Claudia kann nicht schweigen

von sichtplatz

Für die Imagepflege war das wahrlich kein schönes Bild. Es ist schon eine Weile her, aber doch in Erinnerung geblieben: Im Bundestag rief ein AfD-Abgeordneter in der Geschäftsordnungsdebatte überraschend zu einer Schweigeminute für die 14-jährige Susanna Feldmann auf, die bekanntlich von einem abgelehnten Asylbewerber ermordet wurde.

Damit hatte der AfD-Mann streng genommen gegen die Geschäftsordnung verstoßen, denn seine Schweigeminute war ein sachfremder Beitrag. Es ist auch sicher nicht falsch, der AfD das Kalkül zu unterstellen, die anderen Parteien an dieser Stelle vorführen zu wollen. Doch die müssen sich ja nicht so dumm verhalten und das womöglich erwartete Schauspiel kaltschnäuziger Ignoranz bieten, wie sie es dann taten. Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth geiferte, Abgeordnete empörten sich laut, johlten und zollten Claudia Roth Beifall für jede Störung der Schweigeminute.

Was sie alle demonstrierten war letztlich, dass sie nur darauf achteten, der AfD keine Profilierungschance zu lassen und nicht einen Gedanken daran verschwendeten, worum es dabei inhaltlich ging und welches Signal sie einer Öffentlichkeit sendeten, die von dem Mord zutiefst erschüttert war. Schließlich handelte es sich um einen Mörder, der eigentlich gar nicht mehr hätte im Lande sein dürfen.

Im Nachhinein ist der Bundestagsvizepräsidentin offenbar aufgefallen, dass dieser Auftritt ihrem Image nicht gerade förderlich war. Also versuchte sie, sich kürzlich in einer Erklärung zu rechtfertigen. Dieser Text hat, völlig zu Unrecht, keine größere Verbreitung gefunden. Dabei ist es eine interessante Lektüre. Sie beginnt mit „ehrlicher und aufrichtiger Anteilnahme“, die sie den Angehörigen ausspricht:

„Zugleich sehe ich mich veranlasst, einige Dinge klarzustellen, die gezielt verfälscht wurden. Am vergangenen Freitag hat die AfD-Fraktion versucht, eine ‚Schweigeminute‘ im Deutschen Bundestag zu erwirken. Als amtierende Präsidentin der Sitzung habe ich entschieden, diesen Versuch zu unterbinden. Ich kann nachvollziehen, dass dieses Vorgehen vielen Menschen auf den ersten Blick unverständlich erscheint.

Nur wenige Minuten nach meiner Intervention – wie von Zauberhand, als sei von langer Hand geplant worden – erschienen ausführliche Hetzartikel auf völkischen und rechtsextremistischen Blogs. Die Folge: Seit nunmehr einer Woche ergießen sich unzählige Vergewaltigungs- und Gewaltandrohungen über mich. „Dich Vieh werden wir an Klavierdraht am Fleischerhaken hängen.“ So und so ähnlich, tausendfach. Das ist erschreckend und verlangt nach Einordnung. Ich habe mir deshalb ein wenig Zeit genommen und einige Gedanken aufgeschrieben.“

War alles also eine böse Verschwörung? Fragt sich nur, welcher Verschwörer es geschafft hat, Claudia Roth so zu manipulieren, dass sie  passend zu dem angenommenen Drehbuch reagiert hat? Nein, so war es natürlich nicht. Roths Handeln war, man ahnt es, alternativlos:

„Im Deutschen Bundestag gibt es eine Geschäftsordnung mit klaren Abläufen, die garantieren sollen, dass die Plenardebatten nicht im Chaos versinken oder zur reinen Selbstinszenierung einzelner Abgeordneter verkommen. […]

Abgeordnete sollen laut Geschäftsordnung zudem „zur Sache“ und somit zu dem Thema reden, das gerade auf der Tagesordnung steht. Auch, wenn es um Anträge zur Geschäftsordnung geht – und die Debatte am Freitagmorgen war eine Geschäftsordnungsdebatte – dürfen die Abgeordneten nur „zur Geschäftsordnung“ sprechen. Das hat gute Gründe: Wenn jeder wild drauf los statt zum vereinbarten Thema reden würde, wäre ein ordentlicher Ablauf der Plenardebatten kaum zu gewährleisten. Das gilt dann auch für beschlossene Gedenkminuten: Sie werden an der vereinbarten Stelle durchgeführt und nicht während eines völlig anderen Tagesordnungspunkts. 

