Luft und hellstem Licht durchwebte Landschaft Italiens versetzt seine Seele in Harmonie und freudige Stimmung. Er bewegt sich auch am liebsten draußen in der Luft, die er aria nennt, und erfüllt von der Schönheit ringsum, fängt seine Seele leicht an zu singen. Kaum ein Volk ist musikalisch so begabt. Die Oper ist in Italien entstanden, und eine Fülle der schönsten Opern stammt von italienischen Komponisten. Auch die italienische Sprache ist ungeheuer musikalisch.

Die Vielzahl von Vokalen bringt den ganzen Empfindungsreichtum des Italieners zum Ausdruck, und die häufig verdoppelten Konsonanten drücken das Feurig-Musikalische seiner Seele aus. Aber die Sprache allein reicht dem Italiener nicht aus, um alles mitzuteilen, was an Empfindungen und Emotionen in ihm lebt. Er muss die ganze Vielfalt der mimischen Möglichkeiten, sowie Arme und Hände zu Hilfe nehmen, um in unaufhörlich wechselnden Gesten seine Rede von Augenblick zu Augenblick mit einem bewundernswerten dramatischen Spiel zu begleiten. So wie die Musik aus der tiefen Empfindungsfähigkeit hervorquillt, so führt die Hingabefähigkeit an die Sinneswahrnehmungen und das tiefe Empfinden ihrer Farben und Formen auch zur besonderen Begabung des Italieners für die malerischen und plastischen Künste, in denen er Größtes geleistet hat, wenn wir nur an Raffael, Leonardo und Michelangelo denken. Der Italiener lebt also besonders in dem Teil der Seele, der von Empfindungen geprägt wird.

Im Franzosen lebt der starke Drang, alles klar und logisch zu analysieren und zu ordnen. So ist das Leben Frankreichs durch eine einzigartige Herrschaft der Ratio, des analysierenden, ordnenden Verstandes gekennzeichnet. Dies lebt sich in seiner rationalistischen Philosophie aus, für die nur das als Erkenntnis gilt, was so klar und deutlich zu fassen ist wie mathematische Begriffe. Die Eindrücke der Sinne geben ihm bloß dunkle und verworrene Vorstellungen, die nicht geeignet sind, die Grundlage der Erkenntnis zu bilden. Alle Lebensgebiete werden dem rationellen Denken unterworfen und von ihm geordnet, auch die Sprache. Keine Sprache ist so durch strenge Regeln festgelegt wie die französische. Und in keinem anderen Volk hat der Staat eine so überragende Stellung.

Er ist die große Ordnungsmacht für alle Lebensgebiete, für das geistige wie für das wirtschaftliche. Das ist am klarsten und überschaubarsten, wenn alle regelnde, ordnende Macht von einem Mittelpunkt ausgeht. So hat sich schon früh Paris als Zentrum eines einheitlichen Staates herausgebildet. In keinem Land ist das gesamte Leben so auf die Hauptstadt zentriert und geht eine solche bestimmende Bedeutung von der zentralen Hauptstadt aus wie in Frankreich. Der Verstand kennzeichnet aber nur die eine Seite des Franzosen. Die andere bildet ein starkes Gemütsleben, ein Sinn für das Schöne, Ästhetische, die Freuden des Lebens, sein Charme, sein Esprit. Der Charme macht leicht und beschwingt, er bringt den Menschen auch zum Lachen. Und das befreiende Lachen nach einem geistreichen Witz des Verstandes ist ein weiteres Charakteristikum der Franzosen. So ist mit Molière auch der größte Lustspieldichter Europas aus ihrer Mitte hervorgegangen.

