von NPR
Da Bullitt den Präsidenten Roosevelt über die internationale Situation in Europa ständig informiert, und vor allem über Rußland werden seine Mitteilungen vom Präsidenten Roosevelt und dem Staatsdepartement mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen. Bullitt spricht lebhaft und interessant. Jedoch entspricht seine Reaktion auf die europäischen Ereignisse mehr der Ansicht eines Journalisten als Politikers.
Bericht des Polnischen Botschafters in Washington, Grafen Jerzy Potocki, an
den Polnischen Außenminister in Warschau vom 21. November 1938
Deutsche Übersetzung
Washington den 21.11.1938
Botschaft
der Republik Polen
in Washington
G E H E I M
Betr.: Unterredung mit Botschafter Bullitt
An den
Herrn Außenminister
in Warschau
Vorgestern hatte ich eine längere Unterredung mit dem Botschafter Bullitt, der hier in Urlaub ist.
Eingangs bemerkte er, daß sehr herzliche Beziehungen ihn mit dem Botschafter Lukasiewicz in Paris verbinden und daß er mit ihm sehr gern verkehrt.
Da Bullitt den Präsidenten Roosevelt über die internationale Situation in Europa ständig informiert, und vor allem über Rußland werden seine Mitteilungen vom Präsidenten Roosevelt und dem Staatsdepartement mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen. Bullitt spricht lebhaft und interessant. Jedoch entspricht seine Reaktion auf die europäischen Ereignisse mehr der Ansicht eines Journalisten als Politikers, da er in seiner Unterhaltung die ganze Skala der sehr verwickelten europäischen Frage berührte. Aus ihnen zieht er sehr negative Folgerungen.
Bullitt zeigte in seiner Unterhaltung im allgemeinen einen großen Pessimismus. Er sprach davon, daß das Frühjahr 1939 zweifellos wiederum sehr aufregend sein wird, verstärkt noch durch das ständige Aufblitzen der Kriegsmöglichkeiten und der Drohungen von seiten Deutschlands sowie der Gefahr der ungeklärten Verhältnisse in Europa. Er stimmte mit mir überein, daß der Schwerpunkt der europäischen Frage sich vom Westen nach dem Osten verschoben habe, da die Kapitulation der demokratischen Staaten in München ihre Schwäche gegenüber dem Deutschen Reiche offenbart hat.
Sodann sprach Bullitt über das vollständige Nichtvorbereitetsein Großbritanniens zum Kriege und über die Unmöglichkeit, die englische Industrie auf die Massenkriegsproduktion, insbesondere auf dem Gebiet des Flugzeugwesens, umzustellen. Über die französische Armee äußerte er sich mit ungewöhnlichem Enthusiasmus, bestätigte jedoch, daß das französische Flugwesen überaltert sei. Nach dem, was die Militär-Experten Bullitt während der Herbstkrise des Jahres 1938 gesagt haben, würde ein Krieg mindestens sechs Jahre dauern und würde nach ihrer Ansicht mit einer völligen Zerschlagung Europas und mit dem Kommunismus in allen Staaten enden. Zweifellos würde Sowjetrussland am Schluß davon den Nutzen ziehen.
Über Russland sprach er mit Geringschätzung. Er redete davon, daß die letzte Reinigung, und insbesondere die Beseitigung Blüchers, eine vollständige Desorientierung in der Roten Armee hervorgerufen habe, die zu keiner kriegerischen aktiven Anstrengungen fähig sei. Im allgemeinen ist Rußland, wie er sagte, gegenwärtig der Kranke Mann in Europa. Er verglich es mit dem ottomanischen Vorkriegsstaat.