Beide genannten Grundregeln der parlamentarischen Zusammenarbeit wurden von der AfD am vergangenen Freitag missachtet: Weder wurde die Schweigeminute beantragt oder mit den anderen Fraktionen besprochen, noch hatte der Tagesordnungspunkt mit dem fürchterlichen Mord an Susanna Feldmann zu tun.

Da die Fraktion der AfD die Geschäftsordnung und die Gepflogenheiten des Bundestages kennt, ist davon auszugehen, dass dies bewusst geschah. Das legt den Schluss nahe, dass hier mit voller Absicht gegen die Geschäftsordnung und die im Bundestag üblichen Verfahren verstoßen wurde, um ein fürchterliches Verbrechen für politische Zwecke zu missbrauchen und die Würde des Bundestages zu beschädigen. Dass sich mehrere AfD-Abgeordnete ein breites Grinsen nicht verkneifen konnten, wie in Ausschnitten der Debatte und auf Fotos klar zu erkennen ist, lässt die Inszenierung nur noch abstoßender erscheinen.“

Regeln müssen natürlich eingehalten werden, ohne Ausnahme. Wie konsequent sich deutsche Politiker an diesen Grundsatz halten, konnten wir ja schließlich in den letzten Jahren erleben, oder? Und ist es nicht gemein, nur für das Regeln-einhalten-wollen zur kaltschnäuzigen Politik-Funktionärin, die ein ihr widerstrebendes Gedenken verhindert, erklärt zu werden? Claudia Roth bittet um Verständnis:

„Nun wurde auf zahlreichen Blogs insbesondere aus der völkischen Szene das Video von vergangenem Freitag einem anderen Video aus dem Jahre 2015 gegenüber gestellt. Darin ist zu sehen, wie ich als agierende Präsidentin der Sitzung im Deutschen Bundestag eine Schweigeminute für rund 800 Geflüchtete einleite, die an einem einzigen Tag im Mittelmeer ertrunken waren. Der Unterschied, der natürlich nicht erwähnt wird: Bei der Schweigeminute aus dem Jahr 2015 waren alle oben genannten Regeln beachtet worden. Das Gedenken fand zu Beginn eines vereinbarten Tagesordnungspunktes zur Flüchtlingspolitik statt, und selbstverständlich war vorab fraktionsübergreifend beschlossen worden, dass die Gedenkminute erfolgen würde – und unter welchen Umständen.“

Es muss eben alles seine Ordnung haben. Gerade in einem so wichtigen Fall, wie einer Schweigeminute, die politisch den Falschen nutzen könnte, darf es keine Ausnahme geben. Wer bei einer so korrekten Frau, wie Claudia Roth, annimmt, sie könnte vielleicht einen Fehler gemacht haben und wohlmeinend empfiehlt, sie solle diesen doch eingestehen, den belehrt sie eines Besseren.

„Von anderer Stelle ist zu hören, ich hätte die Schweigeminute am vergangenen Freitag trotzdem zulassen und im Nachhinein einordnen oder rügen sollen. Das klingt im ersten Moment plausibel. Wer jedoch im Bundestag präsidiert, hat die Aufgabe, der Geschäftsordnung zur Umsetzung zu verhelfen. Einen Bruch des gemeinsamen Regelwerks wissentlich oder aus persönlichen Gründen zuzulassen, um anschließend auf den Verstoß hinzuweisen, käme einer Missachtung der eigenen Aufgabe und Verantwortung gleich – und war deshalb keine Option. Wie ließe sich sonst beim nächsten Mal rechtfertigen, dass diesmal unterbrochen wird, beim letzten Mal aber nicht?“

Es ist interessant, diesen Gedanken der Bundestagsvizepräsidentin einmal konsequent weiter zu denken. Diesen Satz sollte man sich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen:

„Einen Bruch des gemeinsamen Regelwerks wissentlich oder aus persönlichen Gründen zuzulassen, um anschließend auf den Verstoß hinzuweisen, käme einer Missachtung der eigenen Aufgabe gleich“.