Der Engländer lebt auf einer Insel, und jeder Engländer ist selbst eine Insel. Er hat das Bedürfnis, um sich einen freien Raum zu schaffen, durch den er sich die anderen seelisch auf Abstand hält. Er ruht in sich selbst, ist mit einem wachen Selbstbewusstsein ganz bei sich, behauptet sich gegen die anderen und beobachtet mit großer Wachsamkeit die Umgebung. Das Selbstbewusstsein erreicht im Engländer sozusagen den höchsten Grad der Intensität, sowohl das individuelle, als auch das nationale. Seine Empfindungen und Gefühle verbirgt er hinter einer lässigen und beherrschten Rede. Alles Erregte, Maßlose, Übertriebene meidet er. Das starke, wache Ruhen in sich selbst bedingt zugleich die Fähigkeit, nüchtern, klar und genau die Welt zu beobachten. Der Engländer sieht in der Sinneserfahrung die ausschließliche Quelle aller Erkenntnis. Die Begriffe des Denkens erscheinen ihm nur wie innere Spiegelbilder der Wahrnehmungen, mit deren Hilfe er sie ordnen, sich dienstbar machen und beherrschen kann. So ergreift er die Sinneswelt mit einer ganz auf der Erfahrung basierenden Naturwissenschaft und Technik und entwickelt daraus die industriell-kommerzielle Wirtschaft, die sich unter englischer Führung – oft mit imperialistischen Mitteln – über die ganze Welt verbreitet und die Wirtschaft überhaupt zur vorherrschenden Sphäre des ganzen menschlichen Lebens gemacht hat. Der Engländer lebt also vornehmlich in der hellwachen, auf die irdischen Verhältnisse gerichteten hellen Bewusstsein und Selbstbewusstsein.

Der Spanier Salvador de Madariaga hat treffend ein wesentliches Charakteristikum des Deutschen beschrieben, wie es in der deutschen Sprache zum Ausdruck kommt:

„Das Hauptmerkmal der deutschen Sprache … ist wohl das Vorherrschen des Wortes wer-den.( …) Dieses Merkmal verleiht der Sprache eine Art von ständiger Bewegung, eine Qualität des Fließens …, welche der tiefste Wesenszug des deutschen Lebens ist. ( …) Was für England und Frankreich nur ein Gedanke unter vielen ist und für Spanien überhaupt kein Gedanke, ist für Deutschland geradezu der Wesenskern allen Denkens, so dass eben beide, die Sprache und das Denken, in Deutschland das Fließen eines Stromes annehmen.“ **

Im Werden kommt eben das – vielfach unbewusste – Streben des Deutschen nach ständiger Entwicklung seines innersten Wesens zum Ausdruck, seines Ich. Das Ich ist nichts Fertiges, sondern etwas, was entwicklungsgeschichtlich erst am Anfang steht, ein Werdendes. Es ist nur voll da, wenn es sich durch innerste Aktivität und Willenskraft selbst hervorbringt, – und es empfindet sich als etwas Werdendes. Dazu ist es sein Leben lang auf dem Wege, auf Wanderschaft sozusagen, die es vom Wasser gelernt hat. Nirgendwo sonst ist das Wandern so beliebt und verbreitet wie in Deutschland, durch das Geheimnisvolle des Waldes, am Fluss entlang, an der Mühle vorbei, zu den Quellen, oft in der Frische des Morgens, noch vor Sonnenaufgang, wenn das Werden beginnt.

Wer Erreichtes nicht aufgibt, nicht sterben lässt, um Neues zu werden, bildet sein Ich nicht weiter aus, sinkt zurück, versinkt in geistige Finsternis. Daher schreibt Goethe:

Und solang du dies nicht hast / Dieses Stirb und Werde, / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.

Wer das hinter dem Alltags-Ich webende höhere Ich, das sich im Gewissen ankündigt, in seinem reinen Wesen erfasst, hat die Oberfläche des alltäglichen Bewusstseins durchdrungen. Er wird dann auch in der Erkenntnis der Welt danach streben, hinter die Oberfläche der Dinge, zu ihren geistigen Quellen und Ursprüngen vorzudringen. Daher ist der fundamentalste Wesenszug des deutschen Geistes- und Kulturlebens sein Streben, aus dem Ich heraus in die hinter dem Sinnesteppich webende übersinnliche, geistige Welt, die sonst nur Ziel der religiösen Sehnsucht ist, erkennend einzudringen.

Anders als bei den bisherigen Völkern, in denen sich die menschliche Persönlichkeit in den verschiedenen Stufen des Seelischen, der Empfindungsseele, der Verstandesseele und der Bewusstseinsseele auszugestalten versucht, und im „Ich“ über das rein Seelische zur geistigen Individualität hinausstrebt, fehlt dem russischen Volk von seiner Veranlagung her diese Schätzung der Persönlichkeit weitgehend.