Gilt der auch für eine Bundesregierung, die durch eine mündliche Ministeranweisung bei der Zuwanderung teilweise geltendes Recht außer Kraft setzen lässt, um hernach fast drei Jahre lang zu erklären, dass sie sich der Herausforderung der illegalen Einwanderung stellen wolle, so wie es die Bundeskanzlerin jüngst wieder gesagt hat?

Ja, ja, ich weiß, der Vergleich ist billig, denn hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Im letzteren Fall geht es schließlich um Millionen Menschenschicksale und hochmoralisches Handeln. Da muss man schon großzügig sein dürfen. Bei der Bundestagsgeschäftsordnung geht so ein lässiges Handeln natürlich nicht.

Allerdings setzt sich bei manchen Lesern der Roth-Erklärung vielleicht ein Gedanke fest, der sich weder abweisen noch abschieben lassen will: Hätte sich die Bundesregierung bei der sogenannten Euro-Rettung und der Zuwanderung so an geltende Verträge und Gesetze gehalten, wie Claudia Roth bei der Schweigeminuten-Abwehr an die Geschäftsordnung, dann müssten sich all die engagierten Bekämpfer der AfD gar nicht mit ihrem Hassobjekt in den Parlamenten herumplagen.

So aber muss die Bundestagsvizepräsidentin nun ein Klagelied singen, mit dem sie die Reaktionen auf eine verfehlte und als alternativlos etikettierte Politik zur eigentlichen Bedrohung des Landes erklärt:

„All das ist kein Zufall, kein Spiel, kein Geplänkel. In aller Klarheit: Die AfD will unsere Gesellschaft grundlegend verändern, und damit schadet sie uns. Wenn es in unserem Land mittlerweile ausreicht, eine Bundestagsdebatte gemäß Geschäftsordnung zu leiten, um etliche Morddrohungen zu erhalten, dann ist eine rote Linie nicht nur erreicht, sondern meilenweit überschritten. Wenn offizielle Videos aus dem Bundestag bewusst instrumentalisiert und zum Teil manipuliert werden, um übelsten Hass zu verbreiten, dann sprengt das jede Grenze des respektvollen Miteinanders. Wenn der schreckliche Mord an einer 14-Jährigen unter Vortäuschung von Pietät und Anstand missbraucht wird, um gegen Politiker*innen und Geflüchtete zu hetzen, dann müssen wir alle – ohne Ausnahme – endlich anerkennen: Was die AfD in Deutschland vorhat, hat nichts mit politischem Austausch oder demokratischer Debattenkultur zu tun, mit „besorgten Bürgern“ oder Protest. Was die AfD tagtäglich vorantreibt, ist die totale Entgrenzung von Sprache, die zügellose Verächtlichmachung von Demokratie, ist Geschichtsrevisionismus und rassistisch-sexistischer Hass auf Andersdenkende. Und im vorliegenden Fall war es sogar der sprichwörtliche Versuch, alle zum Schweigen zu bringen.“

Wow! Mit einer Schweigeminute wollte die AfD also Andersdenkende zum Schweigen bringen. Da konnte Claudia Roth natürlich nicht schweigen. Und eines muss sie zum Schluss auch noch loswerden:

„Wir sind die Mehrheit, und wir lassen uns nicht unterkriegen!“

Wer ist jetzt „wir“? Die Wähler von Claudia Roth und ihren Parteifreunden können kaum gemeint sein, denn das sind ja weniger gewesen, als jene, die der bösen, bösen AfD ihre Stimme gaben. Ist es vielleicht das „wir“ aus „Wir schaffen das“?

Zumindest zeigen jüngste Umfrageergebnisse, dass dieses „Wir“ gerade nicht mehrheitsfähig ist. Das hat u.a. etwas mit solchen Morden, wie dem an Susanna zu tun. Aber dieses Thema hat die Bundestagsvizepräsidentin ja schon einige Absätze vorher abgehakt.


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