Der Russe ist zur höchsten Hingabe, ja Aufopferung seiner eigenen Persönlichkeit fähig und kann andererseits auch über die Persönlichkeit des Anderen rücksichtslos hinweggehen. Doch es ist eine große, einseitige Veranlagung zur Gemeinschaft in ihm, die Sehnsucht nach einer alle verbindenden Brüderlichkeit. Das Gefühl der brüderlichen Liebe entspringt bei ihm aus einer tiefen religiösen Sehnsucht nach einem reinen idealen Christentums, das den Egoismus des Einzelnen und den egoistischen Nationalismus der Völker überwindet und die Menschheit zu einem einzigen Bruderbund zusammenführt. Der tiefsinnige russische Philosoph Solowiev brachte die Beziehung des russischen Volkes zur christlichen Religion in die Worte: „Das russische Volk ist ein christliches Volk, und will man die wahre russische Idee kennenlernen, so darf man nicht fragen, was Russland durch sich allein und für sich selbst tun wird, sondern was es im Namen des christlichen Prinzips … tun muss.

Es muss, um seine Aufgabe wirklich zu erfüllen, sich dem gemeinsamen christlichen Leben der Welt mit Leib und Seele ergeben und alle seine nationalen Kräfte darauf verwenden, die vollkommene und weltumfassende Einigkeit des Menschengeschlechts im Verein mit allen anderen Völkern zu verwirklichen, diese Einigkeit, deren unverrückbare Grundlage in der Kirche Christi gegeben ist.“ °  So bringt das russische Volk eine Zukunftsveranlagung zum Chor der Völker Europas hinzu: sich über das Persönliche in eine Sphäre brüderlicher Gemeinschaft zu erheben. Die anderen europäischen Völker haben es bitter nötig, sich mit seiner originären Kultur lernend zu verbinden, um vom Element der Brüderlichkeit so viel wie möglich in ihre vom Egoismus geprägten Wirtschafts- und Rechtsverhältnisse aufzunehmen.

Zusammenklang der Volkskulturen

An den kurzen Skizzen soll nur deutlich werden, worin die Qualität und jeweilige Unterschiedlichkeit der Völker begründet ist. Die übrigen europäischen Völker sind Variationen dieser seelischen Verschiedenheiten. Wir sehen, wie jedes Volk eine gewisse Einseitigkeit des seelischen Menschen auslebt. Die ganze Seele ist noch nicht in Vollkommenheit im einzelnen Menschen ausgebildet, gleich in welchem Volk er auch lebt. Erst die Gesamtheit der europäischen Völker stellt sozusagen prophetisch das vollkommene seelische Menschenwesen dar. Die seelische Besonderheit jedes Volkes ist daher ergänzungsbedürftig durch die der anderen Völker. So dass die Angehörigen jedes Volkes, wenn sie sich selber recht verstehen, danach streben werden, mit den anderen Völkern in kulturellen Kontakt und Austausch zu treten, um von ihnen zu lernen und sich dadurch selber zum vollkommenen Menschen zu bilden. Dieses dadurch entstehende Europa hat de Madariaga in begeisterten Worten beschworen:

„Vor allen Dingen müssen wir Europa lieben. Hier dröhnt das Gelächter eines Rabelais, hier leuchtet das Lächeln des Erasmus, hier sprüht der Witz eines Voltaire. Gleich Sternen stehen an Europas geistigem Firmament die feurigen Augen Dantes, die klaren Augen Shakespeares, die heiteren Augen Goethes und die gequälten Dostojewskis. Ewig lächelt uns das Antlitz der Gioconda (Mona Lisa), für ganz Europa ließ Michelangelo die Gestalten des Moses und des David aus dem Marmor steigen, schwingt sich die Bach`sche Fuge in mathematisch bewältigter Harmonie empor. In Europa grübelt Hamlet über das Geheimnis seiner Tatenlosigkeit, will Faust durch die Tat dem quälenden Grübeln entrinnen, in Europa sucht Don Juan in jeder Frau, die ihm begegnet, die eine Frau, die er nie findet, und durch ein europäisches Land jagt Don Quijote mit eingelegter Lanze dahin, um der Wirklichkeit ein höheres Sein abzutrotzen. Aber dies Europa, wo Newton und Leibniz das Unendlich-Kleine und das Unendlich-Große maßen, wo unsere Dome, wie Alfred de Musset gesagt hat, in ihrem steinernen Gewande betend knien, wo das Silberband der Ströme Städte aneinanderreiht, die die Arbeit der Zeit in das Kristall des Raumes meißelt,— dies Europa muss erst entstehen. Erst dann wird es da sein, wenn die Spanier von „unserem Chartres“, die Briten von „unserem Kopenhagen“ und die Deutschen von „unserem Brügge“ zu sprechen beginnen. Erst wenn dies erreicht ist, hat der Geist, der unser Tun lenkt, das schöpferische Wort gesprochen. FIAT EUROPA!“ °°

Dieses geistig-kulturelle Europa als gelebte Einheit entsteht aber nur, wenn sich die Kultur jedes europäischen Volkes als ein eigenständiger Lebensbereich der Gesellschaft begreift, sich aus dem von früh auf prägenden und instrumentalisierenden Zugriff des machtpolitischen Einheitsstaates befreit und sich – nicht vertikal reglementierend – sondern horizontal koordinierend selbst verwaltet. Nur dann können sich die Erkenntnisse und schöpferischen Taten der sich selbst bestimmenden Menschen, aus denen alle Kultur allein hervorgeht, frei entfalten und mit denen der anderen Völker in direkten Austausch treten, so dass die europäischen Volkskulturen allmählich zu einer Ganzheit zusammenklingen. Die politisch-rechtliche Organisation hätte damit überhaupt nichts zu tun. Ihre Aufgabe bestünde allein darin, jeweils einen an den Grundrechten orientierten rechtlichen Rahmen zu setzen. (Vgl. hier)

Erst recht nicht hätte das Monster EU etwas mit dem geistig-kulturellen Europa zu tun. Die EU ergreift heute die Machtimpulse der nationalen Einheitsstaaten und will sie in einem supranationalen Machtstaat aufgehen lassen. Damit vervollständigt sie die schon in den Einzelstaaten bestehende Unterdrückung des Geisteslebens der Völker Europas erst. In der Diktatur eines geistlosen Polit-Proletariats, in dessen Schatten ein Heer von 50.000 Brüsseler Bürokraten das Leben in die Paragraphen einer ungeheuren Verordnungsflut presst, wird der Mensch der totalen Fremdbestimmung ausgeliefert und die Vielfalt der europäischen Volkskulturen eingeebnet.

Wenn sich die seelenlosen Machtmechaniker der EU mit Europa identifizieren, so stellen sie die Dinge perfide auf den Kopf. Sie benutzen die stille Sehnsucht der Europäer nach einem kulturellen Zusammenklang der europäischen Völker zur organischen Einheit, um sie in die perverse Einheit eines riesigen Zentralstaates zu lenken, in der die sich selbst bestimmende freie Individualität, die Frucht der europäischen Geistesentwicklung, vollends ausgeschaltet wird. Die EU ist nicht Europa, sondern sein größter Feind, der in seinem eigenen Pelz sitzt und als anwachsender Moloch sich anschickt, Europa zu ver¬schlingen. Die EU bildet in Wahrheit die wüsteste Reaktion gegen die europäische Kultur- und Geistesentwicklung. ***   (hl)

 

Anmerkungen:

* Vgl. dazu im Einzelnen: H.E. Lauer: Die Volksseelen Europas, Stuttgart 1965; Herbert Hahn: Vom Genius Europas, Stuttgart 1966

** Porträt Europas, Stuttgart 1953, S. 100 f.

° Zitiert nach Lauer, S. 267

°° Porträt Europas, S. 8 f.

*** Siehe näher: Herbert Ludwig, EU oder Europa?, Berlin 2012)


Quelle und Kommentare hier:
http://fassadenkratzer.wordpress.com/2014/05/09/das-eigentliche-europa-eine-besinnung-in-den-zeiten-der-entmundigung/